Читать книгу Mit eurem Blut sollt ihr bekennen - Kristin Adler - Страница 9

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Es dauerte eine Weile, bis Clara der Name eines der beiden Männer einfiel, die sie im Untergeschoss des Diözesanmuseums belauschte. Ein neutestamentlicher und ein alttestamentlicher Name wurden miteinander verknüpft – mit dieser Eselsbrücke hatte sie ihn sich seinerzeit gemerkt. Lukas Jonathan? Johannes Daniel? Nein, Blödsinn. Markus war es ... Markus Jonas. Er war der Geschäftsführer einer Film- und Fernsehproduktion, die vor allem religiöse Filme produzierte.

Einmal hatte er persönlich Dreharbeiten in ihrem Museum begleitet, als ein Film über Märtyrer produziert und zu diesem Zweck ein Reliquiar gefilmt worden war. Er würde für eine erkrankte Redakteurin einspringen, erklärte er. Worin genau seine Aufgabe lag, konnte Clara nicht erkennen, denn Markus Jonas die ließ die Kameraleute einfach machen, während er sich von ihr die Dauerausstellung zeigen ließ und etliche Exponate mit einem übertrieben enthusiastischen Tonfall bewunderte. Hinterher roch es im ganzen Museum nach dem Leberkäsebrötchen, das er sich vom Kameraassistenten hatte bringen lassen, und Clara hatte über Nacht die Fenster gekippt.

Beim Namen des anderen Mannes, der eben einen großen Kirchenskandal angedroht hatte, musste sie nicht lange nachdenken. Clemens Peters war das, so groß und hager, dass man immer Angst hatte, er würde gleich in der Mitte durchbrechen. Das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, war sein dunkelblondes Haar noch nicht so schütter gewesen, aber sein Gesichtsausdruck war zwiespältig wie eh und je: Etwas Verdrossenes, Lethargisches lag in seinen Zügen, aber auch etwas Aggressives, Kämpferisches. Dieser Widerspruch versetzte den Mann stets in Spannung, weshalb er selten stillstand. Auch jetzt wippte er unruhig von seiner Ferse auf die Zehenspitze.

Clara hatte ihn während ihres Theologiestudiums in Sankt Georgen kennengelernt, als sie gemeinsam einen Medienlehrgang bei einem durchgeknallten Jesuiten besucht hatten, der ihnen nichts Vernünftiges beibrachte, sondern lediglich den Auftrag erteilte, eine Homepage zu designen. Auf dieser sollten Interessenten künftig gegen Bezahlung erfahren, wie man Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse angemessen organisierte. Clara hatte brav ein paar erbauliche Texte über die Liturgie dieser Feste verfasst, während sich Clemens Peters sich gleich in der ersten Lehreinheit mit dem Jesuiten angelegt hatte. „Ich dachte, wir lernen hier, wie man Interviews führt und Radiobeiträge schneidet, nicht, wie man Menschen für etwas Geld abknöpft, dass sie doch überall gratis haben können.“

„Wenn Kirche alles kostenlos anbietet, hat das für die Menschen doch keinen Wert. Wert besitzt für sie etwas, für das man bezahlen muss.“

„Na, das mit dem Ablasshandel ist ja auch gründlich schief gegangen.“

Wenn sie es richtig im Kopf hatte, hatte Clemens den Kurs entweder nicht bestanden oder vorzeitig abgebrochen, was ihn nicht daran hinderte, später doch noch Journalist zu werden. Und als solcher war er offenbar einem großen Skandal auf der Spur – auch wenn Markus Jonas das soeben in Abrede stellte.

„Ich bitte Sie, jetzt übertreiben Sie doch nicht so!“, rief er. Seine Stimme klang genervt, doch seine Lippen waren zu einem Lächeln verzogen, das irgendwie schleimig wirkte – ein Eindruck, der von den nach hinten gegelten und dadurch leicht fettig wirkenden Haaren ebenso verstärkt wurde wie von den ledernen Ärmelschonern auf dem Ellbogen, die speckig glänzten. „Nach so einem Thema kräht doch kein Hahn. Die Struktur von RIFIX ist schrecklich kompliziert. Da blicken noch nicht mal die Generalvikare durch, die auf dem Geldhahn sitzen.“

„Sie geben es also zu? Die Kirche gibt die Produktion von Filmen in Auftrag, Sie produzieren sie zum Spottpreis, aber verkaufen sie viel teurer und streichen einen Riesengewinn ein. Und da Sie selber im Aufsichtsrat von der RIFIX sitzen und über die Vergabe der Gelder und die Produktion von Filmen somit mitentscheiden, setzt Ihnen niemand Grenzen. Das ist doch wie bei der Mafia! Der, der Geld austeilt, ist derselbe, der's bekommt.“

„Mafia! Also wirklich! Habe ich irgendetwas mit dem nuschelnden Marlon Brando gemein?“

„Sie sind ein abgefeimter Betrüger.“

„Meinetwegen, aber das ist doch langweilig, schrecklich langweilig. Wenn Leute von einem kirchlichen Skandal hören, dann wollen sie einen Mann mit Kutte oder Soutane sehen – keinen wie mich. Ein Bischof, der Erster Klasse nach Afrika reist, das ist ein schönes Thema, aber nicht wie die Kirche ihr Geld verprasst.“

„Es geht hier nicht um irgendwelches Geld.“

Markus Jonas ging nicht darauf ein. „Wenn sich ein Kardinal dafür einen Mercedes kauft, dann haben Sie ein knackiges Bild, aber nicht, wenn ich damit herumkurve. Sie wissen doch, die Macht der Bilder.“

„Nach dem Mord an Erzbischof Kahlfuß ...“

„Sie wollen jetzt aber nicht sagen, dass ich etwas damit zu tun habe?“, unterbrach Markus Jonas ihn scharf, und kurz entglitt ihm sein Lächeln.

Clemens runzelte die Stirne. „Nein, das sage ich nicht. Nur, dass Bischof Kahlfuß sich wie der Rest verhalten hat. Entweder war er zu dämlich, zu korrupt oder zu arrogant, um etwas an den vielen Missständen zu verändern. Aber jetzt wird quasi eine Lupe auf sein Leben gerichtet.“

„Ach, hören Sie mir damit auf! Wie lange ist es her, dass man seinen Leichnam gefunden hat? Ein, zwei Wochen? Und steht noch etwas in den Zeitungen? Das ist doch längst Schnee von gestern. Nein, nein, da haben Sie keinen passenden Aufhänger.“

„Trotzdem, ich werde ...“

Markus Jonas klopfte Clemens väterlich auf die Schulter. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber ich gehe mir jetzt die Madonnenskulpturen anschauen.“

Und ehe Clemens etwas sagen konnte, ließ Markus Jonas ihn einfach stehen. Clara versteckte sich schnell hinter einer Säule, die eine Statue von Christus als Weltenrichter trug, und Markus Jonas sah nicht in ihre Richtung, als er den Weg nach oben nahm. Clemens Peters hingegen war nicht so blind.

„Mensch Clara!“, rief er aus, sobald Markus Jonas verschwunden war. „Dich habe ich ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.“

Etwas verlegen trat sie aus dem Schatten des Weltenrichters.

„Ich ... ich wollte nicht lauschen. Ich habe mich eigentlich hier zurückgezogen, um in Ruhe zu telefonieren.“

Clemens zuckte gleichgültig die Schultern. „Denkst du, dass man hier rauchen darf?“

„Sicher nicht.“

Er zuckte wieder die Schultern, ehe er begann, in der Tasche seines weinroten Schnürdelsamtsakkos zu kramen und ein Päckchen Gauloise hervorzuziehen. Fast genauso lange dauerte es, bis er auch ein Feuerzeug gefunden hatte - der Aufschrift zufolge ein Werbegeschenk vom ADAC. Langsam zündete er eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Danach wartete er eine Weile und blickte skeptisch nach oben. „Der Rauchmelder scheint schon mal nicht anzuspringen.“

Clara lächelte. „Hast du auch eine für mich?“, fragte sie.

„Damals im Studium hast du doch nicht geraucht.“

„Damals war ich auch noch ein braves Mädchen.“

„Ach komm schon, das bist du noch immer! Arbeitest du nicht fürs Frankfurter Museum für Sakrale Kunst?“

„Immerhin bin ich geschieden, zählt das nicht als Verbrechen?“

„O, o, was für ein Skandal!“

„Und bei dir?“

„Ich bin nicht geschieden. Ich habe noch nicht mal 'ne feste Freundin.“

„Nein, ich will wissen, welchem Skandal du auf der Spur bist.“

Clemens stieß ein paar Rauchkringel aus und sah zu, wie sie sich langsam im diffusen Licht auflösten. „Ach, einer der üblichen Schweinereien, Geldverschwendung ohne Ende. Die einen sind zu gierig und die anderen zu blöd, um das zu raffen ...“

„Hat das was mit dem Mord an Rainer Kahlfuß zu tun? Weißt du etwa mehr darüber?“

Clemens sah sich suchend um, wo er die Asche entsorgen kannte. Hinter einem der länglichen Heizkörper stand ein Plastikkübel, den eine Putzfrau hier stehen gelassen hatte, und er klopfte die Zigarette gegen den Rand. „Ich weiß nur das, was in der Zeitung stand ... dass er offenbar gefoltert wurde ... und dass man ihm den Kopf abgeschlagen hat.“

„Grässlich ...“, murmelte Clara. Eine große Tageszeitung hatte den Mord zum Anlass genommen, der Geschichte der Enthauptung nachzuspüren, von der mittelalterlichen Hinrichtungsmethode für die Nobilität, bis hin zur Erfindung der Guillotine und den Morden des ISIS.

„Sein Bistum stand kurz vor dem Bankrott, wusstest du das? Aber keine Angst, die anderen fangen es schon wieder auf, wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass Mainz einen großen Beitrag liefert. Die Kohle braucht Engelhardt schließlich für sich selbst. Hier werden Gelder in Millionenhöhe unterschlagen - und das nachdem die Renovierung des Doms ohnehin schon so teuer war. Wenn das ans Licht kommt, kostet das unserem Luxusbischof den Kopf ... sorry, war ein schlechter Scherz ... den Kopf kann er natürlich behalten, aber sein Amt ist er los.“

Er nahm tiefen Zug an der Zigarette, aber machte nicht den Anschein, als würde ihm die Zigarette besonders gut schmecken; stattdessen erschien ein Ausdruck von Ekel in seinem Gesicht. Nach drei, vier weiteren Zügen warf er sie in den Plastikeimer. Eine Rauchsäule stieg hoch, und der unangenehme Geruch nach verbranntem Plastik breitete sich aus. Clara warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Nur noch fünf Minuten bis zu Beginn der Veranstaltung, Patrick suchte sie sicher schon überall. Doch anstatt nach oben zu gehen, lehnte sie sich an die Wand.

„Und welche Rolle spielt Markus Jonas dabei?“

„Du hast wahrscheinlich schon mal gehört, dass er nicht nur Geschäftsführer seiner Filmproduktion ist, sondern zugleich im Aufsichtsrat der RIFF sitzt, die Abkürzung für 'Religion in Film und Fernsehen'. Die RIFF ist ein Tochterunternehmen des Verbandes der Diözesen Deutschlands und wurde einst gegründet, um die Medienarbeit der katholischen Kirche in Deutschland zu fördern. Das offizielle Internetportal der katholischen Kirche Deutschland geht ebenso auf die Kappe der RIFF wie alle religiösen Programme, die bei den bundesweiten Fernsehsendern gezeigt werden. Und ich kann dir sagen, das ist ein einziger Sumpf. Ständig werden Gelder für Pilotsendungen ausgegeben, die entweder gar nicht realisiert werden oder deren Produktion nur einen Bruchteil der angepeilten Summe kostet.“

Clara musste an den penetranten Geruch der Leberkäsebrötchen denken.

„Die Generalvikare im Aufsichtsrat lassen sich alles erzählen, weil sie keine Ahnung vom Fernsehen haben“, fuhr Clemens fort. „Bedenkenlos schleudern sie das Geld raus, das Markus Jonas einsackt, und damit alles auch weiter glatt läuft, wandert ein Teil seines Gewinns an Engelhardt, weil der im Moment schließlich der Medienbischof ist und das letzte Wort hat. Du kannst dir vorstellen, welche Lobreden er auf Markus Jonas hält. Schließlich kann er sich mit dem Geld seinen Luxus-Adventskranz kaufen und einen Teich mit Goldfischen anlegen lassen.“ Clemens schüttelte empört den Kopf. „Naja, wer in diesem Verein bleibt und glaubt, dass seine Kirchensteuer am Ende bei den armen Kindern in Afrika landet, ist selber schuld.“

Clara blickte ihn erstaunt an. Auch während des Studiums hatte er sich häufig über die Missstände in der Kirche empört, aber nie hatte er sich so deutlich distanziert.

„Aber ... aber diese Geldverschwendung steht nicht wirklich Zusammenhang mit diesem Mord?“

„Bist du etwa unter den Kriminalisten gegangen?“

Clara fühlte, wie ihr Röte ins Gesicht schoss.

Nein, aber kenne einen Kriminalisten ... kenne ihn nur allzu gut, dachte sie.

Simon Fabiani war der Mann ihrer Ex-Schwägerin Dora, mit dem sie seinerzeit, als man Nicholas Roth in ihrem Museum ermordet aufgefunden hatte, gemeinsam ermittelt hatte ... und dem sie seit damals aus Gründen, die sie sich nur im Halbschlaf oder unter Alkoholeinfluss eingestand, aus dem Weg ging.

„Ich glaube, ich muss jetzt nach oben, um meine Rede zu halten.“

„Und ich glaube, mir ist die Lust auf Häppchen gründlich vergangen. Irgendwann bei so einem Katholenempfang habe ich mal Shrimps erwischt, wo noch die Schale dran war. Ich hoffe, mindestens eine der Pappnasen erstickt heute daran.“

„Na, na!“

„Keine Angst, Markus Jonas droht keine Gefahr. Die fette Schleimspur, die er für gewöhnlich zieht, ist feucht genug, dass nahezu jeder Brocken mühelos seine Kehle runter flutscht.“

Als Clara den Kreuzgang erreichte, stellte sie fest, dass mittlerweile auch Erzbischof Engelhardt zu den Gästen gestoßen war. Eine Menschentraube umgab den kleinen, schmächtigen Mann, dessen linkische Gesten Clara immer ein wenig an einen Schuljungen erinnerten. Seine Stimme war so hoch, als hätte er den Stimmbruch noch nicht hinter sich, und er betonte jedes einzelne Wort so nachdrücklich, als würde er die Messe lesen.

Clara versuchte ihn weitflächig zu umrunden, kam aber nicht umhin, den Privatsekretär des Bischofs zu begrüßen, einen Dominikanermönch, den sie jedoch noch nie in der weißen Ordenstracht gesehen hatte, sondern immer nur in einem dunkelgrauen Anzug, der an dem dürren Männlein regelrecht schlotterte. Sie konnte sich nicht helfen, aber wann immer sie Pater Cölestin begegnete, hatte sie das Gefühl, einem Klon seines Bischofs gegenüberzustehen, nur, dass der Mönch sogar noch dürrer und sein Adamsapfel etwas größer war. Nun gut, die dunklen Augen waren groß und schön, aber er trug eine Brille, deren Glas offenbar die falsche Anzahl an Dioptrien aufwies, denn er nahm sie sich ständig ab und rieb sich die Augen - so auch jetzt.

„Frau Mohr, schön, dass ich Sie noch sehe!“

Wenn sie in den letzten Wochen Einzelheiten bezüglich ihres Exponats klären musste, hatte sie immer mit Pater Cölestin zu tun gehabt. Ihr war zwar nicht klar, warum er die Belange des Diözesanmuseums in seinem Aufgabenbereich ansiedelte, aber scheinbar fühlte er sich als Mädchen für alles, ohne dessen ausdrückliche Zustimmung im Bistum nichts passieren durfte.

„Können wir kurz noch mal den Ablauf durchgehen?“, fragte er.

Clara unterdrückte ein Seufzen. Sie hatten doch schon vor zwei Wochen ihre Rede besprochen und gestern noch mal am Telefon.

„Ich glaube, das ist nicht so kompliziert. Als erstes wird Bischof Engelhardt eine Rede halten, dann Herr Rautenberg, am Ende werde ich ein paar Worte zu der Madonnenskulptur aus unserem Museum sagen.“

Pater Cölestin zwinkerte ein paar Mal, ehe er sich die Brille wieder aufsetzte. „Ist Ihr Mann heute Abend mitgekommen?“

Er wusste nie natürlich, dass sie geschieden war, jeder wusste es, aber es wurde in Kirchenkreisen niemals ausgesprochen. „Leider ist das nicht möglich“, sagte sie höflich lächelnd. „Er muss auf unsere kleine Tochter aufpassen.“

„Ich hoffe, es geht ihr gut.“ Pater Cölestin blickte sich suchend um. „Haben Sie vielleicht Herrn Rautenberg gesehen? Ich suche ihn schon seit einer Weile.“

Vage erinnerte sich Clara daran, dass seine Frau sie vorhin nach einem Aspirin gefragt hatte. Wenn sie an den bevorstehenden Abend dachte, könnte sie auch gut eins gebrauchen. Oder zwei. Oder besser: Noch mehr Wein. Eben hatte Patrick sie entdeckt und steuerte wild gestikulierend auf sie zu.

„Er wird sicher gleich da sein“, sagte sie schnell und floh in die entgegengesetzte Richtung. Leider kam sie nicht weit. Die Besucher standen so dicht gedrängt, dass es Patrick bald gelang, sie einzuholen.

„Sag mal, kann es sein, dass du mir ausweichst?“

Clara rang nach Worten und entschied sich schließlich, ehrlich zu sein. „Ja“, sagte sie knapp.

„Aber du hast doch vorgeschlagen, dass ich dich begleite! Wir wollten uns einen schönen Abend mache!“

„Bei so einer langweiligen Veranstaltung ist das etwas schwierig.“

„Ja, warum schleppst du mich dann überhaupt mit?“, fragte er gereizt

Clara schwieg.

„Also wolltest du mich doch nur verarschen. Weißt du, ich habe diese Sache ernst genommen ... richtig ernst ... aber wenn du auf Spielereien stehst ... du, dann wird aus uns beiden nichts.“

Ach, wie schade.

Ein paar der Gäste drehten sich um, und Clara war dankbar, dass Pater Cölestin sie zur kleinen Tribüne winkte, auf der bereits Bischof Engelhardt Platz genommen hatte. Von Othmar Rautenberg war weiterhin nichts zu sehen.

„Wir fangen trotzdem an“, erklärte Pater Cölestin, als sie sich zum Bischof gesellte. „Die Gäste sind schon so gespannt ...“

Sie sind nicht gespannt, sondern hungrig.

Clara begrüßte Bischof Engelhardt und setzte sich neben ihn.

„Ich habe, gehört, Ihr Mann hat es leider nicht geschafft“, murmelte der Bischof.

„Er ist bei unserer Tochter geblieben“, ratterte Clara automatisch herunter.

„Ja, so ist das in unseren Zeiten. In den heutigen Familien müssen Väter und Mütter oft beides sein.“ Sein klebriges Lächeln erinnerte sie an das von Markus Jonas. Offenbar lagen ihm noch mehr Worte zur heutigen Familie auf den Lippen, doch das Stimmengemurmel riss so plötzlich ab, dass er darauf verzichtete.

„Ich glaube, das ist mein Kommando“, raunte er.

Er erhob sich, trat zum Rednerpult, beugte sich übers Mikrophon. Das leise Knacksen war das einzige Geräusch. Die Stille war nahezu unheimlich ... als würde niemand auch nur zu atmen, geschweige denn sich zu räuspern wagen.

„Sind nicht alle Kirchen Ausdruck von Kultur?“, fragte Bischof Engelhardt in die Stille. „Steinerne Zeichen einer unauflöslichen Verbindung von Ästhetik und Liturgie, von Kunst- und Baugeschichte, von weltlicher und religiöser Macht, von konfessionellen Eigenheiten und der großartigen Religionsgeschichte des europäischen Kontinentes? Sind nicht ...“

Abrupt brach er ab, und wieder war nur das Knacksen des Mikros zu hören.

Und dann etwas anderes.

Ein Schrei, laut und durchdringend.

Clara, die bis jetzt auf ihre beigen Lackballerinas gestarrt hatte, zuckte zusammen und blickte hoch. Kein einziger der Versammelten sah auf Bischof Engelhardt. Alle starrten hoch zum ersten Stock.

Wieder ertönte ein Schrei, und diesmal kam er aus dem Mund des Erzbischofs. Er klang genauso unnatürlich hoch wie er redete.

Clara hingegen hatte das Gefühl, nie wieder Ton hervorbringen zu können. Ihr Mund wurde ganz trocken.

Die mannsgroßen, gewölbten Fenster des Ausstellungssaales im ersten Stock waren eigentlich immer geschlossen. Nun war eines sperrangelweit geöffnet. Und auf dem Fenstersims stand ein Mann und machte Anstalten, sich in die Tiefe zu stürzen.

„Benzin?“, fragte Simon Fabiani verdutzt. „Im Büro des Kardinals wurde Benzin vergossen?“

Hauptkommissar Martin Hartmann nickte. „Damit hätte man locker einen halben Tank vollgekriegt. Hätte sogar für die Fahrt nach Köln gereicht.“ Missmutig rümpfte er die Nase.

Simon war sich nicht sicher, was ihn mehr störte – die lange Anfahrt von Frankfurt nach Köln und die Überstunden, die diese notgedrungen mit sich brachte, oder dass er hier nicht der Herr im Haus war. Die Kollegen von Köln hatten in der Tat so getan, als wäre es ein Entgegenkommen ihrerseits, die Frankfurter zu informieren und ihnen Zutritt zum Tatort zu gewähren – was in Hartmanns Augen eine Unverschämtheit war. Schließlich war das schon der zweite Mord an einem hochrangigen Geistlichen der katholischen Kirche Deutschlands, und da der erste in Frankfurt passiert war, stand ihm eigentlich die Rolle des Alphatiers zu. Simon gab ihm insgeheim zwar recht, fand es aber vergnüglich zu beobachten, wie Hartmann hier behandelt wurde - so arrogant und selbstherrlich nämlich, wie ansonsten Hartmann selbst mit seinen Kollegen und Untergebenen umsprang.

Seine Bitte, die Haushälterin des Kardinals, Frau Miriam Eschweiler, zu befragen, war von Kai Erdmann von der Kripo Köln schlichtweg abgelehnt worden. Stattdessen hatte der nur ein paar magere Informationen weitergegeben, so auch, dass man im Büro des Kardinals nicht nur den Toten, sondern auch Palmblätter gefunden hatte. Außerdem war an mehreren Stellen Benzin ausgeschüttet worden.

„Wie es ausschaut, wollte der Täter das Opfer wohl verbrennen“, sagte Hartmann. „Vielleicht ist er gestört worden, und da musste es eben schneller gehen und er griff zum Dolch.“

Simon wiegte nachdenklich den Kopf. „Aber wenn er mit der Absicht kam, ihn zu verbrennen und alles dafür vorbereitet hat – warum hat er dann überhaupt einen Dolch mitgenommen?“

„Wie soll ich das wissen?“, schnaubte Hartmann. „Vielleicht ist es ein Verrückter, der immer mit so einem Familienerbstück rumläuft.“

So etwas sollte ich mal sagen, ging es Simon durch den Kopf. Wenn ich aufgrund der mageren Informationen, die ihr wie Brotkrumen vom Tisch fegt, Mutmaßungen aufstelle, stehe ich mal wieder als blöder Psychologe da.

Dabei hatte er den ganz normalen Werdegang eines Polizisten hinter sich und zusätzlich eine Ausbildung als Fallanalytiker – inklusive ausgedehntem Praktikum bei der Royal Canadian Mounted Police – abgeschlossen. Da er sich aus privaten Gründen von Wiesbaden nach Frankfurt hatte versetzen lassen, war er jedoch nicht bei der Operativen Fallanalyse tätig, wo alle Posten besetzt waren, sondern der Abteilung von Gewaltkriminalität und Sexualdelikte, die von Martin Hartmann geleitet wurde, zugeteilt worden.

Er beschloss, nicht weiter auf Hartmanns gekränktem Ego herumzureiten. Schließlich war es für ihn von Vorteil, dass Hartmann ausnahmsweise nicht ihn als Feind betrachtete, sondern Kai Erdmann, nicht zuletzt, weil Luis Landorff, einer ihrer Kollegen, im Urlaub war und Hartmann gezwungen gewesen war, ihn nach Köln mitzunehmen.

„Die Frage ist, was ihn davon abgehalten hat, den Bischof anzuzünden“, sagte Simon. „Etwa die Haushälterin?“

Hartmann schüttelte den Kopf und blickte sich noch missmutiger um. Simon war sich nicht sicher, wozu der Raum diente, in den Kai Erdmann sie vorhin geführt hatte. Er befand sich gleich im Erdgeschoss der bischöflichen Residenz und verdiente den Ausdruck „Zimmer“ eigentlich nicht. Eine Wand war mit Bücherregalen vollgestellt, auf der gegenüberliegenden Seite standen mehrere übereinandergestapelte Tische, die vielleicht zu besonderen Anlässen gebraucht wurden. Diese Rumpelkammer war an sich schon eine Majestätsbeleidigung für Hartmann. Hinzu kam, dass sich die Männer von der Spusi hier umgezogen hatten. Auf den Tischen lagen etliche Jacke und darunter standen die Schuhe, außerdem ein Paar Stiefel, die so aussehen, als hätte jemand damit ein schottisches Hochmoor überquert. Und der Geruch, der von ihnen ausging, war so grässlich, als hätte derjenige während der Tour sogar darin geschlafen.

„Die Haushälterin hat ausgesagt, dass sie den Kardinal das letzte Mal während des Mittagessens gesehen hat. Am Nachmittag war sie etwas in der Stadt erledigen, und als sie gegen 16.00 Uhr zurückkam, hat sie den Kardinal tot aufgefunden. Kai Erdmann behauptet, dass er zu diesem Zeitpunkt etwa drei Stunden tot war.“

„Das heißt, die Leichenstarre hat eingesetzt. Nach drei Stunden beginnt sie in den Gesichtsmuskeln und den Muskeln der Augenlider und breitet sich langsam auf die Arme und Beine aus.“

Hartmann warf ihm etwas verächtlichen Blick zu, ja, ja, du Klugscheißer, doch zu Simons Überraschung verzichtete er auf einen beißenden Kommentar, sondern begann unruhig auf und abzugehen – sofern das in diesem winzigen Raum überhaupt möglich war.

„Ich frage mich, warum wir hier in der Besenkammer rumsitzen. Wenn uns Erdmann ohnehin nicht die Zeugen befragen lässt, reicht es ja, uns später die Akten zu schicken.“

Und du müsstest noch nicht mal deinen Arsch erheben, sondern könntest ruhig am Schreibtisch sitzen bleiben ...

„Soll ich mal mein Glück versuchen?“, schlug Simon vor.

„Ach, ich kenne solche Typen wie den Erdmann. So tief kannst du dem gar nicht in den Arsch kriechen, damit der dich seine Scheiße riechen lässt.“

Hartmann wurde immer vulgär, wenn er in seinem Stolz gekränkt war, und Simon lag es auf den Lippen zu sagen, na ihre Schweißfüße lassen uns die Kölner Kollegen aber schon riechen. Doch er verkniff es sich. Hartmann sah nicht so aus, als wäre er für Scherze empfänglich.

„Aber machen Sie nur, machen Sie nur!“, knurrte er immerhin.

Allein schon wegen des Gestanks war Simon froh, dem Raum zu entkommen.

Er trat nach draußen in einen der beiden Innenhöfe, um die die mit Backstein vermauerten Gebäude kreuzgangartig angelegt worden waren. Der südliche, größere Teil bildet das Priesterseminar, der nördliche, kleinere Teil die Bischofsresidenz.

Simon atmet tief die kalte Februarluft ein. Nicht nur dass die Stiefel gestunken hatten – die Luft in der Eingangshalle war derart stickig, als wäre seit Jahren nicht mehr gelüftet worden. Zwei Kölner Kollegen standen in der Nähe einer moosumwitterte Steinstatue und rauchten.

„Na, habt ihr auch eine für mich?“

Simon rauchte nicht, hatte aber die Erfahrung gemacht, dass man mit nichts so leicht die Türen öffnen konnte als mit dem Schnorren von Zigaretten.

Und tatsächlich: Nicht nur dass einer der Beamten bereitwillig in Lederjacke kramte und Päckchen Camel hervorzog, nachdem er um eine gebeten hatte, während der andere ebenso eifrig Feuerzeug zückte – außerdem setzten sie gleich danach ihre Lästereien fort, die der Haushälterin des Kardinals galten, Miriam Eschweiler.

„Hast du mitbekommen, dass sie ständig in Wir-Form redet?“

„Als wäre sie mit dem Bischof verheiratet gewesen!“

„Die haben doch bestimmt gevögelt. Ich meine, die war jahrzehntelang seine Haushälterin, glaubst du, die hat dem nur seine Suppe gekocht?“

„Ich dachte, die Pfaffen stehen allesamt auf Knaben.“

Höhö, wie originell.

„Stammen die Palmblätter eigentlich von hier“, fragte Simon angelegentlich und deutete in den dunkeln Innenhof. „Hier wächst ja allerhand Gesträuch.“

Zugegeben, Ende Februar so etwas zu behaupten, zeugte nicht gerade von botanischem Sachverstand, aber schon hatte Simon den Kölner Kollegen dort, wo er ihn haben wollte.

„Nee, nee, so wie's ausschaut, hat der Täter die mitgebracht. Man stelle sich das mal vor: Wie der mit Benzinkanister und Palmenblätter durch die heiligen Hallen schreitet. Ist ja gar nicht weiter auffällig.“

„Naja, so etwas kann man notfalls auch in Plastiktüten transportieren, ist ja nicht so groß“, meine Simon. „Und hier ist doch so viel los, das Priesterseminar steht meines Wissens fast leer.“

Der Beamte, der ihm Feuer gegeben hatte, nickte. „Ein Riesengebäude, aber kaum Insassen. Wen wundert's.“

„Von dort hatte der Täter also keine unliebsamen Zeugen zu befürchten“, pflichtete der zweite bei. „Wenn man wusste, dass der Kardinal heute Nachmittag hier sein würde, konnte man ihn ungestört antreffen ...“

„Was voraussetzt, dass der Täter über den geplanten Tagesablauf Bescheid wusste. Jemand wie der Kardinal hat nachmittags sicher oft Termine. Aber auf gut Glück schleppt man Palmblätter und Benzin ja nicht einfach mit rum.“

Erstmals trafen ihn etwas misstrauische Blicke.

„In Frankfurt war's auch so, oder?“, fragte einer der Beamten gedehnt. „Ich meine, der Täter war genau informiert, wo er den Berliner Erzbischof an diesem Abend antreffen könnte.“

Simon nickte. „Offenbar hat er ihn im Pfarrhaus abgefangen, wo der nach einem Vortrag die Nacht verbringen würde. Übrigens, habe mich noch gar nicht vorgestellt. Simon Fabiani.“

Die anderen zögerten, nannten dann aber auch ihre Namen, Andreas Kuhle und Sebastian Wirth.

„Und du gehörst zu Hartmanns Team?“

Offiziell ja. Inoffiziell war er immer noch ein Fremdkörper. Daran hatte sich auch nichts geändert, nachdem er vor einigen Monaten maßgeblich bei der Aufklärung einer Frankfurter Mordserie mitgewirkt hatte. Simon trat von einem Bein auf andere, weil er langsam zu frieren begann. Bei jedem Zug an der Zigarette musste er sich darauf konzentrieren, nicht zu husten.

„Ihr sitzt jetzt auch zwischen zwei ... nein eigentlich drei Stühlen, nicht wahr?“, meinte Andreas.

Simon hob fragend die Augenbrauen.

„Na, der Berliner Erzbischof ist in Frankfurt ermordet worden, und jetzt kommt noch der Kölner Kardinal dazu.“

„Hätte schlimmer sein können“, versuchte Simon zu scherzen. „Mit dem Zug ist es 'ne gute Stunde von Frankfurt nach Köln. Stellt euch vor, es wäre der Erzbischof von München gewesen.“

„Die Züge sind doch immer verspätet“, sagte Sebastian und klopfte Zigarette leicht gegen einen Steinpfeiler. Asche rieselte in die Dunkelheit. „Seid ihr mit Intercity gekommen?“

Simon nickte. Hartmann hatte zunächst für den Dienstwagen plädiert, aber dann zugeben müssen, dass sie damit deutlich länger unterwegs waren.

„Und diese Palmblätter“, lenkte er mit möglichst nebensächlicher Stimme das Gespräch wieder zum eigentlichen Thema zurück, „sie lagen am Boden verstreut?“

„Drei insgesamt. Echt ein Spinner.“

Simon nickte. „Und dass er ihn erdolcht hat ...“

„Es war auf jeden Fall kein Profi am Werk“, sagte Andreas. „Der Dolch hat das Herz verfehlt, das heißt, der Pfaffe ist langsam verblutet. Nur deswegen hat er es noch zu dem anderen Tisch geschafft. Offenbar wollte er fliehen ...“

„Naja, immer noch besser, als zu verbrennen“, meinte Sebastian. „Schließlich war sein ganzer Anzug mit Benzin durchtränkt. Ein kleines Flämmchen und wusch! Eine lebende Fackel!“

Simon tat so, als wüsste er das bereits. „Ich frage mich, was den Täter letztlich dann doch davon abgehalten hatte.“

„Vielleicht hat er sein Feuerzeug vergessen?“, schlug Andreas spöttisch vor. Er selber gerade neue Zigarette anstecken wollen, aber da winkte ihr Chef vom Eingang.

„Oder er fand es schade um die schönen Räume“, meinte Sebastian, ließ seine Zigarette in die feuchte Erde fallen und machte sich nicht die Mühe sie auszutreten.

Simon war erleichtert, nicht mehr rauchen zu müssen, und die stickige Luft im Inneren war leichter zu ertragen, als in der feucht-kalten Finsternis zu stehen. Beim Gedanken, dass er Hartmann etwas unter die Nase reiben konnte, was der noch nicht wusste und er selbst so mühelos herausgefunden hatte, breitete sich allerdings etwas Wärme in seiner Brust aus.

Mit eurem Blut sollt ihr bekennen

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