Читать книгу Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten - Kristin Neff, Christopher Germer - Страница 21
Was ist Selbstmitgefühl?
ОглавлениеWenn ich aber nun entdecken sollte, dass …ich selber des Almosens meiner Güte bedarf –dass ich mir selbst der zu liebende Feind bin, was dann?
C. G. Jung (1971)
Selbstmitgefühl unterscheidet sich nicht wirklich vom Mitgefühl für andere. Die Gefühle sind die gleichen, die Erfahrung ist die gleiche. Der Unterschied besteht darin, dass Menschen in der Regel sich selbst ausschließen aus dem Kreis derer, denen ihr Mitgefühl gilt – sie sind viel eher bereit, anderen Mitgefühl entgegenzubringen als sich selbst (Knox, Neff und Davidson, 2016). Aus diesem Grund kann es uns helfen, zunächst allgemeiner zu untersuchen, was Mitgefühl ist, um zu verstehen, was es bedeutet, Mitgefühl mit sich selbst zu haben.
Mitgefühl wird definiert als »mitfühlendes Wahrnehmen der Not anderer, gepaart mit dem Wunsch, sie zu lindern«. Goetz, Keltner und Simon-Thomas (2010) definieren Mitgefühl als »das Gefühl, das entsteht, wenn man das Leiden eines anderen miterlebt und dies daraufhin den Wunsch zu helfen auslöst«. Ein zentraler Aspekt der Definition von Mitgefühl ist auch ein Gefühl der Verbundenheit mit der leidenden Person (Cassell, 2002). Blum (1980) schreibt: »Mitgefühl impliziert ein Bewusstsein der gemeinsamen menschlichen Daseinserfahrung; das heißt, man betrachtet den anderen als Mit-Menschen.« Wenn wir Mitgefühl empfinden, sind wir also bereit, beim Leiden anderer präsent zu sein und eine menschliche Verbundenheit zu spüren. Ihr Leiden löst bei uns auch fürsorgliche Gefühle und den Wunsch zu helfen aus.
Nehmen wir beispielsweise an, Sie begegnen auf Ihrem Weg zur Arbeit einem Obdachlosen, der um Geld bettelt. Anstatt an ihm vorbeizueilen oder ihn als wertlosen Trunkenbold zu verurteilen, könnten Sie innehalten und überlegen, wie schwierig das Leben dieses Menschen wohl sein muss. Was ist seine Geschichte? Bekommt er die psychosoziale Versorgung und Unterstützung, die er braucht? In dem Moment, in dem Sie diesen Mann tatsächlich als leidendes menschliches Wesen sehen, wird sich Ihr Herz mit ihm verbinden. Anstatt ihn zu ignorieren, stellen Sie fest, dass Sie von seinem Schmerz berührt werden, und verspüren den Wunsch, auf irgendeine Weise zu helfen. Wichtig ist: Wenn Sie Mitgefühl empfinden, anstatt bloß Mitleid zu haben, sagen Sie sich: »Er ist genau wie ich ein Mensch. Wäre ich in andere Umstände hineingeboren worden oder hätte ich einfach nur Pech gehabt, müsste ich vielleicht auch so ums Überleben kämpfen. Wir sind alle verwundbar.«
Es könnte natürlich auch ein Moment sein, in dem Sie Ihr Herz völlig verschließen. Ihre Angst, vielleicht selbst einmal auf der Straße zu landen, kann dazu führen, dass Sie sich distanzieren und den Mann »entmenschlichen«. Doch diese Verhärtung des Herzens, die oft mit einem Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Obdachlosen einhergeht, führt wahrscheinlich nur dazu, dass man sich isoliert und abgeschnitten fühlt. Nehmen wir aber einmal an, Sie empfinden wirklich Mitgefühl mit dem Mann. Wie fühlt es sich an? Eigentlich fühlt es sich ziemlich gut an. Es ist wunderbar, wenn sich das Herz öffnet – man fühlt sich sofort verbundener, lebendiger, gegenwärtiger.
Was wäre jedoch, wenn er nur um Geld bettelte, um sich etwas Alkoholisches zu kaufen? Sollten Sie ihm trotzdem Mitgefühl entgegenbringen? Ja. Sie müssen ihm sicherlich kein Geld geben, wenn Sie das für unverantwortlich halten, aber er hat dennoch Mitgefühl verdient – wie wir alle. Mitgefühl ist nicht nur für diejenigen, die schuldlose Opfer sind, sondern auch für die, deren Leiden auf persönliches Versagen, Schwächen oder schlechte Entscheidungen zurückzuführen ist – solche, die wir alle jeden Tag fällen. Allein die Tatsache, dass wir bewusste, menschliche Wesen sind, die das Leben auf diesem Planeten erfahren, bedeutet, dass wir grundsätzlich wertvoll sind und Fürsorge verdienen. Dem Dalai Lama (1984/2012a) zufolge »wollen die Menschen von Natur aus glücklich sein und nicht leiden. Mit diesem Grundgefühl versucht jeder Mensch, Glück zu erreichen und das Leiden hinter sich zu lassen, und alle haben das Recht, danach zu streben … grundsätzlich sind wir, wenn wir den wahren Wert des Menschen betrachten, alle gleich.«
Ein Recht auf Mitgefühl müssen wir uns nicht verdienen; es ist unser Geburtsrecht. Wir sind Menschen, und unsere Fähigkeit, zu denken und zu fühlen – gepaart mit unserem Wunsch, glücklich zu sein und nicht zu leiden –, rechtfertigt Mitgefühl um seiner selbst willen.