Читать книгу Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten - Kristin Neff, Christopher Germer - Страница 9
ОглавлениеTeil I
Selbstmitgefühl: Theorie, Forschung, Training
Vor langer Zeit lernte ich: Das Weiseste, was ich tun kann, ist, auf meiner Seite zu sein.
Maya Angelou (zitiert in Anderson, 2012)
Die meisten Menschen würden wohl behaupten, dass sie bis zu einem gewissen Grad verstehen, was Selbstmitgefühl bedeutet. Schließlich ist Mitgefühl mit anderen ein zentrales Prinzip der meisten Weltreligionen, das in der goldenen Regel »Alles, was ihr wollt, das euch die Menschen tun, das tut auch ihnen« verankert ist (Mt 7:12; siehe auch Armstrong, 2010). Selbstmitgefühl impliziert einfach das umgekehrte Prinzip, nämlich zu lernen, mit uns selbst so umzugehen, wie wir vielleicht spontan mit anderen umgehen würden, wenn sie leiden, scheitern oder sich unzulänglich fühlen. Das ist jedoch leichter gesagt als getan. Was passiert, wenn wir die Augen schließen und darauf achten, uns selbst Freundlichkeit und Mitgefühl entgegenzubringen? Normalerweise werden uns die ungeliebten Anteile unserer selbst bewusst – und auch die alten Wunden, die in den Tiefen unseres Herzens und Geistes verborgen waren. Es erfordert ein spezielles Training, um Licht an diese dunklen Orte bringen und lange genug dort verweilen zu können, um das, was wir vorfinden, zu transformieren.
Die folgenden vier Kapitel sind dem Versuch gewidmet, das Selbstmitgefühlstraining in einen Kontext zu stellen. Es ist gut, eine Landkarte zu haben, bevor wir uns auf dieses Terrain begeben.
In Kapitel 1 erfahren Sie etwas über die Beziehung zwischen Achtsamkeit und Mitgefühl sowie über einige praktische Unterschiede zwischen dem Mindful-Self-Compassion-(MSC-)Programm und anderen empirisch unterstützten achtsamkeitsbasierten Trainingsprogrammen.
Kapitel 2 definiert die Grundidee des Selbstmitgefühls, vergleicht Selbstmitgefühl mit dem Mitgefühl für andere, vertieft die Diskussion über die Beziehung zwischen Achtsamkeit und Selbstmitgefühl, beleuchtet die Yin- und Yang-Aspekte des Selbstmitgefühls und weist auf Unterschiede zwischen Selbstwertgefühl und Selbstmitgefühl hin. In Kapitel 2 werden auch häufige Bedenken gegenüber dem Selbstmitgefühl aufgedeckt.
Kapitel 3 bietet einen umfassenden Überblick über die Forschungsliteratur zum Thema Selbstmitgefühl, die darauf hinweist, dass die meisten Bedenken im Hinblick auf Selbstmitgefühl unbegründet sind. Diskutiert werden Forschungsergebnisse in den Kategorien emotionales Wohlbefinden, Gesundheit, Alltagsbewältigung, Körperbild, Beziehungen, Pflege, Populationen in klinischen Studien, Neurophysiologie und weiteren.
Kapitel 4 konzentriert sich schließlich auf die Wissenschaft des Selbstmitgefühlstrainings. Es beleuchtet die Forschungsergebnisse hinsichtlich des MSC-Programms sowie anderer Mitgefühlstrainingsprogramme, die die Vorteile und positiven Wirkungen von mitgefühlsbasierten Interventionen stützen.
Wir, die Mitentwickler des MSC-Programms, sind sowohl Praktizierende als auch Sozialwissenschaftlerinnen. Wir glauben, dass die positiven Auswirkungen von mehr Selbstmitgefühl so alt sind wie die menschliche Natur und dass das Erlernen von Selbstmitgefühl keine bestimmten Glaubensvorstellungen voraussetzt. Unser Verständnis beruht auf persönlicher Erfahrung und wird durch Forschungsergebnisse gestützt. Das Wissen um die starke empirische Basis von Selbstmitgefühl hat den Vorteil, dass es die persönliche Praxis inspirieren und durch Zuversicht stärken kann. Die Forschung liefert Hinweise darauf, wie und für wen Selbstmitgefühl am besten funktioniert, bietet Einblicke in die grundlegenden Wirkmechanismen des Selbstmitgefühls und weist auf neue Trainingsinitiativen hin.
Letztendlich ist es jedoch die Erfahrung des Selbstmitgefühls – die direkte Wahrnehmung dessen, was geschieht, wenn wir mit uns selbst warmherzig und unterstützend umgehen –, die es uns ermöglicht, unseren Weg mit Zuversicht und Leichtigkeit zu gehen.