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Die Rolle von Sprache(n) beim Schuleintritt und in der Primarstufe

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Der Eintritt in die 1. Klasse der Primarstufe erfolgt in der Regel im Alter von 6 bzw. 7 Jahren. Einschulungsuntersuchungen im Kindergarten zeigen den beteiligten Akteur*innen auf, in welchem Maße ein Kind auf die Anforderungen schulischer Bildung vorbereitet ist. Dabei sind neben motorischer und allgemeiner kognitiver Entwicklung im Regelfall die Kompetenzen eines Kindes in der deutschen Sprache ein wichtiges Kriterium. Bereits diese zentrale Scharnierstelle des Schuleintritts bewältigen mehrsprachig und einsprachig aufwachsende Kinder im selben Alter mit sehr unterschiedlichen Ausgangslagen und Voraussetzungen. Während die einen auf ein System treffen, das auf ihre Ausgangslage zugeschnitten ist, werden die anderen sowohl mit einem möglichen Förderbedarf als auch in einem Teil ihrer Potentiale nicht oder nicht ausreichend wahrgenommen.

Aus Studien zum Wortschatzerwerb ein- und mehrsprachiger Kinder im Alter von 6 Jahren lassen sich diese sehr unterschiedlichen Ausgangslagen gut abbilden. Dabei ist sicher nicht die allgemeine Anzahl der den Kindern rezeptiv und produktiv zur Verfügung stehenden Wörter kleiner oder größer. Doch ist der Anteil der zur Verfügung stehenden deutschen Wörter bei monolingual deutschsprachig aufwachsenden Kindern durchschnittlich größer als bei mehrsprachigen, was für Letztere einen Nachteil in einem Unterricht darstellen kann, der lediglich auf Deutsch stattfindet.

Im Alter von vier Jahren wird der Wortschatz eines Kindes noch zum größten Teil durch die Anzahl der Worte bestimmt, die seine Eltern gebrauchen. Denn erworben werden können nur Wörter, die im Umfeld verwendet werden. Auch in den ersten Schuljahren scheinen schulische Einflüsse für die Wortschatzentwicklung noch eine untergeordnete Rolle zu spielen. […] Unterschiede im Wortschatzumfang (d.h. der Anzahl der beherrschten Wörter) zeigen sich bereits im Vorschulalter. […] Der Allgemeine Deutsche Wortschatztest (Kiese-Himmel 2005) […] geht bei monolingualen Schulanfängern von einem produktiven Gebrauch von 5000–9000 Wörtern aus (der sog. Mitteilungswortschatz) und von 10000–14000 Wörtern, die verstanden werden (der sog. Verstehenswortschatz). […] Für die Aufnahme und Verarbeitung neuen Wissens und neuer Erfahrungen ist ein größerer Wortschatz von Vorteil. (Apeltauer 2008, 240)

Es ist unbestritten, dass mehrsprachige Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen und mit besonderen Kompetenzen in die Schule kommen. Diese unterscheiden sich allerdings, u.a. je nachdem, wie lange die Kinder schon Deutsch lernen, ob und inwieweit sie Schrifterfahrung in ihrer L1 [language one, Erstsprache, K.P./A.B.] haben und sie parallel in der L1 alphabetisiert werden. Wie einsprachig deutsche Kinder müssen sie die schriftliche Varietät der Sprache wie eine weitere Sprache erwerben, um sie zur Lösung komplexer Aufgaben und zum Erwerb fachspezifischer Kompetenzen zu nutzen. (Jeuck 2017, 281)

Die vorhergehenden Zitate verdeutlichen wesentliche Elemente des Spracherwerbs in mehreren Sprachen und seine potentiellen Auswirkungen auf das schulische Lernen zum Beginn der Schulbiographie. Bringt ein Kind in eine Schuleingangsuntersuchung mehrere Sprachen mit, finden diese nicht immer Berücksichtigung bei der Erfassung und Beurteilung seiner kognitiven Entwicklung. Häufig werden mehrsprachige Kompetenzen eines beispielsweise bilingual aufwachsenden Kindes vor allem als Defizite in den Deutschkompetenzen diagnostiziert, die im Anschluss konkrete Auswirkungen auf den Schuleintritt haben können. Kempert et al. (2016) weisen in einem Forschungsreview, in dem Ergebnisse verschiedener Studien zur Rolle von Sprache(n) und Mehrsprachigkeit in Bildungskontexten zusammenfassend interpretiert werden, einen engen „Zusammenhang zwischen Sprachkompetenz und de[n] Rückstellungen von der Einschulung sowie der fachlichen schulischen Leistung“ nach (ebd., 157).

Obwohl in den letzten Jahren eine Reihe von diagnostischen Verfahren entwickelt wurden, die die Mehrsprachigkeit von Kindern als Ressource aufgreifen und nicht ausschließlich Deutschkompetenzen testen (vgl. z.B. Redder/Weinert 2013 und Redder/Neumann/Tracy 2015), ist es doch bei der großen Vielfalt der Ausgangslagen weiterhin gegeben, dass eine Vielzahl mehrsprachiger Kinder häufiger als mit Risiken für den Schulerfolg behaftet wahrgenommen werden, denn als potentiell hochgradig kompetente Schüler*innen (Geist/Krafft 2017, 11). Im Idealfall würden diagnostizierte Sprachförderbedarfe im Deutschen und dokumentierte Fähigkeiten in anderen Sprachen zu einer differenzierten individuellen Begleitung von Kindern im Schuleinstieg führen.

Der Erwerb der für schulische Teilhabe und Lernerfolg notwendigen Deutschkenntnisse mehrsprachiger Kinder und Jugendlicher wird, wie die oben angeführten Zitate zeigen, wesentlich von der Kontaktdauer mit dem Deutschen, von Maßnahmen der frühkindlichen Bildung (vgl. z.B. Lengyel 2017), von Literalitätserfahrungen in verschiedenen Sprachen im Kindesalter und auch von der oder den bereits erworbenen Erstsprache(n) beeinflusst. Auch spielt die Möglichkeit, in zwei mündlich verfügbaren Sprachen lesen und schreiben zu lernen und zweisprachig schulisch alphabetisiert zu werden eine große Rolle für den Ausbau sprachlicher Ressourcen – oder auch für deren Verlust. Der Prozess der schulischen Alphabetisierung ist zudem für alle Kinder mit dem Eintritt in die Grundschule eine neue Art des Umgangs mit Sprache, wobei das Erlernen von Lesen und Schreiben auch ohne den Faktor Zweitsprache Deutsch eine Herausforderung darstellt.

An die eingangs erwähnte Monolingualität des Schulsystems erinnernd wird deutlich, dass für die spezifische Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit in der Grundschule und für die Unterstützung beim Erwerb und Erlernen des Deutschen als Zweitsprache in der Schule spezifische Konzepte erforderlich sind (siehe auch 1.4 und 1.5 in diesem Studienbuch). Für die frühkindliche Sprachförderung sowie die Primarstufe liegen diese, auch untermauert durch umfassende Forschungsergebnisse zum mehrsprachigen Spracherwerb und Deutsch als Zweitsprache, vor (siehe die Beiträge in z.B. Oomen-Welke/Dirim 2013). Von Sprachförderung können so verschiedene Gruppen von Kindern und Jugendlichen profitieren:

 ein- und mehrsprachig aufwachsende Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status,

 Kinder, die sukzessiv auf einer anderen Erstsprache aufbauend Deutsch als Zweitsprache erwerben und im Vergleich mit einem typischen und altersentsprechenden Erstspracherwerb des Deutschen geringere Deutschkompetenzen aufweisen,

 ein- und mehrsprachige Kinder mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen sowie

 „Kinder, die aufgrund von Zuwanderung erst seit kurzem in Deutschland leben, die deutsche Sprache zunächst als Fremdsprache erlernen und teils im deutschen Schriftsystem alphabetisiert werden müssen“ (Lütke 2017, 325).

Mit dem Abschluss der Primarstufe endet der Bedarf an Sprachförderung, Sprachbildung und einer gezielten Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit keineswegs. Vielmehr sind auch Lehrkräfte der Sekundarstufen vor die Aufgabe gestellt, die sprachliche Kompetenzentwicklung quer zu allen Fächern und damit in jedem Fach zu stärken.

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