Читать книгу Joe & Johanna - Kristina Schwartz - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеSie atmete viel zu schnell, ihr Puls raste und zittrige Hände suchten nach dem winzigen Fläschchen in ihrer Handtasche. Fünf Tropfen davon auf die Zunge. Joe hatte sie noch gar nicht richtig geschluckt, als sie schon meinte eine sedative Wirkung zu verspüren. Die von ihr geschaffene Welt aus wohlwollenden Erinnerungen und sepiafarbenen Vorurteilen über die gute alte Zeit war gerade im Begriff einzustürzen. Die Entdeckung, die sie eben gemacht hatte – Joe, warum musst du auch überall deine Nase hineinstecken, warum nur? – war für sie ebenso niederschmetternd, als hätte eine gläubige Katholikin herausgefunden, dass der Erzbischof von Wien eine Affäre mit seinem Frisör hatte. Enttäuscht darüber, so gar nichts über ihre Großmutter gewusst zu haben, ließ sie die Luft aus den Lungen strömen. Dabei war sie überzeugt gewesen, zu ihr ein innigeres Verhältnis als zu ihrer Mutter gehabt zu haben. Sie warf alles wieder in den Schuhkarton zurück und setzte rasch den Deckel drauf. Wenn du es nicht siehst, Joe, ist es nicht da. Dann existiert es nicht. Und außerdem, um es ganz korrekt zu formulieren, es hat nie existiert. Gut gemacht, Joe!
Als sie die Türe zu ihrer Wohnung aufschloss, fragte sie sich, ob sie die Mühle wieder abgeschlossen, das Licht überall ausgemacht und wie vielen Verkehrsteilnehmern sie wohl auf ihrem Blindflug zurück nach Wien den Vorrang genommen hatte. Immerhin war sie angekommen. Auch konnte sie sich nicht erinnern, dass ihr Smart über die eine oder andere Unebenheit geholpert war, die vielleicht ein Igel oder gar ein Eichhörnchen gewesen sein mochte. Sie streifte ihre Sneakers ab und hetzte, als wäre ein Rudel Untoter hinter ihr her, in die Küche. Whisky. Wo war der Whisky? Sie trank so selten einen, dass sie ihn erst suchen musste. Einer tieferen Eingebung folgend, fand sie schließlich doch eine Flasche schottischen Single Malts in der Bar im Wohnzimmer. Flink schüttete sie etwas davon in ein gewöhnliches Wasserglas. Das professionelle Auge eines Barkeepers hätte die Menge als einen großzügig eingeschenkten Doppelten bezeichnet. Sie sah durch die bernsteinfarbene Flüssigkeit, ihre Pupillen verengt und starr. Dann leerte sie das Glas in einem Zug. Der Whisky, der ihrem Gaumen so fremd war, brannte ihre Kehle hinunter. Warm und beruhigend breitete sich das Wasser des Lebens in ihr aus. Sie schmunzelte und schenkte sich noch eine geringere Dosis nach. Nun, so redete sie sich ein, war sie bereit, die Schuhschachtel der Pandora noch einmal zu öffnen. Behutsam nahm sie den Deckel ab. Hätte sie vielleicht doch ihre Freundin, die Schamanin, konsultieren sollen? Vielleicht wäre sie in der Lage gewesen, in einer Art Exorzismus, die bösen Geister der Vergangenheit zu vertreiben. Aber Petra war vermutlich – so wie immer – im Stress und Joe hatte absolut keine Lust, wochenlang auf einen Termin zu warten.
Joe wusste, und das war ihr ab und an etwas peinlich, dass sie zu einer Handvoll Frauen in Österreich gehörte, die keine Laster besaßen. Mit einer Ausnahme – der Neugier – selbstverständlich. Doch war diese bei Frauen nicht eine Tugend und nur bei Männern ein Laster? Bedächtig nahm sie die Tagebücher aus der Schachtel, eins nach dem anderen. Da war er wieder, dieser Anblick, das Cover der Zeitschrift. „Bizarre Vol 3 1946“ stand darauf zu lesen. Und das war mit Abstand noch das Harmloseste, das sich auf dem Umschlag befand. Darunter war eine leicht geschürzte, langhaarige Brünette zu sehen. High Heels an den Füßen, Straps-Strümpfe an den Beinen, hautenge Handschuhe, die noch die halben Oberarme bedeckten. Soweit der jugendfreie Teil. Um den Hals, um Arm- und Fußgelenke trug sie metallene Fesseln, die mit einer Kette verbunden waren.
Schwindel überfiel Joe, als befände sie sich knapp unterhalb des Gipfels des Kilimanjaro. Das Bild wurde von ihrer Netzhaut gleichsam aufgesogen. Wo war das Schockierende geblieben? War es schlimm, dass sie nicht mehr schockiert war? Wie das? Hatte der Alkohol die ausgeprägten Spitzen ihrer Emotion abgeschliffen? Mehr torkelnd als gehend steuerte sie ins Bad, besah sich im Spiegel. Du siehst wirklich gut aus, Joe, lallte sie in das Gesicht, das ihr unscharf entgegengrinste. Sie spritzte zwei Handschalen kaltes Wasser in ihr Gesicht, kehrte dann wieder zu ihrer Entdeckung zurück. Misstrauisch, als wäre die Oberfläche mit einem ansteckenden Virus kontaminiert, öffnete sie das Heftchen. Seite drei zeigte die Rückansicht einer Frau. Generöser, breitkrempiger Hut, tailliertes Jäckchen, ultraschmaler Pencilskirt, Strümpfe mit Naht und Pumps mit mindestens zwölf Zentimeter hohen Absätzen. Sie ließ ihren Blick auf dem Bild ruhen. Es gefiel ihr – irgendwie. Seite vier war mit „Good luck - Editor“ signiert. Abbildungen von Korsagen, Korsetts und Dessous wechselten mit solchen von hochhackigen Frauenbeinen, belederten Reiterinnen und einer eng geschnürten Löwenbändigerin mit Peitsche. Doch wo waren die Löwen? Weit und breit gab es keine zu sehen. Sollte die Peitsche womöglich gar nicht zur Züchtigung der Raubkatzen dienen? Joe schluckte und goss sich noch einen kleinen Whisky ein. Ihre Leber war sehr sensibel und vertrug es nicht, zu plötzlich auf null gesetzt zu werden. Kleine Zwischenschritte mussten sein. Bedacht wie eine Entdeckerin, die jeden Augenblick auf kriegerische Einheimische treffen konnte und diese nicht provozieren wollte, blätterte sie weiter. Seite dreiundzwanzig zeigte sechs geknebelte Schönheiten. Wie abstoßend. Als wollte sie dagegen protestieren – wir Frauen lassen uns nicht den Mund verbieten –, riss sie den ihren weit auf. Die Models mit den Überkniestiefeln gefielen ihr. Sie nahm einen Schluck. Die Seiten neunundzwanzig und dreißig zeigten Bilder der Entwicklung des knöchellangen Rocks, zumindest so, wie der Autor es sich in einer Zukunftsvision vorstellte. War er, der Rock, 1912 noch eng, war er 1932 hauteng. 1952 war er zu einem hautengen Overall mutiert; eng an den Hüften, eng an der Taille, zum Zerreißen gespannt am Busen. Das Arrangement wurde abgerundet durch Metallfesseln, die Fuß- und Armgelenke mit einer Kette verbanden. Das letzte Bild, vom Zeitpunkt der Publikation weit in der Zukunft gelegen, zeigte 1972 eine Mumie. Eine weibliche Gestalt komplett einbandagiert in ihre Kleidung. Die Beine zusammengeschnürt, die Hüften ausladend, die Taille einer Sanduhr, die Brüste opulent hervorstechend, die Arme auf dem Rücken verschwunden. Alles, was von der Frau zu sehen war, befand sich ausschließlich oberhalb des Kinns.
Joe hatte genug gesehen. Scharf sog sie die Luft, die ebenfalls nach Whisky zu schmecken schien, durch die Zähne. Sie war doch noch entsetzt. Gut, sie war auch ein klein wenig erregt. War sie womöglich erregt und nur ein klein wenig entsetzt? Sie konnte es nicht sagen. Zügig leerte sie ihr Glas.
Gerne hätte sie diese abartige Art von Literatur Großmutter Johannas Mann zugeschrieben. Da war nur ein kleiner Haken. Großmutter Johanna war in späteren Jahren nicht mehr verheiratet gewesen. Zumindest nicht soweit Joe wusste. Sie legte die Stirn in Falten. Außerdem, was hätte das Magazin in diesem Fall bei Omas Tagebüchern verloren gehabt?
Sie war angesteckt, infiziert von diesem hinterhältigen Virus, von dem sie bisher nicht einmal gewusst hatte, dass es ihn überhaupt gab.
Belügst du dich wieder einmal selber, Joe?
Sie fühlte sich beschmutzt, besudelt von diesen Bildern, von den Gedanken, die dahinter steckten, von einer Sichtweise, die ihr bisher nicht offenbart worden war. Dampfend ließ sie das Wasser über ihren Körper laufen. Dann ging sie ins Schlafzimmer. Unendliche Leere gähnte aus der zweiten Hälfte ihres Doppelbetts. Eine Leere, die seit fast vier Jahren existierte und die mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit wurde. Jahrhunderte schienen verstrichen zu sein, seit jemand mit seiner Körperwärme, seinem Eau de toilette, seiner Persönlichkeit dem Leintuch einen anderen Geruch eingeprägt hatte als den des Waschmittels. Was tat sie auf diesem Planeten überhaupt außer Geld zu verdienen? Hatte sie je auf ihr Privatleben geachtet? Hatte sie überhaupt eines? Sie zog sich die Decke bis übers Kinn, doch eine Behaglichkeit wollte sich nicht einstellen. Fest hatte sie es sich vorgenommen, es an diesem Tag nicht zu tun. Ihr Gehirn sagte nein, doch ihr Körper bettelte darum.
Wenn du so weitermachst, Joe, wirst du bald eine Entzündung im rechten Mittelfinger und eine wundgescheuerte Klitoris haben.
Und wenn schon.
Nachdem sie gekommen war, fühlte sie die Euphorie, gleich darauf plumpste ihr Gemüt wieder in ein tiefes Loch. Täglich dasselbe vermaledeite Spiel. Ihre Lust konnte sie einigermaßen in Schach halten, doch zum wirklichen Glück fehlte ihr die Hälfte. Ihrem Körper gefiel es, sich von seidenen Laken umschmeicheln zu lassen. Angenehm zog der Duft wie im Verkostungsraum einer Whiskydestillerie durch das Zimmer. Eine halbe Stunde später lag sie immer noch wach. Warum hatte Oma Johanna dieses Magazin? Warum hatte sie es so lange Zeit aufbewahrt? Hatte ihre Großmutter womöglich Interessen, die, vom Staub mehrerer Jahrzehnte zugedeckt, nie wieder an die Oberfläche gekommen waren? Joe rollte sich von einer Seite auf die andere. Grenzenlos war die Zahl an Fragen, die durch ihren Kopf geisterten.
Womit konnte eine Zeit, die Joe wie das tiefste Mittelalter vorkam, eigentlich aufwarten, in der es kein Internet, keine mobile Kommunikation und keine asozialen Netzwerke gab. Sollten die Alten tatsächlich mit einer Handvoll Dorfbewohner am Stammtisch das Auslangen gefunden haben?
Was gibt’s denn da zu grübeln, Joe? Du legst ja auch keinen Wert auf dreihundert Facebook-Freunde, von denen du zweihundertachtzig persönlich gar nicht kennst.