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Linke Verschwörungen: Safe Space
Оглавление»Those who make conversations impossible,
make escalation inevitable.«
– Stefan Molyneux
Ein Anhalter stellte einmal fest: In den Einöden eines total aus der Mode gekommenen Ausläufers der Galaxis leuchtet unbeachtet eine kleine gelbe Sonne. Um sie kreist in einer Entfernung von ungefähr einhundertvierundfünfzig Millionen Meilen ein absolut unbedeutender, blaugrüner Planet, dessen vom Affen abstammenden Bioformen so erstaunlich primitiv sind, dass sie Märchen noch immer für eine unwahrscheinlich tolle Erfindung halten.
Ich trete aus einer alten Fabrik, die jetzt anscheinend nur noch Rauchwolken, Unsinn und Schreie produziert, das Ende einer Ära. Ein fernes Echo des Wahnsinns. Gerade noch einmal davon gekommen. Von Leuten, die dort gelandet sind, weil Denken eben nicht ihr Steckenpferd ist. Die nach Hilfe schreien, weil sie von der Gesellschaft vergessen wurden. Schade, aber die sterben auch irgendwann weg. Und mit der Freiheit kauft man eben auch das Böse. Es muss immer ein paar Verrückte geben, damit man sich abgrenzen kann und sich so wunderschön normal fühlen.
Diese Zeit kotzt mich an. Das mächtigste Land der Welt wird von einem offensichtlich Wahnsinnigen regiert, das alte Europa schliert wie vor 1914 in den nationalistischen Regress und die Umstellung auf erneuerbare Energien und Automatisierung der Arbeit lässt die überflüssig gewordenen Eliten in trauter Zweisamkeit mit dem Neosklaventum wie angeschossene Bären um sich beißen. Aber alles in allem könnte es schlimmer sein. Das Mittelalter war übel, der Dreißigjährige Krieg. Das Dritte Reich. Selbst in Ländern wie Ägypten war der Lebensstandard noch nie so hoch wie heute. Eigentlich müssten dort alle auf den Straßen tanzen. Aber Glück ist eben immer eine Sache des Vergleichs und diese Zeit ist auf jeden Fall viel ungleicher und rückständiger, als sie es nötig hätte. Eine Diktatur der Willkür.
Ich glaube zwar nicht, dass die Verrückten aus der Fabrik mich einholen, aber ich reihe mich dort ein, wo sie als letztes nachsehen würden: in einer Demonstration. Lachende Sonnenplakate, trommelnde, junge Leute mit Rastazöpfen, eine Frau verteilt kostenlos Wasser aus einem Bollerwagen. Hier laufen die Hochschüler, die Idealisten, die Zukunft. Das, was man gemeinhin Linke nennt. Das, wo die Verschwörungstheorien die schlechtesten Chancen haben sollten. Menschen sind am ehrlichsten, solange ihr Sein noch nicht das Bewusstsein bestimmt. Studenten, die noch nicht in einen Beruf gepresst sind, wollen die Welt so logisch und gerecht wie möglich. Auch schon, damit sie nicht selbst durch die Maschen fallen. Nach zwanzig Jahren im Beruf würde sogar ein SS-Offizier argumentieren und dass er eigentlich nur das Beste wollte. Eichmann hat schließlich auch nur seinen Job gemacht. Die Menschen teilen sich nicht in ehrenhafte Davids und böse Goliaths. Jeder ist überzeugt, das Richtige zu tun. Erich Mielke sagte: Ich liebe euch doch alle.
Dazu kommt noch die verdammte Projektion: Wenn jemand ein Glas Wasser trinkt und wir sehen zu, feuern bei uns dieselben Neuronen, wie wenn wir es selbst trinken würden. Unser Gehirn ist auf Empathie getrimmt und dessen nicht so sympathischer, aber dafür hyperaktiver Bruder ist die Projektion. Wir denken, dass das, was wir denken und tun, bei anderen ebenso ist. Nur leider ist das in den seltensten Fällen so. Andere Leute denken allen möglichen Scheiß.
Mein Blick schweift über die Plakate. Grundeinkommen, Förderung für die Wissenschaft, erneuerbare Energien. Forderungen, die schon seit zwanzig Jahren Realität sein sollten. Und dazwischen dann wieder Homöopathiebefürworter. Heilpraktiker. Anstatt das einzig Richtige zu tun, nämlich mit den Schildern auf sie einzuprügeln, werden sie toleriert und vergiften so das ganze Anliegen.
Mir reicht es jetzt. Ich bin lange genug weggerannt.
»FÜR – DIE – ANERKENNUNG – NATÜRLICHER – MEDIZIN!«, schreit eine kurzhaarige, leicht Untersetzte. Hinreichend androgyne Kleidung, um niemanden zu sehr vor den Kopf zu stoßen, Achselhaare als Ausdruck politischer Freiheit.
»Wie Arsenkur?«
Die Gruppe sieht verstört herüber. Wahrscheinlich wird gleich der Ordner gerufen, um die Demokratur in den gewünschten Regeln wiederherzustellen.
»Lass den doch, der ist senil«, höre ich sie tuscheln.
»Nicht zu senil, um Blödsinn zu erkennen, wenn ich ihn höre!«
»Ach ja? Was weißt du schon über Medizin?«, fragt sie.
»Du, Sarkasmus, im Ernst? Eine ganze Menge, aber darum geht es nicht. Ich weiß noch mehr über Verschwörungstheorien und deine Naturmedizin ist eine.«
»Verschwörungstheorien sind was für Rechte!«
»Ad hominem, bravo. Die Erstsemester applaudieren. Die Verunglimpfung der Gruppe.« Ich werde warm. Wohlig steigt ein Brei aus Hass und Wut in mir auf. »Wie wäre es, wenn ich sagen würde, Verschwörungstheorien sind nur was für Frauen? Da ist zwar wissenschaftlich nichts dran, klingt aber gut, oder?«5
Sie holt Luft.
»Verschwörungstheorien, Miss Kitty, sind eben nicht nur am Rand, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Und warum auch nicht, wenn sich damit Geld verdienen lässt? Wer will schon Mediziner werden? Du etwa? Jahrelang studieren, zentnerweise Fakten ins Hirn dreschen und dann auch noch eine riesige Verantwortung über Leben und Tod am Ende eines Sechsunddreißig-Stunden-Tages haben? Und vorgeworfen bekommen, man würde von der Juden-Chemo-Mafia kontrolliert werden? Bist du Medizinerin?«
»Heilpraktikerin!«
»Beim Zeus, wieso nicht einfach Heilpraktikerin werden? Das schafft man in ein, zwei Jahren und alles, was man sich merkt, ist so logisch, wie Märchen eben sind. Im Zweifelsfall tendiert alles zu Natur, Ausgeglichenheit und ganz viel reden und sich lieb haben. An sich kein Problem, aber der Staat finanziert Homöopathie und Heilpraktiker mit Millionen Euro im Jahr.6 Ihr seid genau die Leute, die bis zur Unkenntlichkeit potenzierte Hundescheiße als Medikament verkaufen. Ihr seid keine Hypokriten, ihr seid Hippiekriten.«7
»Was, so ein Quatsch! Du tust mir leid, echt.«
»Mensch, schade, dass ich nicht in deiner In-Group bin, die scheint ja einen direkten Draht zur Weisheit Allahs zu haben!«
Köpfe drehen sich um. »Hat er das eben gerade echt gesagt?«
Ich ignoriere die Scheißer.
»Was ist denn ›Excrementum caninum‹ sonst?«
Ihre Pupillen schlagen panisch von rechts nach links aus und versuchen aus dem Kopf zu fliehen. Würde ich genau so machen.
»Und wenn ab und zu ein Dutzend stirbt, wie mehrere Patienten nach einer Behandlung in einem alternativen Krebszentrum am Niederrhein, waren es ein trauriger Einzellfall, kein wahnsinniges System?8 Als wenn ein Deutscher mit einem Dachboden voll Gewehre nur ein ›Waffennarr‹ ist, ein Moslem aber schon bei einem Klappmesser ein Terrorist?«
»Komm mal runter, ey, du redest viel zu schnell.«
»Ach, macht der Rhythmus jetzt die Musik? Wie genau soll ich dir den vorsingen, dass du nur Blech erzählst? Wäre eine Arie genehm?«
Sie rollt in bester Britney-Spears-Manier mit den Augen.
»Und das ist nur die Angebotsseite, wie der gute Kapitalist es sagen würde.«
»Kapitalismus ist schlimm!«
»Genau, warum machst du dann mit? Deine Kritik ist so flach, dass sich Marx nicht mal mehr darin ertränken könnte. Auf der Nachfrageseite herrscht ebenso viel Unwissenheit. Wenn man sich mit bockigen privaten Krankenversicherungen herumschlagen muss, ist es kein Wunder, dass man das billigste Medikament sucht. Und was ist schon billiger, als ein Placebo? Die Wirtschaft optimiert die Medizin nicht, sondern macht sie zu Schamanismus. Du bist nichts als eine moderne Schamanin.«
»Ja und, wir haben zu wenig Gefühl in der Welt! Der Mensch zählt!«
»Ja, du laufendes Drama, aber Gefühl bedeutet nicht blinde Affirmation! Die Esoteriklehre von Heilpraktikertum bis Homöopathie sagt: Du hast Krebs? Selbst schuld, würdest du mal eine bessere Lebenseinstellung gehabt haben oder wirklich dran glauben, dass die potenzierte Hundescheiße hilft, wäre das nicht passiert. Du Wurm. Smile or Die.«9
»Das ist jetzt aber übertrieben.«
»Ja? Ist alles übertrieben, was nicht die Norm ist? Wo setzt man denn da an? Ist es nicht übertrieben, Menschen falsche Hoffnungen zu geben, sich dafür aus Staatsmitteln bezahlen zu lassen, nur damit sie Hundescheiße fressen und verrecken können?«
»So kann man das nicht sagen.«
»Nein? Was habe ich dann gerade getan? Schlechtes Juju heraufbeschworen? Kennst du ›Smile or Die‹? Dachte ich mir. Frustrierend akkurat, aber gibt es leider nicht als YouTube-Video oder ›für Dummies‹. Da beschreibt die Kolumnistin Barbara Ehrenfeld, wie der Zwang zum Fröhlichsein uns verdummt. Besonders in den Vereinigten Staaten, aber auch hier.«
»Das ist doch völlig wirr! Was hat das mit Verschwörungstheorien zu tun?«
»Eine ganze Menge. Nur, weil du nicht folgen kannst, heißt es nicht, dass es keinen Sinn hat. Newsflash, du bist nicht klüger als eine der berühmtesten Kolumnistinnen Amerikas. Verschwörungen sind auch Wirtschaft. Max Weber, der alte Grantler, beschrieb eindrücklich, wie der Kapitalismus aus den freudlosen Calvinisten hervorging. Freude war für den guten Kapitalisten kein Maßstab, als ich noch die Kinder durch die Kohleminen kriechen sah.«
»So alt bist du nun auch wieder nicht!«
»Hast du eine Ahnung. Erst als die überdrehte Konsumgesellschaft im zwanzigsten Jahrhundert aus den Trümmern der Industrieproduktion auftauchte, war Freude auf einmal das Nonplusultra. Mit nichts kann man besser verdienen. Auch wenn man sein Unternehmen anpreist, muss man immer in den höchsten Tönen lügen. Smile or Be Bankrupt.«
»Ja also, Kapitalismus eben.«
»Schön, dass du das Wort kennst. Der erste Grundsatz der Rhetorik: Redundanz macht Argumente sinnvoller. Macht Argumente sinnvoller. SINNVOLLER.« Ich zappele mit der herausgestreckten Zunge und genieße den Bastard aus Trotz, Ekel und Angst, der über ihr Gesicht huscht.
»Wenn also nicht nur Gier und Ruchlosigkeit in der Gesellschaft propagiert werden, sondern auch zwanghafte Fröhlichkeit, nimmt sich dies das verarmte und vergessene Individuum natürlich zu Herzen. Die Rhetorik ist: Sei glücklich, dann wirst du reich. Oder eben ›die trying‹.« Ich lege den Ring über den Zeigefinger und schenke wissend ein »West-Side«. »Der Soziologe William H. Whyte sah darin eine ›geistestötende Kollektivierung, ähnlich wie in der Sowjetunion‹, und das schon 1956.«
»Schön für dich, Fifty. Aber ich sehe immer noch nicht, was das mit mir zu tun hat.«
»Dein Heilpraktikerismus ist Optimismusquacksalberei. Wer zu blöd ist, da selber drauf zu kommen, kann zum Glück jetzt Studien dazu einsehen.10 Nach Operationen gibt es keinen Unterschied, ob du glaubst, nach einem Tag wieder laufen (oder fliegen) zu können. Ganz im Gegenteil, (negative) Realisten packen Probleme eher an. Ebenso, wie Studien belegen, dass Religion die Menschen nicht netter, sondern erbarmungsloser macht, ist die zwanghaft positive Autosuggestion schlicht und einfach ein Zeichen von Schwäche.«11
»Glaube ich nicht!«
»If you believe in something that is not proven you do not improve. Schwäche an sich ist kein Problem, wenn man sie zugibt. Sich von Leuten beraten lässt, die wirklich helfen könnten. Aber wenn man nicht die Anstrengung aufbringen will, sich zu bessern, sondern die Abkürzung über Wahrsager sucht, dann geschieht es einem recht, wenn man die volle Packung Unglück serviert bekommt. Du schickst dich sogar an, einer dieser Wahrsager zu werden!«
»Hast du mal mit Leuten Musik gemacht?«
»Was? Was ist das für …«
»Halt die Fresse, antworte!«
»Ja«, antworte ich genervt und versuche, die Widersprüchlichkeit zu ignorieren.
»In einer Gruppe?«
»Ja.«
Sie ist erstaunt. Du-warst-nicht-Bundeskanzler-also-kannst-du-den-Bundeskanzler-nicht-kritisieren läuft wohl nicht. »Hast du nicht gefühlt, dass da was Größeres ist, zwischen euch? Man kann nicht alles mit der Wissenschaft erklären!«
»You don’t know what it’s like? Natürlich. Das lässt sich auch mit der Messung der Gehirnströme feststellen. Viele Musiker agieren wie ein großes Bewusstsein. Wir wissen bis heute fuck all, was Bewusstsein überhaupt ist oder ob es existiert. Das beweist aber nicht, dass die Wissenschaft falsch ist. Dass unser Gehirn aber das einzige Organ ist, das nicht auf Autopilot fliegen soll, legt zumindest nahe, dass Verschwörungstheorien eine Art eingebauter Bug sind. Oder, dass unser Bewusstsein eine Illusion ist. Klar kann man deswegen wimmern, dass man nicht anders kann. Das ist aber auch nicht mehr als das You-Don’t-Know-What-It’s-Like: ein Fatalismus-Fehlschluss. Nur weil du manchmal auf deine eigene Mechanik reinfällst, heißt das nicht, dass Denken unmöglich ist.«
»Oder die Schwarzen Löcher! Die kann keiner erklären. Ich meine ja nur, die Wissenschaft ist auch nur ein Glaube.«
»Nur weil wir nicht alles beweisen können, heißt das nicht, dass nichts stimmt. Das ist ein Denkfehler, das ›Versetzen des Zaunpfahls‹! Nimm den am besten mal aus deinem Auge! Wissenschaft ist eben nicht das Gleiche wie ausgedachte Märchen. Sonst könntest du alles mit dem Islam begründen. Was genau haben Märchen uns denn außer gesellschaftlichen (meinst schlechten) Veränderungen gebracht? Historisch exakt nichts!«
»Aber das weißt du ja gar nicht! Vielleicht existiert die freie Energie ja!«
»Natürlich, und die Zeitreisemaschine, Beamen und ein Echsenmenschenbordell exakt unter uns. Hör mal, Einsteinin, du siehst die ganze Geschichte vor dir und kein einziges Ereignis, in dem sich eine unwissenschaftliche Verschwörung als wahr heraus gestellt hat. Du nimmst aber an, du weißt es besser. Genau wie Religiöse. Wenn Gott nicht im Wald lebt, lebt er in den Wolken, im Schwarzen Loch. Du meinst, du bist klüger als alle Wissenschaftler und Historiker die leben und je gelebt haben?«
»Naja, so kann man das …«
»Und trotz zweihundert Jahren Homöopathieforschung, in der absolut nichts herausgekommen ist, glaubst du immer noch daran?«
»Es gab Studien zur Wirksamkeit!«
»Ja, die gibt es immer, im Faktor eins zu tausend. Mit lächerlich wenig Probanden, nicht reproduzierbar oder beeinflusst durch Interessen.«
»Jeder hat Interessen!«
»Ja, aber das macht eben ›Peer-Review‹ aus, dass dort viele gegenlesen und nicht nur die ›Akademie für Russische Bäderwissenschaften‹, die bei Homöopathen gerne herangezogen wird! Klar gibt es auch dort Probleme. Es gibt Bots, die schreiben Papers, die angenommen werden.12 Aber es ist besser als im Schlamm zu wühlen, aus Eingeweiden zu lesen oder an das zu glauben, was sich Verwirrte vor Tausenden Jahren aus dem Arsch gezogen haben.«
»Ey, voll sorry, ey, ich wünsche dir echt, dass du jemanden findest, der dich liebt?«, sagt sie und verpisst sich.
»Was war denn das? Ein implizites: Sieh mal, wie geil ich emotional bin, das willst du doch auch? Argumentation auf Blumen- und Bienchenebene?«
Ein paar Veganer laufen auch mit. Anscheinend gibt es jetzt sogar eine vegane Partei.
»Und wieso auch nicht?«, rufe ich ihnen zu. Ich gebe jetzt überall meinen Senf dazu. Die können mich alle. Wenn die Welt mich mit Dummheit zuschreit, schreie ich zurück. Ein Ordner der Demo verfolgt mich. Aber der junge Typ lächelt, er sieht eher wie jemand aus, der im Leben noch was vorhat. Jackett, aber auf dem T-Shirt, keine aufmerksamkeitsheischende Frisur, lockere Gesten.
»Der Direktor der amerikanischen Kardiologiegesellschaft ist Veganer«, sagt er, »und das hat seinen Grund.13 Wussten Sie, dass Veganismus und eine fettlose Ernährung das Einzige ist, was jemals bewiesenermaßen Gefäßerkrankungen, die Todesursache Nummer eins, rückbilden konnte?«14
»Natürlich, Doktor Esselstyns Studien!«
»Genau, der Gesundheitsberater von Bill Clinton!«
»Und was machen die Leute? Sie fressen Fett.«
»Ja, Wahnsinn, nicht? Ketonische Ernährung nennt sich das, habe ich gehört …«
»Ja, und im Grunde genommen heißt das, man prügelt sich Fleisch rein, Butter, Sahne und alles, was man sowieso schon mochte.«
»Eine Verschwörungstheorie!«
»Genau! Ein Grundzug aller Verschwörungstheorien ist, dass sie zufällig genau das gutheißen, was man sowieso schon wollte. Wer will nicht den ganzen Tag nur schlemmen? Schokoladendiät, Burgerdiät, Ich-sitze-meinen-fetten-Arsch-vor-dem-Fernseher-platt-und-sehe-wie-Spasten-von-jetonischen-Diäten-krank-werden-Diät? Keinen Arsch interessiert, dass diese Studien nicht reproduzierbar und meist von den Industrien finanziert sind, die ein Interesse an fortgesetzten Tiermassakern haben. Die Wahrheit darf nicht unangenehm sein. Wer will schon Gemüse fressen? Da macht man sich lieber passiv zum tausendfachen Mörder. Da lässt man lieber die Ozonschicht wegätzen. Da verschließt man lieber felsenfest die Augen vor der kognitiven Dissonanz, die einen Hunde streicheln und Schweine essen lässt.«
»Irgendwann werden die Außerirdischen uns auch fressen. Und wir hätten es verdient!«
»Auf jeden Fall. Aber sag mal, wieso lauft ihr hier mit den komplett Übergeschnappten rum?«
»Naja, man muss abwägen, ob man alle Meinungen tolerieren will, auch wenn Quatsch dabei ist oder nicht. Und wenn nicht, dann endet man ganz schnell als judäische Volksfront …«
»Na, dann gute Reise von der Volksfront von Judäa!«
Entspannend. Es gibt doch nicht nur Idioten. Aber es gibt Verschwörungstheorien, die so psychotisch dumm sind, dass sie schon wieder unterhalten. Die Flat Earther zum Beispiel. Da vorne laufen ein paar Muttersöhnchen, die nur mit Mühe ihre Fettschürze unter den »KNOW THE TRUTH!«-T-Shirts verbergen können. Ihre Pickel sind prall gefüllt, sodass man sich ihnen nur mit Deckung nähern will. Aber heute kann mir keiner.
»Hey, wusstet ihr, dass ›Flat Earther‹ es ins Englische geschafft hat? Für Leute, die die Wissenschaft nicht verstanden haben.«
»Ja, äh, klar, das müssen Sie sagen. Diese Arroganz immer.« Man merkt, ich habe seinen Safe Space schon durch die Frage ramponiert, abgebrannt und die Erde danach versalzen und verflucht. Karthago West Side OG.
»Was ist denn eure Antwort?«
»Ganz einfach. Die Erde ist flach.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich glaube nur, was ich gesehen habe. Und aus dem Flugzeug war nichts zu erkennen. Und auf flatearthradio.com gibt es Interviews dazu!«
»Moleküle gibt es dann also auch nicht? Und ihr seid klüger als alle Wissenschaftler, weil ihr was im Internet gehört habt? Ihr lehnt das ab, was uns menschlich macht: abstraktes Denken. Jedes Tier kann fühlen.«
»Wir sind uns eben nicht sicher! Man muss auch mal Lektionen in Demut nehmen.«
»Achso? Seid ihr euch auch nicht sicher, wie ihr Zähne putzen, Tee kochen oder Fahrrad fahren sollt? Es gibt da ein einfaches Prinzip, das für euch überall gilt, außer bei den größten Fragen: Ursache – Wirkung.«
»Du invadest hier voll unseren Safe Space! Du kannst nicht einfach alles hinterfragen, es gibt auch Grenzen, da wird es persönlich.«
»Was? Habe ich dich etwa kastriert, ohne es zu merken? Wie willst du denn Argumente sonst entkräften? Mir klingt das eher nach: Je schwächer die Position wird, desto mehr wird ein Kuschelkurs gefordert. Wenn euch ein Argument nicht gefällt, dann ist es zu ›böse‹, ›persönlich‹, ›nicht politisch korrekt‹? Wie wäre es, statt rumzuheulen, Argumenten mit Argumenten zu begegnen? Was ist denn das für eine Diskussionskultur? Was machst du denn, wenn Nazis sich darauf berufen?«
»Die wohnen auf der dunklen Mondseite!«
Bevor ich etwas sagen kann, schiebt mich ein Ordner weg.
»Hören Sie, es ist ja schön, dass Sie hier den Altersdurchschnitt heben, aber das hier ist ein Friedensmarsch. Also bleiben Sie bitte friedlich.«
»Das hat die DDR auch gesagt! Und wo war ich nicht friedlich? Ist Rationalität jetzt schon Körperverletzung?«
Er verschwindet in der Menge, meine Lieblingsdickis auch. Dafür kommt die Heilpraktikerin wieder.
»Ich habe jetzt mal gegoogelt, es gab voll wahre Verschwörungstheorien! JFK wurde erschossen!«
»Ja, das stimmt. Aber das ist eine soziale Theorie, keine wissenschaftliche. Soziale Verschwörungen sind zum Beispiel Reptiloiden, Bilderberger oder die Judenverschwörung. Wissenschaftliche sind, völlig aus dem Zusammenhang, Chemtrail- und Orgonverschwörungen, Germanische Neue Medizin, Pyramiden oder Geisterheilung. Die Gefährlichen sind die, die gute Ideen vergiften. Und Idioten haben Verschwörungstheorien wie Ratten Orgasmen.«
»Keinen Sexismus, ja!?«
»Stimmt, die Rhetorikgestapo könnte uns sonst ins Syntaxauschwitz bringen!«
Da bleibt ihr der Mund offen stehen, wie der brüskierten Sisi. Die hätte sich daraufhin erst einmal einen Koksschuss setzen müssen.15
»Du kannst doch nicht solche Worte benutzen! Das ist voll außerhalb des akzeptablen Diskurses!«
»Ach, und wer bestimmt, was akzeptabel ist? Du? Der V. Parteitag der SED von Walter Ulbricht? Ist dir mal in den Kopf gekommen, dass du mit Tabus nur verlieren kannst?«
»Das ist kein Tabu! Das ist einfach eine Art zu diskutieren, bei der man zu Ergebnissen kommt!«
»Wer sagt das? Definiert mir mal Tabu, sodass es nicht ›ungeschriebenes Verbot‹ bedeutet.«
»Na …«
»Dachte ich mir. Ist es, wenn man Gedanken verbietet, denn wirklich das beste Ergebnis? Hat ja super geklappt mit der Demokratie in der DDR. Mit dem Christentum im alten Rom. Mit dem Rassismus bei der Wahl Trumps. Immer, wenn du etwas totschweigst, wird es stärker. Umgekehrt ebenso: Nirgends war die Veganerkampagne erfolgreicher als in Israel, als Fleischkonsum, unter anderem von Überlebenden, als ›Holocaust‹ bezeichnet wurde. Ein Wort, das zumindest im Ernährungskontext tabuisiert war, hat das Argument auf den Punkt gebracht und entschieden. Heute sind fünf Prozent der Israelis Veganer oder Vegetarier.«16
»Aber du musst auf die Gefühle der Menschen Rücksicht nehmen!«
»Was hat das damit zu tun? Wenn du bei Argumenten weinen musst, dann solltest du nicht denken, sondern kochen. Wer Unlogik oder Tabus braucht, um seine Identität aufrecht zu halten, hat keinen Charakter, sondern eine Charakterfassade.«
»Guck, du machst es wieder. Das hättest du viel netter sagen können.«
»Hättest können, ja. Muss ich aber nicht. Wir sind hier nicht im Kindergarten oder beim Kniggeworkshop. Dein ›könntest‹ bedeutet ›sollst‹. Es ist eine Diktatur der Komfortzone. Auch wenn dir das deine Pädagogeneltern so beigebracht haben: Du hast kein Recht, Zucker in den Arsch geblasen zu bekommen, wenn du Scheiße redest. Wer Scheiße redet, ist scheiße, so einfach ist das. Weißt du, was das wirkliche Problem ist?«
»Nee, weißt du, was ich jetzt brauche, ist die volle Packung Mansplaining.«
»Man… was?«
»Mansplaining. Männer erklären dir, wie es läuft.«
»Was ist denn das für ein kreuzbescheuertes Konzept? Anstatt das Argument anzugreifen, wird der Sprecher angegriffen. Wäre alles, was ich gesagt habe, wahrer, wenn ich ein behinderter, schwarzer Transsexueller wäre?«
»Benachteiligter!!!«
»Ich kotze. Dein Problem ist, dass Verschwörungstheorien oder rhetorische Absurditäten, wie dein Safe-Space-Tabu-Spielchen, deine Identität sind. Jedes Mal, wenn ein Gegenargument kommt, fühlst du dich angegriffen. Im Grunde kann man dich nicht argumentativ besiegen. Du bist zu konservativ.«
»Ich? So ein Quatsch! Sehe ich aus wie Horst Seehofer?«
»Genau, weil nur alte, weiße Männer konservativ sind?«
»Zumindest die meisten.«
»Kein Wunder, es ist ja auch zu ihrem Vorteil. Aber nicht zu deinem. Weißt du, was die einzige Möglichkeit ist, Verschwörer wie dich umzustimmen?«
»Ihnen recht geben?«
»Eher stranguliere ich mich am Gürtel während des Wichsens, wie der britische konservative Parlamentarier Stephen Milligan. Nein, Psychologen sagen, man muss euer Umfeld verändern. Verschwörungstheorien sind ansteckend. Rationalität auch. Ihr seid Herdentiere, die geistige Zugehörigkeit suchen. Wenn ihr die bei normal Denkenden bekommt, braucht ihr eure Illusionen nicht mehr.«
»Das ist voll bevormundend!«
»Und das projiziert. Du bevormundest dich selbst durch deine Safe Spaces und Verschwörungstheorien.«
»Unterdrückung ist das!«
»Du hast was gegen Unterdrückung? Die gefährlichsten Verschwörungstheorien sind die, die Nazis und Linksprogressive auf einmal eine Überschneidungsmenge haben lassen. Zu den wenigen Verschwörungstheorien, die bewiesen wurden, zählt, dass das FBI in den Fünfzigerjahren gezielt antisemitische Elemente in Verschwörungstheorien einbaute, die auf wahre Ereignisse hindeuten. Meistens antisemitisches Kompromat, das den wahren Kern vergiftete. So ist es in dieser Zeit mit der Homöopathie, dem Fleischfressen oder dem Märchen vom bösen Hacker. Mit der Homöopathie werden fünftausend Jahre Medizin diskreditiert, weil sie unkenntlich neben wirklichen Arzneimitteln in der Apotheke steht. Mit dem Fleischfressen wird die moralische Integrität einer Gesellschaft, die sich mit Menschenrechten und Demokratie brüstet, in den Dreck gezogen. Es gibt ganz einfach kein Alleinstellungsmerkmal, das befunden würde, wie so ein Menschenleben wertvoller ist als ein Tierleben. Und die bösen Hacker-Raubkopierer-Kinderschänder sind genau die Leute, die den technischen Fortschritt möglich machen. Nicht Kinderficken als technischen Fortschritt jetzt. Sondern das, was Raubkopieren genannt wird. Die machen das, wofür das Internet da ist: Wissen zu fast keinen Grenzkosten zu verteilen.«
»Aber die Künstler müssen auch von was leben!«
»Ja, das haben sie vorher auch. Und überhaupt, ist Kunst nur im Kapitalismus denkbar? Schade für Shakespeare, Vladimir Tendryakov und Berthold Brecht. Was wäre mit einem Grundeinkommen, dann machen endlich nur die Kunst, die es wirklich wollen und uns bleibt der ganze Scheißpop erspart. Jetzt dominieren monopolistische Verwertungsbetriebe, die selbst keinen Mehrwert beisteuern, aber über neunzig Prozent des Gewinns von Künstlern einfahren. Die sind wie Monarchen: Braucht keiner. Die sind sauer, wenn du runterlädst. Das Ironische ist: Selbst Filesharer, die Raubkopierer auf Steroiden (und wir alle), schaden der Industrie nicht mal. Es ist nichts als ein Repressionsinstrument. Die Studie darüber hat die EU seit 2014 im Schrank verfaulen lassen. Das ist keine Verschwörungstheorie, das kann man recherchieren.17 Und man braucht dazu weder die Judenverschwörung, noch die hundertste Potenz von ›Gemeiner Küchenschabe‹ zu bemühen.«
»Gut, das stimmt. Mein Mitbewohner hat ein Anschreiben von einer Kanzlei bekommen, weil sich irgendwer in sein WLAN gehackt hat! Die machen das als Geschäftsmodell. Wie in den USA, die nichts mehr produzieren, nur noch ›geistiges Eigentum‹ und dann andere darauf verklagen.«
»Siehst du? Sie werden sauer sein, so, wie auch die Sklavenhalter sauer waren, als Sklaverei abgeschafft wurde, oder die Henker, als es keine Todesstrafe mehr gab. Die Hackertheorie ist eine Verschwörungstheorie von oben, weil sich Menschen durch Angst leichter regieren lassen. Aber das Erzählende verselbstständigt sich. Wenn man den Menschen beibringt, dass es keine Beweise- oder schon gar eine Ursache-Wirkung-Relation für eine Theorie geben muss, erspinnen sie ihre eigenen Begründungen. Auf einmal vergewaltigen dann haufenweise Migranten Mädchen, die es nicht gibt.18 Auf einmal erzeugen Windräder Infraschall, der unbemerkt von denen das Gehirn püriert.19 Auf einmal sind Solarzellen ganz schlimmer Giftmüll, der die Umwelt mehr belastet, als ihre saubere Energie sie entlastet.«20
»Aber ich bin doch kein Nazi!«
»Sicher glaubst du das. Aber strukturell schon. Sogar Islamist.«
»ISLAMIST?«
»Islamistin, entschuldige. Denen ist allen gemeinsam, dass sie Fundamentalisten sind: Sie nehmen etwas als Fundament für ihr Denken an, das nicht begründet ist. Bei Nazis das Rassenkonzept, bei Islamisten Gott, bei Heilpraktikern die Smile-or-Die-Lehre.«
»Aber das macht die Wissenschaft doch auch!«
»Ja, aber die nimmt die beweisbare Realität, das ist ein Unterschied.«
»Aber die Realität könnte auch ein Traum sein!«
»Ist sie wahrscheinlich auch. Es könnte so viele alternative mögliche Universen geben, dass unseres nur mit an Null grenzender Wahrscheinlichkeit das echte wäre. Aber das ist nicht der Punkt. Selbst wenn wir nur Gehirne im Simulatortank wären, könnten wir dessen nie bewusst werden. Brain-in-a-Vat-Hypothese, Herzchen. Debunked, um es in deiner Sprache zu sagen, auch ganz elegant das postmoderne Dekonstruktionsrumgenerve. Relevant ist nur, was in der Realitätsillusion existiert.«
»Verstehe ich nicht.«
»Überraschend. In einer Zeit, in der man im Internet für jede noch so schwachsinnige These einen Fan finden kann, verselbstständigt sich die Unfähigkeit zu denken. Darauf kann alles eingekocht werden. Beweise, Ursache, Wirkung, keine logischen Fehlschlüsse. Ganz einfache Denkmuster, die aber bis jetzt nicht beigebracht werden.«
»Du bist nicht sehr nett.«
»Ja, Sherlock, ich bin auch kein Waldorfschullehrer. Eure ganze weinerliche Einstellung, dass Wissen mit Seifenblasen geflogen kommen muss, ist der erste Schritt zur Verdummung. Statt Logik soll jetzt Wirtschaft an der Schule gelehrt werden, damit man, wenn man schon in einem unlogischen System lebt, die Unlogik wenigstens perfekt beherrscht.«
»Meinst du BWL?«
»Genau, wird doch. Die große Irrationalität scheint ein letztes Aufbäumen einer falsch verstandener Menschlichkeit zu sein. Das Erste, was die Opfer von Verschwörungstheorien anbringen, ist, dass wir doch keine Maschinen sind.«
»Und das stimmt, wir haben Emotionen!«
»Wird deswegen eben die Welt von der Judenverschwörung regiert? Oder kuriert Hundescheiße bei den ›Leitsymptomen‹ Folgen von Besetzung durch Eltern oder Kinder oder Partner, Folgen von zu viel mit Alkohol und Rauchen, Schokoladeverlangen, Depression durch Arbeitsplatzverlust, Niesen, Augentränen, Heuschnupfen und geistige Benommenheit? Ein Mittel, das gegen Tod und Kater wirkt?«
»Nein …«
»Siehst du? Emotion ist nicht gleich ein Freibrief für Schwachsinn. Gelb als Farbe schön zu finden ist eine Emotion, zu behaupten, alle Simpsons seien gelb, eine Idiotie. Es gibt ja schließlich Apu Nahasapeemapetilon. Verschwörungstheoretiker sind emotionale Terroristen.«
»Aber was bleibt dann noch?«
»Viele Menschen scheinen Angst zu haben, dass sie zu unwichtig werden. Und sie haben recht. Du bist nichts. Kein Arsch interessiert sich für dich, außer wenn du ausbeutbar bist. Und das bist du immer weniger. Deine Grenzkosten steigen. Die Weltwirtschaft spekuliert mittlerweile nur noch mit unnahbaren Zahlen, niemand braucht den Bäckermeister oder den Klempner noch.«
»Zumindest niemand, der Geld machen will!«
»Meine Güte, du gehst ja ab, richtig! Und die meisten Menschen, so hart es klingt, gehören auf das Abstellgleis.«
»Nee, also das geht gar nicht …«
»Auf ein gut mit Grundeinkommen abgesichertes Abstellgleis, wo sie das machen können, wozu sie eigentlich arbeiten: Leben.«
»Achso. Dann doch.«
»Die Menschen haben Angst, dass die Computer alles besser können. Und es stimmt. Egal, ob sich den Kalendereintrag merken, unser Auto fahren …«
»Aber die Kunst bleibt menschlich!«
»Quatsch, Bots können schon lange malen, sodass man den Unterschied zu großen Meistern nicht mehr erkennt (wenn man den je von Kopien unterscheiden konnte), Romane schreiben oder eine Symphonie in c-Moll komponieren.21 Für die Generation YouTube: Sieh dir mal ›Humans need not apply‹ an.«
Sie holt ihr Handy raus.
»Nicht jetzt! Und ja, das kann unheimlich sein. Wer weiß, was kommt? Werden die Computer, wenn die künstliche Intelligenz übernimmt, so nett sein, wie wir zu den Tieren bis jetzt? Dann wäre Selbstmord komfortabler. Wir können nur hoffen, dass sie uns in einen schönen Zoo stecken und nicht in die Wurstfabrik. Oder macht Demokratie noch Sinn, wenn die besseren Entscheidungen schon lange von Algorithmen getroffen werden? Wären wir nicht in einer Diktatur der Algorithmen besser dran? Das alles kann man diskutieren, was man aber nicht kann, ist es wegirrationalisieren.«
»Jetzt bist du der Nazi!«
»Was? Wieso macht Fragen stellen denn jetzt Faschismus? Irrationalismus und Verschwörungstheorien zu folgen ist das Gleiche, wie auf der sinkenden Titanic noch Geige spielen lernen zu wollen. Dein Aberglaube und krampfhaft positives Denken wird dich nicht retten. Selbst wenn die Erde flach wäre, wärst du immer noch unwichtig. Selbst wenn Homöopathie helfen würde, würdest du eben nicht mit sechzig an Krebs sterben, weil du nur Zucker und Fett frisst, sondern mit achtzig. Weil Milliarden Menschen so denken wie du und ihr die Algorithmen noch nicht darauf angesetzt habt, den Tod zu bekämpfen. Du bist keine Schneeflocke, nur weil du Schwachsinn erzählst. Jeder kann das. Menschen haben das über Jahrtausende getan, es nennt sich Christentum, Feudalismus, chinesisch übersetzte Gebrauchsanweisungen für Videorekorder, mit ganz viel ›Rundkugeln‹ und ›Kirschblüten‹. Sieh dir an, was daraus geworden ist. Ich war dabei, es war keine schöne Zeit. Schon immer galt, dass das einzig Beständige in der Geschichte der Wandel ist. Und wer sich nicht wandelt, geht unter. Vor allem nervst du die Leute, die versuchen, sich von der Titanic zu retten. Du quietschst mit der Geige herum, anstatt es denen zu überlassen, die es wirklich können. Romanautoren, Regisseuren oder Kindergärtnern.«
»Aber was ist mit der Fantasie?«
»Wenn du meinst, Fantasie zu haben, dann mach Kunst. Behaupte nicht, irgendeine verschwörungstheoretische Wahrheit gefunden zu haben. Wenn dir Unterhaltung oder Schönheit nicht genug ist, sind deine Ansprüche an Fantasie vielleicht zu hoch. Ich habe über Jahrtausende gesehen, wie Menschen an Idiotie gestorben sind. Aber im Mittelalter hattest du auch nicht viel Auswahl. Dein ganzes Leben spielte sich in einem Umkreis von dreißig Kilometern ab, du konntest nicht lesen und hattest Glück, wenn du nicht von deinen Verwandten oder dem Priester so windelweich gevögelt wurdest, dass dir das Gehirn zu den Ohren herauslief. Aber heute hat jeder die Möglichkeit, Unsinn sofort zu überprüfen.«
»Aber das Internet vereinsamt uns doch voll. Stichwort: Echokammer.«
»Schön, das hast du wahrscheinlich im Focus gelesen? Was noch, das Internet ist ein modernes Höhlengleichnis? Im Gegensatz zu der vulgärkonservativen Meinung ist das Internet keine Echokammer. Studien zeigen, dass man dort um einiges wahrscheinlicher mit anderen Meinungen als der eigenen konfrontiert wird.22 Kurz, das Internet macht dich klüger. Es kann dich klüger machen. Es sei denn, du spielst nur Minecraft und hängst auf Chemtrail-Foren ab.«
»Was?« Sie schaut vom Handy auf. »Sorry, ich muss das hier gerade machen, ganz kurz.«
Eine Minute vergeht. Zwei. Drei.
»Sorry, bin gleich fertig.«
Noch drei Minuten vergehen. Ich höre das konstante Eingehen der Nachrichten, laut und mit voreingestellten Klingeltönen, den Ritterschlag der zukünftigen Nobelpreisträger. So kann man Probleme natürlich auch aussitzen.
»Gratulation zu deinen Prioritäten.«
»Boah, weißt du was, du redest immer!«
»Sollten wir eine WhatsApp-Gruppe gründen?«
»Du widersprichst immer!«
»Was soll ich denn darauf antworten können?«
»Du hinterfragst immer alles!«
»Und das ist schlecht? Das ist das Gegenteil von glauben.«
»An irgendwas musst du doch glauben!«
»Was?«
Sie zuckt nicht mit der Wimper.
»Da machst du eine ontologische Frage zu einer ethischen.«
Sie zuckt mit der Wimper, sagt aber nichts.
»Was hat eine Frage danach, wie die Welt beschaffen ist, mit dem zu tun, was man tun soll? Ob es Moral aufgrund von Fakten geben kann? Soll ich mich, weil ich weiß, dass es schwarze Löcher gibt, mit Foie Gras einreiben? Wo besteht denn da der Zusammenhang? Ich sage nur, dass, weil wir keine andere Welt haben, wir mit ihr arbeiten sollten, statt mit Märchen.«
»An irgendwas musst du doch glauben! So ganz tief in dir drin, du musst doch Hoffnung haben.«
»Ach du meine Güte, wo bleiben die Streicher? Nein, muss ich nicht. Um die zehn Prozent der Bevölkerung sind Atheisten, das sind fünfhundert bis siebenhundertfünfzig Millionen Menschen. Und mindestens eine chinesische Großstadt besteht sicher aus Nihilisten. Haben die eine niedrigere Lebenserwartung? Im Gegenteil.23 Aber es sagt mehr über dich aus, wenn du mir das vorwirfst. Du hast ganz einfach nicht die Chuzpe, eine Welt ohne Ersatzgötter auszuhalten.«
»Ersatzgötter?«
»Homöopathie, Flat-Earther, Verschwörungstheorien. Du willst unbewusst nur, dass die Welt nicht mehr so schrecklich kompliziert ist. Das ist menschlich. Wir alle wollen kategorisieren. Aber dabei von Fakten zu Märchen zu schlittern, ist idiotisch.«
»Ihr immer mit euren Kategorien! Die Welt ist bunt und divers und das ist auch gut so! Das könnt ihr einfach nicht ab!«
»Wo ist denn das ein Gegensatz? Für jede Unter- und Entscheidung brauchst du eine Kategorie. Falsch oder richtig geschrieben bei deinem Hasspamphlet. Nuklearer Holocaust oder Gewitter für den Spaziergang. Käselust oder keine Käselust für die Stulle …
Du bist doch voll auf Käsomorphin!« Da ist er wieder, der Veganer.
»Was?«, fragt sie.
»Ein Morphin im Käse, dass durch deine Blut-Hirn-Schranke geht, dich schlapp und stullig werden lässt und dir Käse-Cold-Turkey nachschiebt!«24
»Allerdings«, sage ich. »Und was soll bitte ›ihr‹ sein? Menschen? Rationale?«
»Männer!«
»Au weia!« Der Veganer muss ganz dringend ganz weit weg. »Was? Wieso?«, frage ich und bereue es eine Nanosekunde später.
»Es ist typisch männlich, die Welt einzuteilen. Teile und herrsche.«
»So ein Blödsinn! Kategorisieren ist eine menschliche Eigenschaft! Vielleicht ist sie mehr männlich konnotiert, weil unsere Gesellschaft sich dahin pervertiert hat, aber sind deswegen Kochen, Putzen und Tratschen exklusiv weiblich und damit gut?«
»Nicht direkt. Aber die Frauen verdienen doch einundzwanzig Prozent weniger?«
»Schmarrn. Der Gender-Pay-Gap existiert, aber auch wenn die SPD bei ihrer Untergangswahl die falschen einundzwanzig Prozent auf ihrem Plakat abgedruckt hat, sind es in Wahrheit sechs Prozent.«25
»Kann ja jeder sagen.«
»Kann auch jeder erklären. Das kommt einfach, weil vorher die unterschiedlichen Berufe außer Acht gelassen wurden. Eine Bankerin verdient genau so viel wie ein Banker, nur werden Männer öfter Banker und Frauen öfter Sozialarbeiterinnen. Der Unterschied in der Bezahlung ist vor allem einer der Berufswahl.«
»Echt? Das muss ich googeln …«
»Das steht sogar auf dem gottverdammten BUZZFEED!«
»Du liest Buzzfeed?«
»Die machen es richtig, ein guter Artikel und einhundert mal totaler Schwachsinn, der aber wenigstens unterhaltsam und ohne Wahrheitsanspruch ist.«
»Feminismus ist trotzdem voll wichtig.«
»Wem nützt das, solche Unterscheidungen hervorzuzaubern? Das nennt man ›falsche Fährte‹ oder ›What-about-ismus‹ und es ist ein mentaler Fehlschluss. Man lenkt vom Thema ab. Feminismus ist schön und gut, wenn er produktiv ist und Frauen aus dem Mittelalter befreit. Aber wer hat etwas davon, wenn die Gesellschaft gespalten ist? Wäre es besser, wenn Frauen auch ruchlose Manager werden? Auftragsmörder? AfD wählen?«
»Nee …«
»Das ist wieder so ein Spin-off von: Du musst doch etwas glauben. Wissenschaft und Technik sind böse und hart, so mit Zahlen und so. Reden ist viel einfacher, nicht wahr? Jede Verschwörungstheorie ist eine Abwandlung von dem, was Dramatheoretiker von Ronald B. Tobias über Blake Snyder bis Christopher Booker als Urhandlung ansehen: das Gilgamesch-Epos.26 Hattest du das in Geschichte?«
»Ich hab Genderstudies belegt.«
»Gratulation. Es ist die gleiche Geschichte wie Beowulf oder David gegen Goliath. Ein böser Feind kommt in die Idylle, der Underdog nimmt den aussichtslosen Kampf auf und bezwingt ihn mit einem unvorhergesehenen Kniff. Dem Kiesel des David.«
»Empowerment!«
»Genau. Wir lieben diese Geschichte. Wir lieben auch den Underdog und den Bösen, der in der Realität nicht in Reinform vorkommt. Aber das Leben ist kein strukturiertes Drama. Es ist brachialer Zufall. Und unser Kategorisierungszwang erzeugt Verschwörungen, um damit klarzukommen. Der rechte Radiomoderator Alex Jones …«
»Das Schwein!«
»Das auch. Der sagte, ›wenn du so was wie Captain America siehst, dann ist es fast, als hätte ich das mitgeschrieben!‹ Er erkennt nicht, dass die Realität keine Erzählung ist.27 Wahrscheinlicher ist, er ignoriert es, weil er Dammpflaster verkaufen will. Für ihn ist das ein Geschäft.28 Dennoch: das Menschliche, das Einzige, was wir noch einige Zeit den Computern voraus haben werden, in der Kombination von Geschichten und Fakten.«
»Nein.«
»Was nein?«
»Einfach nein. Sag ich jetzt einfach so. Du solltest mal zum Yoga, um deine inneren Spannungen loszuwerden.«
»Was? Was ist denn das wieder für ein esoterischer Bullshit? Yoga ist nichts weiter als eine Erfindung von Turnvater Jahn und einem indischen Anwalt vor hundert Jahren!«29
Ich sehe, wie ihre Flickentruppe mich umringt, aber das ist mir egal. Ich trinke, wenn es sein muss, auch den Schierlingsbecher.
»Das kannst du so nicht sagen, das ist rassistisch.«
»Wieso sollte das rassistisch sein? Sind unpassende Tatsachen jetzt politisch? Was ist das für ein verqueres Tabudenken?«
»Ordner! Hier ist ein Rassist!«, ruft jemand. Bevor ich mich umdrehen kann, packen mich zwei Armpaare in neongelben Jacken von hinten. Die Demokraturkrake.
»So, jetzt reicht’s!«, sagt einer.
»Mit Meinungsfreiheit?«, frage ich. Aber sie schleppen mich schon weg.
Ich werde unter eine fette Linde gesetzt, anscheinend der richtige Ort für Dissens. Gut eigentlich, ich hasse Laufen. Das ist was für arrogante Opfer, wie Achilles. Ob die Menschen in dieser Zeit erfahren werden, wie man Zellen verjüngt? Oder soll ich noch fünfhundert Jahre warten? Fünfhundert Jahre mehr Schwachsinn? Soll ich mich jetzt schlecht fühlen, weil ich es ihnen nicht verraten habe?
Andererseits, will ich mit solchen Vollidioten wirklich meine Zukunft verbringen? Oder werden die Vollidioten der Zukunft noch schlimmer? Die Menschen hassen Unsterblichkeit. Aber sie können sie nicht halb soviel hassen, wie es ihr scheißegal ist. Was sie meistens vergessen ist, dass Unsterblichkeit keine Notwendigkeit ist, sondern eine Möglichkeit. Ein Taxi rauscht vorbei. Ich könnte mich davor werfen. Ein »Kehrpaket« der Straßenreinigung fährt der Demo hinterher und dann beginnt wieder der Krieg des Verkehrs. Die Wirtschaft rollt weiter. Sinn ergibt sie auch nicht, aber wenn ihre Opposition sich mit Verschwörungstheorien selbst zerlegt, kann sie noch Jahrzehnte weiter marodieren. Wenn es in der Welt sonst nichts Schönes mehr gibt, dann doch den Gedanken an Selbstmord. Schade nur, dass das hier verboten ist. Die da oben wollen es anscheinend so.