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Selbstwirksamkeit: AfD

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Ich gehe den Müllsammlern hinterher. Mache ich nicht das Gleiche? Sammle ich den mentalen Müll der anderen?

»Wat los, Kolleje, wieso ziehste sone Flunsch?«

Einer hat mich bemerkt. »Viel Glück und viel Fegen« steht auf seinem orangefarbenen T-Shirt. Es erinnert mich an das siebente Gebot des V. Parteitags des Staatssekretärs Walter Ulbricht in Berlin: »Du SOLLST stets nach Verbesserung deiner Leistungen streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festlegen.«30 Arbeit war damals wie heute Freiheit. Aber heute wird wenigstens Lustigkeit mit Steuergeldern finanziert. Entmannt ihn hinreichend, verzweifelt stülpt sich seine Goldkette aus dem Kragen. Aufgedunsenes Gesicht, die Augenschlitze wie eine chinesische Großmutter, grobe Finger, die das ganze Leben als Schaufelimitate missbraucht wurden.

»Menschen eben.«

»Die da voone, wa? Ja, det isn Pack. Deswejen wähl ick AfD. Damit sich ma wat ändert.«

»Sind Sie ein Nazi?«

»Wat, ick?« Er sieht sich theatralisch um. Gesten, die über Jahrzehnte an klebrigen Theken einstudiert sind und sich zu einer Charakterpampe verfestigt haben. »Nee, ick doch nich. So wat sacht man ooch nich. Dit verletzt meen …«

»Safe Space?«

»Jenau! Dit is nur Protest, damit sich ma wat ändern tut. Ick fadiehn hia kaum jenuch zum Leben und meene Miete is viermal mehr als zu Ostzeiten. In Westmark … zehnmal? Und in Ostmark noch viel mehr!«

»Und du wählst AfD, damit die Armen noch ärmer werden?«

»Wat, wieso?«

»Steht im Parteiprogramm.«31

»Ach, det gloobe ick nich.«

»Na, dann ist ja gut. Hitler wollte bestimmt auch nur das Beste.«

»Der is faalsch fastandn wordn. Eijntlich wa dea n Linka, hört ma ja schon an NationalSOZIAList. Immerhin hat der ma wat jemacht!«

»So kann man es auch sehen. Töten ist machen.«

»Ach, Quatsch, det is doch alles jelojen. Und det faletzt außadem wiedo meen sefspeß. Ick bin ja nich so mit die Internet, aber es jibt da Videos von die fehlende Blausäure, dit kann ja keene Vagasung jewesen sein. Und wenn waren et da ooch nich sechs Millionen Tote, sondan nur sechzichtausend.«

»Der fingierte Leuchter-Report? Das lässt sich alles relativ einfach mit dreimal Googlen entkräften.32 Einfach die Verschwörungstheorie.«

»Is det nich! Dit daaf man nich sagn!«

»Gut, die These eingeben und ›Psiram‹ dahinter. Das ist das frühere Esowatch.«

»Wenn alle so denken würden, wie wäre et bald zu Ende mit uns …«

»Wer ist denn uns? Die Arier? Ich bin Grieche.«

»Ah so? Sieht man ja nich.«

»Ich bin schon eine Weile ausgewandert. Seitdem das Attika an seiner Arroganz und seinem Ressourcenverbrauch zugrunde ging … Würde euch sicher nie passieren.«33

»Ah. Na, ick meen wir Deutschen.«

»Ach, und wer ist deutsch? Bin ich deutsch, wenn meine Mutter hier geboren ist, mein Vater aber nicht? Wenn ich aus Ostpreußen komme, aber fünfzig Jahre in Polen gelebt habe? Und kein Deutsch mehr kann? Wenn meine Familie seit drei Generationen hier ist, ich aber schwarz bin? Wenn ich ein ›linksgrünversiffter‹ Antideutscher bin und in einem besetzten Haus wohne?«

»Wer Doitschland nich liebt, soll Doitschland falassn! Und wa nich Doitsch kann, kann keen Doitscha sain!«

Kurzes Schweigen. Keine Einsicht. Längeres Schweigen. Ich knacke meine Finger. Er fegt.

»Verschwörungstheorien sind der Ausdruck einer Zeit, in der sich der Verstand mit Grausen abwendet. Einer Zeit, in der es durch das Internet mehr Informationen gibt, als unser auf Überleben in der Steppe getrimmtes Gehirn aufnehmen kann.«

»Als ick oofjewachsen bin, da jab et nur zwei Fernsehkanäle. Und aina davon wa vabooten!«

»Besonders als das Gehirn von Leuten aufnehmen kann, die noch zwei Fernsehkanäle, zwei Weltmächte und zwei Geschlechter gewohnt sind.«

»Oh nee, die mit die Transen und so, det jeht ja ja nich …So sterben wa aus.«

»Verschwörungstheorien sind der Ausdruck eines … deines verzweifelten Hasses, weil einen keiner beachtet. Weil man nicht mehr selbstwirksam ist. Egal ob tausend Twitter-Klicks, tausend Goldketten oder tausend Bier am Stammtisch. Die Welt dreht sich weiter und du bist ihr egal. Deine einzige Möglichkeit ist, im Einkaufszentrum tausend Tote mit der Uzi zu hinterlassen. Aber dafür hast du nicht den Arsch in der Hose. Und deswegen erzählst du lieber moderne Märchen.«

»Wat? Nee, ick bin doch keen Unmensch. Ick sach doch, ick bin keen Nazi, aber …«

»Reicht schon danke. Weißt du, mein Mitleid mit euch Verschwörungstheoretikern ist gelinde gesagt stark strapaziert. Ihr hinterlasst mental nichts als verbrannte Erde. Ihr geht unter und wollt, dass alle mit ihnen untergehen. Genau deswegen kann ich das Geheimnis der Unsterblichkeit noch nicht verraten. Ihr seid FUBAR: Fucked Up Everything Beyond All Repair. Und das ist an einem guten Tag.«

»Unsteablichkeit? Man is noch nicht jestorben, solange sich wer an dich erinnert!«

»Nach der gleichen Logik leben Jesus, Schneewittchen und der Attentäter von Columbine auch noch. Leben ist die aktive Bewusstseinsillusion, nichts anderes.«

»Na, und wie looft et in dea Zukunft?« Er findet sich lustig.

»Wie soll ich das wissen, ich war ja noch nicht da.«

»Und janz früher?«

»Beschissen. Wer hat schon Lust, an einem Splitter zu verrecken oder Zähne ohne Betäubung gezogen zu bekommen? Außer Hippiekriten natürlich. Aber ich schätze mal, wir werden in der Zukunft biologische Verjüngungskur für das Gehirn haben oder es gleich hochladen und optimieren. Aber bis es soweit ist, will ich meine Zeit nicht mit euch verbringen. So traurig es ist, Fortschritt kam bisher nur durch den Tod von Idioten in Machtpositionen. Nur so treten Diktatoren, Könige und Bundeskanzler ab.«

»Die Volksfarräterin!«

»Alter ist das Einzige, was man nicht mit der erlaubten Korruption namens Lobby und der erlaubten Propaganda namens Werbung wegwurschteln kann.«

»Die Judenmafia!«

»Vorsicht! Sonst holt die dich gleich ab!«

Er blickt sich nervös um.

»Alter ist auch der Motor für Verschwörungstheorien. Mit über fünfzig verkalkt das Gehirn nicht nur, es ist auch einer Folge aus kleinen Schlaganfällen ausgesetzt, besonders wenn man Fleisch und Zucker in sich rein stopft.«34

»Dit mit die Ahnärunk ändert sich doch alle paar Jahre!«

»Ja, wenn man glaubt, was die Boulevardzeitungen und GMX versprühen. Wissenschaftler studieren aber zum Beispiel Veganismus seit über hundert Jahren und da verfestigen sich die Ergebnisse seit Langem. Es passt den Leuten eben nur nicht, Vollkorn und Gemüse zu essen. Jede noch so wahnsinnige Theorie nehmen sie mit Kusshand an, nur um weiter Dreck fressen zu können.«

»Aber et schmeckt auch bessa!«

»Alles eine Sache der Gewöhnung. Iss mal drei Monate kein Fleisch, danach merkst du, dass das Leiche ist. Und dass Wildtiere zum Bewundern, Haustiere zum Streicheln und Nutztiere zum Töten da sind, kommt dir dann so absurd vor, wie es ist. Du siehst die geometrischen Formen im Supermarkt, dann als das, was sie sind: Leichenteile.«

»Dit sagt man doch so nich.«

»Genau, weil es ein Tabu ist. Weil töten und genießen schwer zusammengeht. Weil Tiere bei den meisten nur knapp über Negern stehen.«

»Auf jeden Fall Doitschland zuerst! Man muss ja nich alle töten, ick bin ja keen Unmensch. Aber Doitsche sollten schon mea Kinda kriegn.«

»Apropos Kinder: Die, die keine Süßigkeiten im Haus hatten, haben später kein Verlangen danach.«

»Aber dit is doch in den Jenen, Kinda mögn ebn Süßes.«

»Kinder in Thailand essen auch Heuschrecken gerne. Ist das bei denen in den Genen?«

»Weeß ick nich …«

»Und außerdem werden Kinder ohne Zucker und Fleisch nicht so schnell alt – auch im Kopf. Das wirkliche Problem ist, dass Altern bei uns zwangsweise Verdummen heißt.«

»Ick bin noch superfit!«

»Wie alt bist du … fünfzig?«

Damit bin ich noch schmeichelhaft. Aus seiner zerfurchten Haut triefen Talgrinnsale. Die Tränensäcke sind prall gefüllt von Dekaden Pegelsaufen. Seine Hautfarbe ist so gespenstisch, dass selbst die schwarze Tonne neben ihm wie Ricky Martin daherkommt.

»Zweiundvierzig.«

»Ah. Naja, es ist kein Wunder, dass auf Chemtrail-Demos und Messen für alternative Heilung grau die Haarfarbe der Wahl ist.«

»Und bei AfD-Parteiversammlungen!«

»Da besonders. Die meisten – gefühlten – Rentner verhalten sich so, als würde Grau sich nicht darum kümmern, ob du lebst oder stirbst. Als würden sie ein letztes Mal einen Gedanken ausbrüten, aus dem ein Kind schlüpft, dass sie ›Hoffnung‹ nennen und dann töten. Vorbei ist die Zeit, als alte Leute das Rückgrat der Gesellschaft waren. Jetzt sind sie deren Geißel. Zumindest die neunzig Prozent, die sich aufgegeben haben. Die jetzt nichts anderes möchten, als das alles so bleibt, wie es ist. Und verschwörungstheoretische Märchen beschwören, damit es so bleibt.«

»Aber früher war et ja bessa!«

»Welches Früher? Das von Hänsel und Gretel, des neuen sozialistischen Menschen oder der blühenden Landschaften?«

»Na, die kamen ja ooch nich …«

»Na klar, weil die Westtreuhand euch mit Ansage ausgeraubt hat. Niemand bei Verstand sagt, dass das fair oder auch nur geschäftlich vorausschauend war. Wie bei den Verschwörungstheorien, es gibt immer Quacksalber. Fitzek, Icke und Stibal verdienen sich dumm und dämlich an noch und Dumm- und Dämlicheren.«

»Dit es eben Wirtschaft.«

»Geht alles ins Bruttosozialprodukt ein? Bringt uns also voran? Wie Krieg, Tankerunglücke und nukleare Kernschmelzen? Sogar der Drogenhandel fließt passiv ins Bruttosozialprodukt ein!«

»Mensch, in so eena Welt leben wia.«

»Wer Kapitalismus sagt, muss auch Faschismus in Form von Verschwörungstheorien sagen.«

»Mia platzt echt gleech dea Kopf.«

»Das, was dann am Boden kleben bleibt, sind die Verschwörungstheorien. Die sind nicht nur das Rettungsboot der geistig Ertrinkenden …«

»Flüschtlingä?«

»Fast. Sie sind auch eine Riesenindustrie. Sie machen im wahrsten Sinne aus Nichts Geld. Was können einem Marketingleute und Verschwörungstheoretiker denn bieten? Hat man danach bessere Computerkenntnisse? Insidereinsichten in den Markt? Kann man besser kraulen?«

»Naja, ne jute Ainstellunk?«

»Sie können einem nichts außer heiße Luft bieten. Aber davon viel. 2010 waren alleine siebenundzwanzig Autoren in den Untiefen der Verschwörungstheorien und Heilsversprechen zugange. Zwar versicherten die Größten von denen selbst, dass man natürlich nicht mit seinen Gedanken die Physik außer Kraft setzen kann, aber das interessiert die Anhänger längst nicht mehr. Ebenso wie die Bibel wahrscheinlich irgendwann nur aus ›seid nett zueinander und tötet euch nicht unbedingt, wenn einer eure Ziege falsch anguckt‹ bestand, verselbstständigen sich die Lehren. Der Wahnsinn bricht sich Bahn und dann stehen Extremisten vor dir, die behaupten, wenn du Krebs hast, wäre es deine eigene Schuld. Du hättest ja mal positiver denken können, nicht wahr?«

»Nee, dit mit dem Krebs kommt von die Juden und dearen Chemo!«

»Was hast du denn da am Arm?«

»Ein Bändschn.«

»Hat dir das Wolfgang Petry geschenkt?«

»Nee, dit soll mia positiv machen.«

»Natürlich möchte auch die althergebrachte Religion ein Stück vom Aas haben.«

»Dit is von die Priesta aus Amerika.«

»Der in seiner Gemeinde Negativität und Sarkasmus verboten hat?«35

»Jenau.«

»Ich erinnere mich. Mit seinen Armbändern, die symbolisieren sollten, dass man sich nicht beklagen würde. Das ging um die ganze Welt. Sicher sind die verhungernden Kinder in Darfur glücklich, jetzt so schöne Armbänder zu haben. Und halten endlich die Schnauze. Was wäre, hätten die Franzosen vor der Revolution diese Bändchen getragen? Oder die Kinder in den Kohleminen? Es ist nur ein kleiner Schritt, bis man sich nicht mehr über die Kündigung beklagt.«

»Mir hamse auch jekündigt! Nach zwanzich Jahren!«

»Und, hast du auf den Tisch gehauen?«

»Nee, aber ick hätte, wenn ick noch mal hin jekommen wäre! Aber et jab Stau.«

»Warst du wenigstens in der Gewerkschaft?«

»Nee, keene Zeit.«

»Stau, nicht wahr?«

»Imma! Mitm Rad wäre man schnella!«

»Kann man aber nicht fahren, weil …?«

»Det is ja lebensjefährlich!«

»Mit den ganzen Autofahrern … Und wegen der Kündigung: Dass man sich nicht beklagen sollte, stand auch in einem der Lebenshilferatgeber (und Bestseller!), die kostenlos von Arbeitgebern verteilt wurden.«36

»Dit is ne Veschwörung!«

»Ja, wer eine Verschwörung sehen will, der kann sie in den Verschwörungen selbst sehen. Allerdings ist die um einiges zu offen, als sie eine Verschwörung nennen zu können. Sie ist eine Begleiterscheinung der neoliberalen Politik der Dehumanisierung und des Sozialabbaus.«

»Die Kommunistn, die vadammtn!«

»Fast … anstatt sich dagegen aufzulehnen, versuchen ihre Opfer extremer zu sein, als die Ideologie selbst. Wenn man schon nicht aus einem paranoiden Staat heraus kommt, dann geht man wenigstens zur Stasi.«

»Dit hättick nie jemacht!«

»Aber AfD wählen geht? Natürlich erzeugt die zwanghafte Selbstmotivation zerstörte Reste von Charakterkrüppeln. Besonders, weil man für den Erfolg nicht wirklich glücklich oder freundlich sein muss, sondern weil man es nur darstellen muss. In einer Studie wurde bewiesen, dass Stewardessen durch das ständige Fröhlich- und Höflichsein den Kontakt zu den eigenen Emotionen verloren und depressiv wurden.«37

»Det gloob ick. Der Searwiß wird auch imma schlechta!«

»Das passiert jetzt mit einer ganzen Gesellschaft. Kein Wunder, dass Protofaschisten wieder Auftrieb haben. Die Menschen sind so abgestumpft, dass selbst Konzentrationslager ihren Schrecken verlieren.«

»Na det is noch übatriebn!«

»Tatsächlich? Alexander Gauland sagte neulich, ›wir [haben] das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen‹.«38

»Na, man kann aba ooch nich einfach eine Lebnslaistunk aina janzn Jeneration schlecht machen. Die meestn haben von nix jewusst!«

Ich bekomme Lust auf drei Liter Kerosin. Ich gehe grußlos weg. Manchen kann man nicht mehr helfen. Ich bin nicht Jesus. Den Typ konnte keiner länger ausstehen, ohne ihn zu verraten.

Vor mir tut sich die Dämmerung über einem endlosen Nichtort auf. Eine Tankstelle, stuckbereinigte gedrungene Häuserzeilen, SPIEL-SPASS UND FUN IN RONNYS KLAUSE. Ich muss daran denken, dass das Vorkommen des Namens Ronny mit hohen AfD-Wahlergebnissen korreliert. Allerdings tun das auch Waldbrandvorkommen und Otter. Korrelation, Kausation, kann mich mal. Ich brauche ein Bier.

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