Читать книгу Luisa - Zwischen Puppen und Bomben - Käthi Schneider - Страница 9
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Kindergarten
Meine erste Freundin hatte ich schon, bevor ich sprechen konnte, ja, das war Mathilde. Sie hatte lange schwarze Lockenhaare und die lustigsten braunen Augen. Die Familie wohnte in der Nachbarschaft. Wir wurden sehr früh in den Kindergarten aufgenommen, vielleicht bedingt durch die Kriegszeit. Unsere Mütter gingen zu den Bauern arbeiten, damit wir etwas zu essen hatten.
Mit drei Jahren brachte meine Mutter mich in den Kindergarten. Das war der Ort, an dem ich mich wohlfühlte, wenn meine Mutter nicht bei mir war. Nur gute Gefühle erinnern mich an diese Zeit. Das Haus hatte ein flaches Dach, stand mit der Giebelseite zur Straße. Ich sehe alles klar vor mir, sogar an die Spielsachen kann ich mich erinnern.
Hinter der großen Fensterreihe lag unser Spielraum, der auch das Ess- und Schlafzimmer war. Wir konnten über den Hof sehen. Die Kindergärtnerinnen hatten uns immer im Blick, wenn wir Nachlaufen spielten oder im Sandkasten Burgen bauten. Der Sandkasten war rings um den dicken Nussbaum angelegt. Ein kleiner Regenschauer konnte uns nichts anhaben, wenn wir dort spielen.
Vom Hof führte eine Treppe ins Haus. Zuerst kamen wir in den Vorraum. Gegenüber der Eingangstür waren zehn kleine, weiße Waschbecken an der Wand, aus weißem Metall, einige hatten Roststellen. Sie hingen ganz niedrig, eben für Kindergartenkinder, damit wir uns die Hände waschen konnten. Das taten wir besonders gern.
Mittags bekamen wir warmes Essen, wir gingen gerne an den Tisch, denn Hunger hatten wir immer. Nach dem Essen durften wir noch einmal an den kleinen Waschbecken unsere Hände waschen. Die Seife roch nach Honig, wir bekamen nicht genug davon.
Neben den Waschbecken – an einer langen Holzleiste – waren kleine bunte Holzschildchen mit Tieren oder Blumen bemalt. Jedes Kind hatte seine eigenen zwei Schilder. An die Haken hängten wir unsere Jacken oder Mäntel und die Kindergartentäschchen. An einem dritten Schildchen bei den Waschbecken hing ein Handtuch.
Ein großer Raum, sonnendurchflutet, war mehr als ein Zuhause. Es war der Lieblingsort von mir und von Mathilde, meiner besten Freundin. Während wir Kinder nach dem Mittagessen noch einmal im Vorraum unsere Hände waschen durften, wurden im großen Zimmer Tische und Stühle an die Wände gestellt, Liegestühle aufgeklappt, die grünen Fensterläden geschlossen. Wolldecken und kleine weiße Kissen verteilt. Mein Liegestuhl stand an der Wand.
Tante Inge legte uns alle nacheinander schlafen. Manche Kinder wollten nach Hause zu ihrer Mutter, sie weinten, doch sie schaffte es an jedem Tag, sie zu beruhigen. „Kind, lejsch disch do hin un kuschel disch in dat Kissje“, sagte sie. Ich spüre noch heute die Hand, die mich fest in die weiche Wolldecke einpackte und mir über den Kopf strich. Das Kisschen roch nach Rosen, ich roch und roch und schlief darüber ein.
In unserer Spielezeit lagen auf den Tischen viele bunte Dinge, Malstifte, buntes glänzendes Papier und Krepppapier zum Basteln. Am liebsten spielte ich mit kleinen glänzenden, leuchtend bunten Steinchen aus Porzellan, Muckelsteine wurden sie genannt. Es waren Halbkugeln, mit denen ich Muster auf die Tischplatte oder den vorbereiteten Karton legen konnte, bunte Blumen, Tiere und viele Figuren. Und dann gab es ein Fernglas, ein Kaleidoskop, das war mir besonders wertvoll. Wenn ich mit einem Auge hineinsah, erwachte eine bunte Welt. Kleine Steinchen fielen, wenn ich es drehte, zu immer neuen Mustern. Ich wünschte mir so sehr, dass es mir gehörte. Doch ich begriff auch, es gehörte uns allen.
Im Sommer waren wir die meiste Zeit draußen in unserem Hof. Wir spielten Verstecken, Fangen, fuhren mit dem Roller, noch lieber mit den Dreirädchen. Unser Sandkasten war immer gut besucht. Mit Mathilde spielte ich gern. Wir hatten Förmchen, konnten Kuchen backen und verteilten ihn an alle, die Hunger hatten. Genauso gern spielten wir auch wieder in unserem Spielzimmer, wenn es regnete.
Im Winter freute ich mich, wenn es endlich schneite. Immer wieder versuchte ich, Schneeflocken zu fangen. Enttäuscht sah ich auf meine Hand, wenn sie verschwanden, ein Tropfen Wasser blieb zurück. Der Nussbaum im Garten des Kindergartens sah ganz toll aus. Die Blätter waren alle bunt geworden und heruntergefallen. Auf den Zweigen lag nun dick der Schnee.
Tante Inge brachte Nüsse mit. Einen Vormittag hat sie alle Nüsse geknackt, die Nüsse an die Kinder verteilt. Sie schmeckten sehr gut. In die halben Schalen bohrte sie Löcher, mit einem Bindfaden durften wir sie an die Zweige des Nussbaums hängen. Die Tante füllte Schmalz in die Nussschalen, wir wunderten uns. Schon am nächsten Tag wussten wir, warum. Die Vögel, die uns im Sommer besuchten, kamen wieder. Eifrig pickten sie das Schmalz heraus. Sie brauchten keinen Hunger zu leiden.
Es war Herbst, es regnete, wir hatten keine Lust, nach draußen zu gehen. Das Schönste und Größte überhaupt war dann die Spielecke. Zwei Kinder konnten darin spielen.
Mathilde sah mich an. Ich wusste, was sie dachte, als ich ihren Blick in die Spielecke folgte. Tante Inge hatte uns beobachtet, kam, legte ihre Arme um uns beide, nickte und brachte uns dorthin. Ich konnte nur: „Danke“, flüstern. Wir sahen uns nicht um. Die Tante zog die blaue Gardine zu, wir waren allein.
In der Puppenküche sah es aus, als wären wir in Omas Küche – mit Töpfen und Schüsseln im Schrank. An einer Wand hingen ein Sieb, eine Pfanne, ein Kochlöffel-Sortiment. In der Mitte eine Form, die aussah wie eine sonnengelbe Blume, in die der Pudding gefüllt wurde. Wenn er kalt war, stürzte Mathilde ihn auf eine Glasplatte.
Tante Inge brachte eines Tages Vanillepudding mit. Er war noch warm. Wir drängten uns alle um die Schüssel. Das ganze Zimmer duftete. So wie Mathilde unseren Fantasiepudding auf eine Glasplatte stürzte, tat es am anderen Morgen Tante Inge mit ihrem Pudding. Jedes Kind bekam einen dicken Klecks in sein Schüsselchen. Nun wussten wir, wie richtiger Pudding schmeckte.
Mathilde kochte ihn immer wieder gern. Sie musste sich dabei beeilen, wir waren mit den Puppen fünf Personen. Wäre ich fünfzehn Jahre älter gewesen, hätte ich mich sicher in Christel und Hans, Schildkröte-Puppen aus den Fünfzigerjahren, oder in einige andere Puppen aus gleichem Haus verliebt. Besonders in Musella, ein Schildkröt-Mädchen von der Mosel. Sie trug ein Sommerkleid, rot gemustert, mit Puffärmeln.
Ich hatte meine Bertha. Sie leckte sich schon das Mündchen, sie konnte nie genug von Mathildes Vanillepudding bekommen. Das sah man ihr auch an. Nahm ich sie auf den Arm, hatte ich schwer zu tragen. Bertha war ein Geschenk meiner Mutter. Ihr Körper war ein Holzscheit. Den Kopf hatte mein Opa geschnitzt. Mit einem lachenden Gesicht, mit roten Wangen und roten Lippen. Wie er den Kopf befestigt hatte, war nicht zu sehen. Einmal habe ich ihr ein buntes Sommerkleid angezogen, mit Schmetterlingen in allen Farben. Es war eigentlich ein großes, weiches Staubtuch, das ich um ihren harten Körper gebunden hatte.
Mathilde hatte eine ähnliche Puppe. Sie hieß Susanne. Wo Mathilde den blauen Overall und die rote Bluse herhatte, erfuhr ich nie. Vielleicht von einer Puppe ihrer Mutter. Jedenfalls war Susanne sehr hübsch. Ihre blonden Haare hatte ich zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wir nahmen beide unsere Puppen jeden Tag mit nach Hause. Ich liebte Bertha so sehr, wollte keine Minute ohne sie sein. Auch in den Luftschutzkeller nahm ich sie mit.
In unserem Kindergartenhof gab es eine steile Felswand. Links, wo der Hof zu Ende war, war eine Treppe in den Felsen gehauen bis hoch hinauf. Oben war ein flacher freier Platz.
Ich weiß, dass unsere Kindergärtnerinnen mit den Kindern, die unseren Kindergarten verließen, um zur Schule zu gehen, jedes Jahr dort oben ein Märchenspiel aufführten. An das Märchen vom Rumpelstilzchen kann ich mich erinnern.
Dann war ich selbst sechs Jahre alt und verließ den Kindergarten. Ob auch ich dort oben auf dem Felsen mitgespielt habe, weiß ich allerdings nicht mehr.