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Vorwort zur ersten Auflage

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Wirklichkeiten? Gibt es denn mehr als diese eine, darin wir leben? Aber wenn nun gerade erst in unserem Leben diese Wirklichkeiten zu finden wären – nicht wir in der Wirklichkeit, sondern Wirklichkeiten in uns?

Wirklichkeiten – das soll hier heißen: Bedingungen, die wirksam sind, Bestimmungen, auf denen es beruht, daß die umfassende Macht des denkenden, wollenden, fühlenden Menschengeistes so sein muß, wie sie ist, und doch anders will und dichtet. Es sind Gebiete der Realität, die unser Leben schaffen, tragen, ordnen und – verwirren. Sie müssen wir aufsuchen, trennen, in ihrem Wirklichkeitswerte auseinanderhalten, um uns selbst wiederzufinden in ihrer Einheit, unser Leben in der Idee der Menschheit zu begreifen, in einer Kultur, die sich als Selbstzweck versteht.

Diese Einigung in der Menschheitsidee durch Trennung der wirkenden Gesetze hat der deutsche Geist am Ende des achtzehnten Jahrhunderts vollzogen; am Ende des neunzehnten haben wir keinen Lebenden, dessen schöpferischer Genius den kritischen Gedanken zur richtunggebenden Macht zu prägen verstünde. Mit Aphorismen und geistreichen Gedankenspielen ist es nicht getan; auch nicht mit der autoritativen Fesselung der Gemüter. Die Freiheit der menschlichen Vernunft ist nur zu begreifen und zu stützen durch systematischen Gang des Denkens; auf das eigene Denken müssen wir vertrauen. So versuchen wir, soviel ein jeder vermag, uns selbst zu sammeln und, was wir von unsern Vätern ererbt haben, zu erwerben, um es in der fast unübersehbar gesteigerten Stoffmenge der letzten hundert Jahre wiederzuerkennen und zu besitzen.

Einen solchen Beitrag zum Weltverständnis aus einer kritischen Weltauffassung heraus möchten die »Wirklichkeiten« liefern. Mit dem Streben nach Allgemeinverständlichkeit sind hier Ergebnisse langjähriger wissenschaftlicher Arbeit literarisch zusammengestellt, wie sie sich mir als eine persönliche Lebensansicht gestaltet haben.

Die ersten drei Aufsätze geben eine allgemeine historische Einleitung und gegen Ende des dritten einen kurzen Überblick der Weltanschauung, die das Buch näher begründen will. Diese entwickle ich im Zusammenhange bis zum zwanzigsten Abschnitt. Die letzten Aufsätze enthalten in freierer Anknüpfung weitere Ausführungen einiger Themata, die wie ich hoffe, zur Erläuterung der berührten Fragen nicht unwillkommen sein werden; man wird ihnen daher vielleicht nachsehen, daß ihre Schreibart mehr feuilletonistisch gehalten ist; es erschien mir kein Fehler, wenn dieselben Grundgedanken unter verschiedener Beleuchtung gezeigt werden. Den Artikel über unsere Träume habe ich aufgenommen, weil mir die darin enthaltenen Selbstbeobachtungen nicht ohne psychologisches Interesse schienen.

Die Anmerkungen am Schlusse des Buches berichten über diejenigen meiner bisherigen Veröffentlichungen, die m das vorliegende Buch hineingearbeitet sind, und machen die Teile kenntlich, deren Inhalt bis jetzt noch nicht gedruckt vorlag.

Gotha, im November 1899 Kurd Laßwitz

Wirklichkeiten

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