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I.
Die Entdeckung des Gesetzes
ОглавлениеWann es war, weiß ich nicht mehr genau, aber ich war bereits so alt, daß ich das Einmaleins ganz gut auswendig wußte, und doch noch ein so kleiner Junge, daß ich mich sehr über die Tüte voll Zuckerplätzchen freute, die ich geschenkt bekommen hatte. Wie viele ich schon davon verspeist hatte, weiß ich nicht mehr, aber an den entschwundenen Genuß knüpfte sich etwas anderes, das ich nicht vergessen habe, weil es mir einen unauslöschlichen Eindruck machte, obwohl es etwas durchaus Selbstverständliches war. Ich kam nämlich auf den nicht fern liegenden Gedanken, nachzusehen, wie viel Plätzchen ich noch übrig habe, und zu diesem Zwecke ließ ich sie auf dem Tische in wohlgeordneten Reihen aufmarschieren, bis sie ein richtiges Rechteck bildeten. Und nun fing ich an zu zählen und war schon bis in die Zwanzig gekommen; da ging jemand am Tische vorüber, warf einen Blick auf meine Schlachtordnung und sagte: »Du hast ja vierzig Stück?« Ich fragte erstaunt: »Wie kannst du so schnell zählen?« »Nun, es sind doch in jeder Reihe fünf, nun zähle ich bloß die Reihen, sind acht, und fünf mal acht gibt vierzig.« Dies imponierte mir ungeheuer, ich traute aber doch nicht recht und zählte weiter; es waren wirklich vierzig. Ich wunderte mich und fragte: »Woher kommt denn das?« Da mir aber niemand mehr Antwort gab, so spielte ich weiter, nahm aus jeder Reihe ein Plätzchen fort und bildete daraus zwei neue Reihen. Nun waren doch bloß noch vier in jeder Reihe, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie die Rechnung wieder stimmen könne; aber wahrhaftig, ich zählte jetzt zehn Reihen, und vier mal zehn ist vierzig; das wußte ich. Ich begann je sechs in eine Reihe zu legen, da bekam ich sechs Reihen und behielt vier Stück übrig, die ich passenderweise in den Mund steckte. Nun konnte es doch nicht stimmen? Sechs mal sechs gibt 36; ich zählte nach, und es stimmte wieder! In diesem Augenblicke ging es mir wie eine Offenbarung auf, das unbestimmte Gefühl, daß hier ein wunderbares Geheimnis läge. In diesen Plätzchen – und ich begriff wohl, daß die Operation mit irgend welchen andern Gegenständen auch gelingen würde – steckte eine Macht, der ich nichts anhaben konnte; wie ich die Dinge auch legte, wieviel ich auch fortnahm, sie gehorchten dem Einmaleins. Und was hatte doch das Einmaleins, das so langweilig in meinem Rechenbuche stand, mit den Zuckerplätzchen zu tun? Was konnten sie davon wissen? Ich stellte die Gruppen zusammen, wie ich wollte, und ich rechnete dann in meinem Kopfe, und was ich rechnete, das erwies sich als erfüllt in der Wirklichkeit. Zum ersten Male in meinem Leben war mir das Wesen des mathematischen Gesetzes zum Bewußtsein gekommen. Dies ist mir unvergeßlich; und noch oft hat mich dasselbe Gefühl beschlichen, als ich die Methoden der Algebra und Analysis kennen lernte und sah, wie die verschiedensten Arten, die Rechnung anzuordnen, doch zu demselben Resultate führten. Es ist ein Gefühl der Bewunderung, das uns gefangen nimmt, so oft wir erfahren, wie die Wirklichkeit einem logischen Gedankengebäude sich fügt, sobald wir erkennen, daß die objektive Realität in den Dingen dem Gesetze des Denkens gehorcht.
Was damals dem Kinde als eine erste dunkle Ahnung aufblitzte, war nichts anderes als die Erkenntnis, daß es etwas gibt, was Wissenschaft heißt. Eines der schönsten Gesetze, daß die Decendenztheorie entdeckt und bestätigt hat, ist das sogenannte phylogenetische Grundgesetz: Die biologische Entwickelung des einzelnen Organismus stellt eine abgekürzte Form des Entwickelungsprozesses vor, den die ganze Reihe seiner Vorfahren durchlaufen hat. Dies Gesetz gilt auch auf geistigem Gebiete. In der psychologischen Entwickelung der Kindesseele, in den Vorstellungen, die sich der einzelne über die Welt macht, bis er zur reifen Erkenntnis, zum wissenschaftlichen Denken durchdringt, finden sich die Spuren des Weges wieder, auf dem die Menschheit zur Kultur empor geschritten ist. Und wenn wir, zurückgreifend in der Geschichte des Denkens, uns fragen, wann und wo zum ersten Male der Begriff des mathematischen Gesetzes dem menschlichen Geiste als eine objektive Macht zum Bewußtsein kam, so scheint auch hier die Ordnung der Zahlen den Anstoß gegeben zu haben, so finden wir dies Bewußtsein bei Pythagoras, wenn er sagte, daß die Zahl das Wesen der Dinge sei. Die merkwürdige Beziehung der Seitenlängen im rechtwinkeligen Dreieck, die bei allen Dreiecken stimmte, man mochte sie sonst zeichnen wie man wollte – das Quadrat der Hypotenuse war immer gleich der Summe der Quadrate über den Katheten –, ferner die wunderbare Abhängigkeit der Konsonanz der tönenden Saiten von ihrer Länge und anderes mehr erweckte das Staunen und die Ahnung, daß in diesen Gesetzen das eigentliche Weltgeheimnis verborgen liege.
Dem Geiste der Hellenen erschloß sich dieses Geheimnis zum ersten Male; sie entdeckten die besondere Art der Realität, die, anders als alles sinnliche Fühlen und Empfinden, in dem objektiven Wert der Erkenntnis liegt. Und der Mann, bei welchem am schärfsten der Gedanke zum Durchbruch kam, daß die Realität der Dinge an ihre mathematische Gesetzlichkeit geknüpft sei, das war der große Schüler des Sokrates, es war Platon. Mit diesem Gedanken ward er der Begründer der Wissenschaft überhaupt: nicht der Wissenschaft, insofern sie die Sammlung und Sichtung des Erfahrungsstoffes allein zum Ziel hat, sondern insofern sie sich bewußt ist, in ihren Resultaten ein Objekt zu besitzen, dessen Erkenntniswert tiefer begründet ist als das Geltungsbereich der sinnlichen Mittel, durch die es gewonnen wird.
Was ist dies Eigenartige, wodurch Wissenschaft sich von andern Betätigungsgebieten des Bewußtseins unterscheidet? Wir finden uns in einem bunten Wechsel von Farben und Geräuschen, von Widerständen und Temperaturen, von Gefühlen und Strebungen. Einiges ist flüchtig wie der Hauch des Windes, wie der Blitz des Auges; anderes weilt länger, wie die feste Erde unter den Füßen. Aber dauernd bleibt nichts von dem, was wir wahrnehmen und erleben, unwiderruflich flieht die Zeit, und wir selbst vergehen in ihrem Strome. Wo ist der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht? Wo ist die Macht, die Ordnung schafft und Dauer verleiht? Wo ist das zu suchen, was wir Realität nennen?
Dieses Marmorstück ist weiß, schwer, hart, kalt; das nehme ich wahr. Aber sind es diese Eigenschaften, die den Stein zum Gegenstand machen, der dauert? Die Sonne bescheint ihn, und er ist warm; die Nacht umhüllt ihn, und er ist nicht mehr weiß. Ich finde dieselben Eigenschaften an anderen Körpern, ich kann sie mir zum Teil fortdenken von dem Körper, und er hört nicht auf Körper zu sein. Die sinnlichen Eigenschaften sind es also wohl nicht, in denen die Realität wurzelt? Vielleicht gehören sie dazu, aber sie sind es jedenfalls nicht allein. Und soviel ist sicher, die Ordnung, in welcher sie zusammen vorkommen, die Folge, in der sie wechseln, ist so mannigfach, so kompliziert, so unübersehbar, daß sie für den ersten Versuch des menschlichen Geistes, Gesetze zu entdecken, nicht als die Realität gelten kann, darin das gesetzliche Sein der Dinge begründet ist.
Aber es gibt etwas anderes in den Körpern, das nicht mehr sinnlich ist, das ist Gestalt und Zahl. Der Würfel behält sechs Flächen und acht Ecken, ob er aus Marmor oder Holz bestehe; die Winkelsumme im Viereck bleibt gleich vier Rechten, mag das Viereck auf die Wachstafel oder in den Sand gezeichnet sein; drei mal vier bleiben zwölf, ob du Menschen zählst oder Muscheln. Hier ist eine Wirklichkeit, Ordnung des Raumes und der Zahl, die nicht von den sinnlichen Eigenschaften berührt wird. Hier ist ein Beispiel für eine Ordnung, die für alle Körper allgemeingültig und notwendig ist. Hier ist etwas Neues, ein Gedanke im Menschengeist und doch eine reale Bestimmung in den Dingen, und dieses Neue, daraus die Herrschermacht der Wissenschaft entsproß, ist das Gesetz.
Eine neue Art des Seins hatte der griechische Geist entdeckt, als Arithmetik und Geometrie von ihm geschaffen und als Wissenschaft erkannt wurden – die erste reife Frucht gezogen aus der zählenden und messenden Erfahrung östlicher und südlicher Völkerschaften. Eine neue Art des Seins, die den sinnlich wahrnehmbaren Körpern nicht zukommt, und sie doch beherrscht; also ein Gesetz der Körper; und die ebenso das Denken über die Körper beherrscht; also ein Gesetz des Geistes, ein Begriff. Und so ward die Mathematik das Weckmittel der Erkenntnis; das mathematische Gesetz ergab sich als ein Gesetz, das Sein und Denken zugleich beherrscht; es vertrat die im Grunde der Dinge waltende Macht, welche die Bedingung ihrer Realität ist. »Die Gottheit verfährt stets mathematisch«, damit drückte Platon den Grundgedanken aus, auf dem sich das Gebäude der Wissenschaft erhob; und darum schrieb er über seinen Lehrsaal: »Ohne mathematische Vorbildung trete keiner in meine Halle!«
Der unmittelbaren Wahrnehmung gilt nur das als wirklich, was ihr sinnlich entgegentritt; und ein Zeichen von Wirklichkeit ist dies auch, aber kein sicheres. Dem ermattenden Wüstenwanderer erglänzt die spiegelnde Wasserfläche in der Ferne, gaukelt das Luftbild die rettende Oase vor; aber dem Nahenden schwindet es in nichts. Die sinnlichen Eigenschaften wirren sich in unergründlichem Wechselreichtum durcheinander, und was eben die Sicherheit der Existenz zu verbürgen schien, löst sich in neue, unerwartete Erscheinung auf. Wo blieb es? So erscheint das Sinnliche als das Vergängliche, Unklare, Unwirkliche. Die mathematischen Formen dagegen, Figur und Zahl, sie beharren im Wechsel, sie lassen sich klar erfassen im Denken; so sind sie das Sichere, das Ewige, das Reale. Sie sind das objektive Gesetz, wonach der Kosmos als Ordnung sich konstruieren läßt, sie verbürgen die Realität Seienden durch die Begründung der Gewißheit in dauernden Gedanken.
Wie weit die Erkenntnis vordringt und es ihr gelingt, das Geschehene im mathematischen Gesetz zu fixieren, soweit waltet Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, soweit beherrscht das Bewußtsein die Gegenstände. Die sinnliche Erfahrung ist zwar das Mittel, wodurch die Gesetze des Wirklichen allmählich aufgefunden werden, aber die Gültigkeit dieser Gesetze, die an der Erfahrung sich erprobt, wird ihnen nicht durch die Erfahrung verliehen; sie hat ihren Ursprung in etwas, das der Erfahrung selbst zu gründe liegt, das sie erst möglich macht, weil es die gemeinsame Bestimmung dafür ist, daß Gegenstände sind und daß sie als solche erkannt werden. Diese Bedingung der Erfahrung ist die Gesetzlichkeit, die der Philosoph das »Apriori« nennt. Dies soll nicht heißen, daß die Gesetze dem einzelnen vor der Erfahrung bekannt sind; wir erkennen sie erst im Verlaufe der Erfahrung. Die Menschen zählen und rechnen und finden sich im Räume zurecht, ohne etwas von den Grundsätzen der Arithmetik oder Geometrie zu wissen, so gut wie sie atmen und verdauen, ohne die physiologischen Gesetze des Stoffwechsels studiert zu haben. Aber indem sie rechnen und sich bewegen, werden sie sich allmählich bewußt, daß in ihrem Erlebnis gewisse gesetzliche Bestimmungen vorhanden sind. Es wäre nicht möglich, daß die Erfahrung überhaupt als eine feste Ordnung der Erscheinungen zustande kommt, wenn es nicht Bestimmungen gäbe, die nicht von ihr, sondern von denen sie selbst abhängig ist. Und diese Bedingungen müssen derart sein, daß in ihnen die Übereinstimmung der Dinge mit unsern Vorstellungen von den Dingen begründet ist. Die Wirklichkeit der Dinge muß auf denselben Gesetzen beruhen, auf denen es beruht, daß wir gerade diese und keine anderen Vorstellungen von den Dingen uns machen können. Daß dieses Weiße, Harte, Schwere eine Einheit bildet, und daß sie als solche unter dem Begriff Marmor gedacht werden muß, ist ein und dieselbe Bestimmung. Das ist der Sinn des »Apriori«: Es gibt Bestimmungen, unter denen die Bildung gewisser Einheiten sich auf solche Weise vollzieht, daß ihre reale Wirklichkeit als Objekte zugleich als eine subjektive Realität im Bewußtsein auftritt. Das Ergebnis dieser Bildung ist die Erfahrung. Stellen wir uns auf den Standpunkt der Objekte, so können wir sagen, unsere Vorstellungen sind abhängig von den Gegenständen; stellen wir uns auf den Standpunkt der Subjekte, so können wir auch sagen, die Gegenstände sind abhängig von der Art, wie wir sie vorstellen. Falsch ist weder das eine noch das andere, aber beide Behauptungen, die realistische und die idealistische, sind nicht ganz vollständig. Es ist zwischen objektiv und subjektiv nicht ein Verhältnis wie zwischen Ursache und Wirkung, sondern eher wie zwischen Stoff und Form, zwischen Mannigfaltigkeit und Einheit; es ist nicht eins vom andern bedingt, sondern jedes ist zugleich mit dem anderen gesetzt.
Das ist nun die Voraussetzung, wenn überhaupt Wissenschaft möglich sein soll, daß es eine solche Realität gibt, welche die Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein verbürgt. Und das mathematische Gesetz war das erste Beispiel in der Geschichte der menschlichen Erkenntnis, woran man sich überzeugen konnte, daß das Schwanken der sinnlichen Erscheinung von Bestimmungen a priori beherrscht wird, die wir zu erkennen vermögen. Deshalb darf man Platon, soweit nicht schon Sokrates das Vorrecht gebührt, als den Vater der Wissenschaft bezeichnen. Er entdeckte das Recht der wissenschaftlichen Erkenntnis; sie ist ein Verfahren, Realitäten zu erzeugen. Aus dem unbestimmten Erlebnis des einzelnen, aus dem Kampf entgegengesetzter Vorstellungen, aus der Unklarheit widerspruchsvoller Gefühle und wechselnder Stimmungen und Triebe hebt sie heraus ein Gebiet des Gesetzes, schafft sie eine neue Welt, worin nichts gilt, als was sich widerspruchslos zusammenfügt.
Die moderne Naturwissenschaft beruht auf dem Verfahren, den Wechsel der Erscheinungen darzustellen und zu festigen im mathematischen Gesetz. Was wir heute unter Naturnotwendigkeit verstehen, das ist nichts anderes als der Zwang des widerspruchslosen Denkens, der uns nur das als Wirklichkeit anerkennen läßt, was in der Form des allgemeingültigen Gesetzes beschrieben werden kann. Unerschöpflich führen die Sinne neuen Stoff unserm Bewußtsein zu, und ebenso unermüdlich ist die Wissenschaft an der Arbeit, ihn in die Form des Gesetzes einzuordnen und damit den realen Inhalt des Naturgeschehens zu ermitteln. Das ist eine unendliche Aufgabe. Nenn der Inhalt des einzelnen Gesetzes erfordert eine fortwährende Umgestaltung unter dem Einfluß der sich erweiternden Erfahrung; bleibend ist nur der Charakter des Gesetzes, jeden Widerspruch von sich auszuschließen, indem seine Gestalt neuen Erfahrungen sich anpaßt. Die Erde war solange der Mittelpunkt der Welt, als die astronomischen Beobachtungen sich mathematisch durch das Ptolemäische Weltsystem darstellen ließen; als sich Widersprüche zeigten, mußte es dem Coppernikanischen weichen. Die Gewißheit der mathematischen Berechnung hat sich dabei nicht geändert; sondern nur die Voraussetzungen, von denen sie ausgeht, sind andere geworden und haben eine andere Gestalt der mathematischen Darstellung erfordert.
Auch jener Grundgedanke der Naturwissenschaft, die Wirklichkeit der Erscheinungen im mathematischen Gesetz zu sichern, geht auf Platon zurück; und die Entstehung der mathematischen Naturwissenschaft ist in der Tat ein Lebendigwerden platonischer Gedanken. Der machtvolle geistige Umschwung, den wir als Renaissance bezeichnen, ist zugleich die Erneuerung der platonischen Philosophie. Und die bahnbrechenden Denker, die im Beginn des 17. Jahrhunderts die Naturwissenschaft schufen, Galilei und Kepler, fanden ihre Stütze in dem platonischen Gedanken, daß die Realität der Natur in ihrer mathematischen Ordnung zu suchen sei. In diesem Sinne sagt Kepler, daß der Mensch nichts richtiger erkenne als die Größe selbst, und Galilei, daß die Philosophie im Buche des Universums geschrieben stehe in mathematischer Sprache, deren Zeichen Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren seien. Warum aber, so wird man fragen, mußten zwei Jahrtausende vergehen, seit Sokrates den Giftbecher trank, bis der Scheiterhaufen auf dem Campo dei Fiori um Giordano Bruno flammte, ehe jene Naturwissenschaft entstand, deren Prinzip Platon so deutlich bezeichnet hatte? Dies erstaunliche Problem bis in seine innersten Tiefen zu Verfolgen, das hieße die gesamte Geschichte der Menschheit von Jahrtausenden aufwühlen. Denn im letzten Grunde sind zwar Begriffe und Ideen das Bestimmende in der Entwicklung der Kultur (vgl. Abschnitt XXII), aber die Mittel, wodurch sie in den Trieben und Interessen der einzelnen und der Völker wirken, sind so verwickelt, daß sie schwer, wenn überhaupt, zu durchschauen sind.
Die Erforschung der Natur setzt ein unmittelbares Interesse an der technischen Beherrschung der Natur voraus, denn nur durch dieses spitzen sich die Probleme zu, und das ungeheure Material praktischer Erfahrung wird herangeführt. Technische Probleme waren es auch, welche den äußeren Anstoß zur wissenschaftlichen Untersuchung gaben. Man denke nur an die Bedürfnisse der Baukunst, der Kriegsführung, der Schiffahrt, der Heilkunde. Wer vermag nun zu sagen, inwieweit der Mangel an naturwissenschaftlichem Interesse durch die soziale Entwickelung der Menschheit bedingt war? So lange eine kleine Anzahl von Herren durch die Arbeit der Sklaven ihre Muße gesichert sah, mochte wohl in den Spitzen der Menschheit eine hohe intellektuelle Kultur zur Blüte gelangen können. Aber für sie lag nicht das Bedürfnis vor, die Kräfte der Natur in umfassender Weise in den Dienst der Arbeit zu stellen, die Natur in dem Maße zu beherrschen, daß durch die Erweiterung der Machtmittel der Menschheit immer weitere Kreise auf eine höhere Bildungsstufe gehoben werden konnten. Es liegt daher der Gedanke nahe, daß für die Kultur der europäischen Menschheit erst jene höhere sittliche Aufgabe zu lösen war, die Gleichberechtigung der Menschen zum Bewußtsein zu bringen, wie sie in der Grundidee des Christentums enthalten ist. Nicht die Unterschiede der Macht, des Besitzes, der Bildung, der Abstammung, der Nationalität sind es, die den Wert des Menschen bestimmen, sondern allein die gute Gesinnung, die sittlich-religiöse Kraft der Persönlichkeit, der Glaube an die Liebe Gottes, vor dem alle gleich sind, die in seinen Wegen wandeln. Diese sittlich-religiöse Erziehung der Menschheit mußte erst zu einem gewissen Ziel kommen, ehe die intellektuelle Kultur aufs neue einsetzen konnte, um nunmehr unter dem Bewußtsein der Verpflichtung zur gemeinsamen Arbeit die Menschheit auf eine höhere Stufe zu heben. Gutenberg, Coppernikus, Columbus, Luther bezeichnen den Umschwung in den Mitteln der neuen Kultur; nun erst ward die Bevormundung des Geistes gebrochen und die Erde dem Menschen zum neuen Eigentum gegeben; und nun gelang es auch den Denkern, die Stelle zu finden, an der die Erscheinungen der Natur sich in mathematische Gesetze fassen ließen. Denn daran hatte es Platon gefehlt; daß die Natur nur mathematisch zu realisieren sei, hatte er gelehrt; aber wie und wo diese Anwendung der Mathematik anzusetzen hatte, das wußte er nicht; dazu mangelte seiner Zeit nicht nur die Fülle der Tatsachen, sondern auch vor allem das Interesse für diese Richtung der Kultur.
Was wir hier aus der tatsächlichen Entwickelung der abendländischen Kultur als den Plan der Erziehung des Menschengeschlechts mutmaßen, das läßt sich andererseits aus dem Gedankengange Platons erläutern, durch den der Begriff des »Apriori« sich ihm gestaltete. Es kam ihm darauf an, Realitäten aufzufinden, welche die Wirklichkeit der Dinge sicherer verbürgten als der oft täuschende Schein der sinnlichen Erfahrung. Als eine solche Realität hatte ich bisher nur das mathematische Gesetz genannt, weil es für die Möglichkeit der Naturwissenschaft entscheidend ist. Für Platon jedoch als den Schüler des Sokrates, war noch eine andere Realität die ursprünglichere und bestimmende, das war die Idee des Guten, d.h. die Frage nach dem Wesen der Tugend, die ethische Beurteilung. Und diese Realität, welche über die Wirklichkeit der Dinge entscheidet nach dem Werte, den sie in sittlicher Hinsicht als Vorbilder besitzen, sie war es, die für die nächsten zwei Jahrtausende das Interesse der Menschheit vor allem in Anspruch nahm.
Was gut ist, was schön, was vollkommen ist und als Muster gelten soll, das findet sich ja in seiner Reinheit nirgends in der Erfahrung, das ist vielmehr eine Förderung, die an die Erfahrung gestellt wird. Hier also ist ein solches Prinzip der Beurteilung, das der Erfahrung vorschreibt, wie sie sein soll, ein Apriori; Platon nennt es eine Idee, eine Bestimmung, die über dem vergänglichen Sein der sinnlichen Dinge steht. Die Realität der Dinge besteht in ihrer Anteilnahme an den Ideen; inwieweit sie der Idee der Vollkommenheit entsprechen, insoweit sind sie der flüchtigen und nichtigen Erscheinung entzogen und besitzen Dauer. Für den Hellenen aber besteht das Wesen der Vollkommenen, womit das Gute und das Schöne zusammenfällt, in dem harmonisch Maßvollen, in der richtigen Abmessung. Das Maß verbürgt die Zweckmäßigkeit. Insofern also werden die sinnlichen Dinge auf die Realität der Idee Anspruch erheben können, als in ihnen die Bedingung zweckvoller Abmessung erfüllt ist. Die Wissenschaft des Maßes aber ist die Mathematik. Darum sind es nach Platon die mathematischen Beziehungen in den Dingen, welche sie über die Vergänglichkeit der Sinne erheben und ihnen Realität verleihen. In der Gesetzmäßigkeit der Figuren und Zahlen sind die Dinge mit Sicherheit zu erkennen: daher sagt Platon, daß das Mathematische die Verbindung herstelle zwischen den sinnlichen Dingen und den Ideen.
Damit nun auf diesem Grundgedanken eine Wissenschaft von der Natur sich wirklich aufbaue, mußte man aber wissen, welches besondere Verhalten der sinnlichen Dinge so beschaffen sei, daß sich in ihm mathematische Gesetze auffinden ließen. Dieser Punkt wurde verfehlt. Es führte dabei irre, daß sowohl bei Platon selbst als in der ganzen nachfolgenden Zeit das Interesse auf die ethische Idee gerichtet war, und daher auch die Natur unter dem Gesichtspunkt des Zwecks betrachtet wurde. Der Zweck aber setzt voraus, daß man bereits den Begriff dessen hat. was erreicht werden soll. Er ist deshalb ein unentbehrliches Erkenntnismittel für das menschliche Handeln. Man glaubte nun, daß auch die Natur in ihrer Gesetzmäßigkeit sich erkennen lasse, indem man die Zwecke aufzusuchen sich bemüht, denen sie dienen soll. Aber dadurch werden stets die Beweggründe des menschlichen Handelns und seine Ziele in die Natur hineingetragen, und es kommt nicht zum Bewußtsein, daß in der Natur eben eine andere Art des Geschehens vorliegt als im sittlichen und künstlerischen Gestalten. Man gelangte nicht zu der Einsicht, daß gerade die Notwendigkeit des gesetzlichen Geschehens es sei, wodurch die Natur als ein besonderes Gebiet abgegrenzt werde; und obwohl Platon lehrte, daß eine solche Notwendigkeit im mathematischen Gesetz gegeben sei, so suchte man das Gesetz doch an einer falschen Stelle, man suchte es in der fertigen Anordnung der Eigenschaften, statt in ihrem zeitlichen Werden. So konnte man wohl zu einer systematischen Einteilung und Beschreibung der Natur mit Erfolg vorschreiten, aber nicht zur Erkenntnis des gesetzlichen Geschehens; man erkannte wohl die Verschiedenheit der Dinge, aber nicht das Gesetz ihrer Veränderung. Die kausale Erklärung der Natur konnte auf diesem Wege nicht gelingen.
Platon selbst war sich sehr klar der Beschränkung bewußt, die er durch seine Lehre der Naturerkenntnis auferlegte. Aber er hielt diese Beschränkung für unvermeidlich, weil in dem Wesen der Sache selbst begründet. Er hatte ja deutlich gesehen, daß die großen und einfachen Gesetze, wie die Gebote der Sittlichkeit, in der Welt der ewigen Ideen und nicht im Wechsel der sinnlichen Erscheinungen zu suchen seien. Und diese unveränderliche Körperwelt mit ihren Eigenschaften hielt er für etwas so Kompliziertes, daß es dem menschlichen Geist überhaupt nicht möglich sei, die absolute Wahrheit hier zu erkennen, daß es dieser vielmehr stets nur zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit bringen könne. Wer möchte deshalb Platon tadeln? Es ist ja wahr, die Fülle der Erfahrung ist unermeßlich, und die Erkenntnis der Natur besteht in der unablässigen Korrektur ihres Bestandes; aber das eben ist Wissenschaft. Daß trotzdem diese »Wahrscheinlichkeit« des Naturerkennens sich der Gewißheit so weit nähern könne, daß sie mit Sicherheit Naturerscheinungen vorauszusagen gestattet, daß sie Vorgänge berechnet, die kein Auge sieht, und Körper beschreibt, deren Dasein die Erfahrung erst nachträglich bestätigt, das würde Platon als eine herrliche Bestätigung seiner Lehre betrachtet haben; er hatte nur nie zu hoffen gewagt, daß die Naturwissenschaft eine solche Höhe erreichen könne, weil zu seiner Zeit noch alle Erfahrung darüber fehlte, welche Größenverhältnisse im Wechsel der sinnlichen Erscheinungen sich nachweisen ließen. Er wußte nicht, daß die Veränderung der Farbe sich als eine Veränderung der Größe der Wellenlänge messen läßt, nicht, daß bei der Verbrennung des Holzes vor und nach dem Verbrennungsprozeß alle Bestandteile auf der Wage zu kontrollieren sind, kurzum er kannte nicht die Einzelheiten, in denen die quantitativen Bestimmungen der Dinge bestehen. Daher zeigt sich zwischen der platonischen und der modernen Auffassung über die Grenzen, welche der menschlichen Erkenntnis gesetzt sind, eine höchst eigentümliche Umkehrung. Wir sind der Ansicht, daß innerhalb der Erfahrung, soweit die Kontrolle der sinnlichen Wahrnehmung reicht, durch die Methoden der Naturwissenschaft eine sichere objektive Erkenntnis der Dinge möglich ist, daß dagegen jenseits der Erfahrung, wo Raum und Zeit ihre Ordnung uns nicht mehr leihen, auch die Kraft der Erkenntnis erlahme und das Reich des Glaubens beginnt. Platon – und damit beherrschte er die zwei folgenden Jahrtausende – war entgegengesetzter Ansicht; in der Erklärung der Körperwelt sieht er nur eine Übung des Scharfsinns, die zu beweisbaren Resultaten nicht führen könne. Darum sagt er: »Und wenn einer zur Erholung die Untersuchungen über das Ewige beiseite legen und die wahrscheinlichen Ansichten über das Werden genau in Betracht ziehen wollte, um sich einen Genuß zu verschaffen, dem keine Reue folgt, so dürfte er wohl ein geziemendes und verständiges Spiel im Leben treiben.«
Also ein Spiel nennt Platon die Versuche, die Veränderungen der Körper auf mathematische Gesetze zurückzuführen; zwar ein geziemendes und verständiges Spiel ist es, ein Genuß, dem keine Reue folgt, weil er kein sinnlicher Genuß ist, aber doch ein Unternehmen, dem eine Sicherheit des Erfolges nicht entspricht; nicht darum, weil jene Gesetze nicht vorhanden wären, sondern nur darum, weil sie zu versteckt lägen. Nichtsdestoweniger entschließt sich auch Platon, dieses Spiel zu versuchen. In seinem Gespräch, das den Namen »Timäus« führt, entwickelt er eine Reihe von Hypothesen, zum Teil in dichterischem Gewande, um die Bildung des Kosmos aus der Materie zu erklären, wie sie der Weltbaumeister vielleicht nach mathematischen Gesetzen vollzogen hat.
Manches in diesen Erklärungen, auf die ich jedoch nicht eingehen will, mutet uns ganz modern an. Die Lehre von den Elementen entnahm er der Schule der Pythagoreer, aber er formte sie geometrisch. Die kleinsten Teilchen der Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde denkt er sich als regelmäßige Körper; die des Feuers haben die Gestalt von Tetraedern, die der Luft von Oktaedern, die des Wassers von Ikosaedern. Diese drei Elemente können sich in einander verwandeln, indem sich die Dreiecke, von denen die Partikeln der Elemente begrenzt sind, sowohl zu Tetraedern, wie Oktaedern oder Ikosaedern vereinigen können. Für Platon besteht nämlich das Wesen des Körpers in seiner Begrenzung, weil diese das Gesetz der Gestalt und Größe enthält; die Grenze bestimmt in der unbestimmten Ausdehnung des Raumes das, was als Körper zusammengehört. So meint Platon, daß z.B. aus dem acht Begrenzungsflächen des Oktaeders (eines Luftteilchens) zwei Tetraeder, d.h. zwei Feuerteilchen entstehen können. Ebenso ist ein Wasserteilchen als Ikosaeder äquivalent 2-1/2 Luft- oder 5 Feuerteilchen.
Man kann hieraus die Ähnlichkeit und den Unterschied seiner Auffassung und der modernen recht deutlich erkennen. Auch bei Platon ist ein Teil der Körper in andere verwandelbar, indem sich ihre Molekeln in Urbestandteile zerlegen und zu anders gestalteten Molekeln zusammensetzen, gerade wie in unserer Chemie. Daß er dabei Luft, Wasser und Feuer, d.h. das Warme, als Elemente betrachtet, ist unwesentlich; charakteristisch für die mathematische Begründung der Naturwissenschaft ist, daß Platon bereits ein Gesetz der chemischen Äquivalente aufstellt, wonach nur bestimmte Mengen von Luft, Wasser, Wärme in einander verwandelbar sind. Aber hier zeigt sich zugleich der fundamentale Unterschied von der modernen Methode. Die Äquivalentzahlen sind nicht aus der Erfahrung durch Abwägen und Messen entnommen, sondern durch eine kühne Konstruktion a priori dekretiert; und selbst dieses würde ja als Hypothese berechtigt sein; aber es wird gar nicht daran gedacht, diese Hypothese aus der Erfahrung durch Messungen zu bestätigen. Eben weil eine solche Bestätigung des vermeintlichen mathematischen Gesetzes Platons unmöglich schien, darum beschränkte er die Physik auf das Gebiet der Mutmaßungen. Und diese mußten allerdings um so unsicherer erscheinen, als ihnen die Wirklichkeit in der Tat nicht entsprach.
Verhängnisvoll für die Entwickelung der Physik in den beiden folgenden Jahrtausenden ward nun der Ausweg, den Platon ergreifen mußte, um das Eintreten einer Veränderung überhaupt, um die Bewegung der Elementarteilchen zu erklären. Ganz wie in unseren kinetischen Theorien der Materie beruht auch bei Platon jede Veränderung körperlicher Eigenschaften auf Bewegung. Ein Körper wird durch Wasser aufgelöst, nicht durch Luft, weil die Teilchen des Wassers infolge ihrer Größe die Teilchen des Körpers (der Erde) auseinander treiben, während die kleineren Luftteilchen zwischen jenen hindurchgehen können, ohne den Zusammenhang zu schädigen. Ist aber der Körper fest zusammengepreßt, so sind nur die Feuerteilchen imstande sich hindurchzudrängen und ihn zu schmelzen. Alle Veränderungen geschehen allein durch die gegenseitige Verdrängung der kleinsten Körperteilchen. Auch die Anziehung der Körper, wie beim geriebenen Bernstein oder beim Magneten, ist nur eine scheinbare, keine wirkliche; auch sie beruht auf einem Druck, den die sich nähernden Körper von außen erleiden. Denn da es nach Platon keinen dauernd leeren Raum geben kann, so sind die Elemente gezwungen, in einem Kreislauf nach ihrem natürlichen Orte, dem sie zustreben, zurückzukehren.
Warum aber, wird man hier fragen, setzen sich die Elemente überhaupt in Bewegung? Warum teilen sich die Elementarkörperchen? Wo sind die mathematischen Gesetze, welche diese Veränderungen bestimmen? Im letzten Grunde muß die Ordnung der Bewegung von den ewigen Ideen, den zwecksetzenden Bestimmungen abhängen. Aber wie können diese die Materie bewegen? Das Gesetz der Veränderung, das zwar als Zweckmäßigkeit in den Ideen liegt, muß auch zugleich im Raum, im gestaltlosen Stoffe, als gestaltbildend tätig sein. Und zu diesem Zwecke führt Platon eine neue Hypothese ein, das ist die Weltseele. Die Weltseele ist das All, insofern es Selbstbewegung enthält. Sie knüpft die sinnliche Erscheinung an die ewigen Ideen und realisiert in jener das mathematische Gesetz der Bewegung; mit einem Worte, sie enthält das Gesetz der Wechselwirkung.
Mit dieser Auffassung der dynamischen Wechselwirkung als der Betätigung einer Weltseele ist nun der Verzicht auf eine mathematisch-mechanische Welterklärung vollendet die in dem Grundgedanken Platons so verheißungsvoll angestrebt war. Die dichterische Weltauffassung hat die mathematische zurückgedrängt. Es ist ja für die junge unerfahrene Wissenschaft der Natur der nächstliegende Gedanke. Veränderungen in der Welt sehen wir vor allem ausgehen von unserem eigenen Körper, und wir sind uns bewußt, diese Veränderungen mit Bedacht hervorzubringen. Woher also sollen die Veränderungen in der Natur überhaupt stammen, zumal wenn sie vernünftigen Zwecken dienen sollen, als von einer Vernunft? Also von einer Seele, die in der Welt ebenso bewegend schafft wie unser Geist in unserem Körper. Oder richtiger: Wie die Bewegungen unseres Körpers als zweckmäßige sich von selbst dadurch erklären, daß wir uns dieser Zwecke bewußt sind, so sind – wie es scheint – auch die Veränderungen in der Natur zu erklären durch eine das Weltall durchsetzende Kraft, die nach Art der Seele zu denken ist.
So schlug bei dem Schöpfer des Grundgedankens der Naturwissenschaft die Mathematik in Psychologie um; die Wechselwirkung ward zur Weltseele.