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GESCHICHTEN AM UFER DES KWILU ODER MEIN ONKEL, DER LEOPARDENMANN

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Ich bin ein Glückspilz. Ich durfte im Kongo bei den sogenannten „équipes mobiles mixtes“ dienen, gemischten Teams aus kongolesischen und europäischen Offizieren, die die Militärregionen des Kongo überprüften. Auf diese Art habe ich fast alle Provinzen dieses Riesenlandes kennengelernt. Unsere Arbeit hat sich in erster Linie um zwei Dinge gedreht: Werden die Soldaten regelmäßig bezahlt und verpflegt (damit sie nicht plündern müssen), und werden Waffen und Munition so sicher aufbewahrt, dass sie keine unmittelbare Gefahr für die Umgebung darstellen? Die Kontrolltage waren mühsam, und die Ergebnisse lagen meist auf einer Skala zwischen „ziemlich frustrierend“ und „absolut schockierend“.

Erholt haben wir uns beim gemeinsamen Abendessen, was in Städten wie Kikwit (etwa fünfhundert Kilometer südöstlich von Kinshasa) seinen besonderen Charme hat. In Kikwit gibt es kein Fließwasser, abgesehen vom Fluss Kwilu, und keinen Strom. Aber was soll’s? Alte Geschichten sind ohnehin viel schöner am Lagerfeuer. Und wenn der Wind den Klang der Buschtrommeln vom anderen Flussufer herüberweht, geben sie einen wunderbaren Einblick in die Denkweise ihrer Erzähler.


Schweineparadies

Die Säue fühlen sich wohl im Hafen von Kikwit. Ausgenommen die eine, die uns Gesellschaft leistet. Aber der ist schon alles wurst: Sie dreht sich seit sechs Stunden am Bratspieß von Monsieur Maisha. Monsieur Maisha ist Libanese und führt das einzige Restaurant von Kikwit, das diesen Namen verdient. Er hat sogar drei Gerichte zur Auswahl. Neben Schwein serviert er auch Fisch und Huhn.

Ein Stündchen werde es wohl noch dauern, sagt Maisha. Ob er uns inzwischen ein paar Bier bringen dürfe.

Nur zu, Monsieur. Fünf Mützig1.

Unsere Delegation besteht aus zwei europäischen und drei kongolesischen Offizieren. Wir haben Zeit, und der Garten von Maishas Restaurant ist ein guter Platz zum Warten. Wir vergraben die Zehen im warmen Ufersand und schauen zu, was der abendliche Kwilu an uns vorbeitreiben lässt: tief im Wasser liegende Pirogen, bis über die Bordkante mit Palmölkanistern beladen; Kinder, die auf Baumstämmen reiten; ein Erwachsener, der sich mit der Freude eines kleinen Buben immer wieder in die Fluten stürzt und erstaunlich lang unter Wasser bleibt.

„Ich hab einmal einen gesehen, der hat es eine halbe Stunde ausgehalten“, sagt der Major Essebi vom kongolesischen Generalstab.

„Blödsinn“, bellt der Oberst Laurentiu von der rumänischen Armee. „Niemand hält es so lange aus!“

„Ich habs gesehen.“ Essebi erhebt nicht einmal die Stimme, so sicher ist er sich seiner Sache. „Wir waren mit einer Piroge unterwegs. Plötzlich fiel der Motor aus. Irgendetwas hat die Schraube blockiert. Und dann ist dieser Mann angetrieben mit seinem kleinen Floß, und hat seine Hilfe angeboten. Er ist unter das Boot getaucht und nach einer halben Stunde …“, Essebi schaut den Oberst Laurentiu eindringlich an, „… nach einer halben Stunde ist er wieder aufgetaucht, in der Hand das armlange Stück Holz, das sich in der Schiffsschraube verklemmt hatte.“

„Er hat irgendwo nach Luft geschnappt, wo du es nicht gesehen hast.“ Laurentiu verfällt immer in die Du-Form, wenn er einen Kongolesen belehrt.

Essebi schüttelt nur den Kopf. „Drei-ßig Mi-nu-ten.“ Er betont jede Silbe.


„Drei-ßig Mi-nu-ten!“

„Dann war das ein Krokodilmann“, wirft der Oberstleutnant Bandundu ein.

Da schau her! Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Mann Humor hat. Bandundu kommt von der Generalinspektion der kongolesischen Armee, und wenn er auftaucht, ist normalerweise Schluss mit lustig in den staubigen Kanzleien der Provinzgarnisonen. Er überprüft die Abrechnungen der Einheiten, mit kalten Augen hinter kleinen Brillengläsern. Und wenn er grobe Unstimmigkeiten findet, holt er die Schergen vom gefürchteten Militärtribunal. Bandundu macht keine Witze, wird mir klar.

„Ein Krokodilmann“, sagt er noch einmal, als zitiere er einen Paragrafen aus dem Leitfaden zur Verwaltung des Verpflegsgeldes.

„Das gibt’s“, murmelt der dicke Oberstleutnant Mabelo von den kongolesischen Landstreitkräften schläfrig. Dann döst er weiter.

Major Essebi nickt.

Der Oberst Laurentiu holt Luft zu einer empörten Entgegnung, aber Bandundu funkelt ihn warnend an und fährt fort: „Ein Krokodilmann taucht als Mensch unter und verwandelt sich unter Wasser in ein Krokodil. Es gibt viele davon an den Flüssen. Und welche, die sich in andere Tiere verwandeln können. Mein Onkel zum Beispiel, ein Bruder meines Vaters, war ein Leopardenmann. Als ich klein war, hat er uns in der Früh oft eine Gazelle gebracht, die er nachts gejagt hat.“

„Lebt er noch?“, frage ich schnell, Laurentius anhaltende Sprachlosigkeit nutzend.

Bandundu schüttelt bedauernd den Kopf. „Sie haben Jagd auf ihn gemacht und ihn erschossen.“

„Als Mensch?“

„Als Leopard. Normalerweise schleppen sie sich in ein Versteck, wenn sie getroffen werden, und nehmen dort mit letzter Kraft noch einmal ihre menschliche Gestalt an, ehe sie sterben. Aber meinen Onkel haben sie genau ins Herz getroffen. Er ist als Leopard gestorben.“

„Mein Beileid.“

„Danke.“

Das bringt das Fass des Oberst Laurentiu zum Überlaufen. „Jetzt aber Schluss mit dem Unfug! Das ist der gleiche Scheiß wie in meiner Heimat mit den Wölfen und den Fledermäusen! Ich glaube nichts von dem Quatsch. Ich akzeptiere nur Dinge, die sich wissenschaftlich erklären lassen.“

Die Kongolesen zucken ungerührt die Achseln.

„Du sagst also, kein Mensch kann dreißig Minuten ohne Sauerstoff überleben?“, frage ich Laurentiu.

„Genau. Unmöglich!“

„Na bitte“, sage ich. „Damit haben wir den wissenschaftlichen Beweis. Es muss ein Krokodilmann gewesen sein. Ein Krokodil hält es ohne Weiteres eine halbe Stunde aus.“

Laurentiu schnaubt verächtlich, aber meine kongolesischen Kameraden nicken mir anerkennend zu. Endlich ein Mundele2, der versteht, was Sache ist in Afrika.

Bandundu beugt sich vertraulich zu mir. „Ich habe da ein Projekt, Herr Oberstleutnant“, sagt er halblaut.

„Ich bin ganz Ohr.“

„Ich schreibe an einem Buch über diese Tiermenschen. Wir müssen sie ausfindig machen. Die müssen uns helfen, verstehen Sie?“

Ich schüttle vorsichtig den Kopf.

„Ich will damit sagen …“, Bandundu zögert kurz, „… wir müssen sie in die Armee integrieren.“ Er mustert mich fast ängstlich, gewärtig, ein spöttisches Grinsen um meine Mundwinkel flackern zu sehen.

Es ist wohl dieser Blick, der es mir ermöglicht, todernst zu bleiben. „Verdammt gute Idee, Herr Oberstleutnant.“

Bandundus Augen hinter den Brillengläsern beginnen zu leuchten. „Stellen Sie sich vor: eine Krokodilkompanie, eine Leopardenkompanie, eine Schlangenkompanie … schwarze Mambas“, zischt er verschwörerisch. „Niemand könnte uns widerstehen. Und wir würden endlich von einer Armee der Verlierer zu einer Armee der Sieger werden.“ Er lehnt sich mit der Andeutung eines Seufzers zurück, das Abendrot wie den Schein der künftigen Glorie der FARDC3 auf seinem Gesicht.

Die Armee der Demokratischen Republik Kongo hat noch nie gewonnen. Ist immer nur davongelaufen. Vor allen. Seit Jahren halten ein paar hundert Rebellen in Gummistiefeln zwanzigtausend kongolesische Soldaten in der Provinz Kivu in Atem und fügen ihnen eine Schlappe nach der anderen zu. Jahrzehntelang haben Berater aus Europa, Amerika, Russland, China versucht, aus diesem korrupten Haufen eine schlagkräftige Truppe zu machen. Vergebens. Bandundu, der kühle Rechner, hat es erkannt: Der ganze westliche Firlefanz wird nie funktionieren. Die Kongolesen müssen sich selbst helfen. Die Krokodilmänner müssen her.

„Wenn ich fertig bin, übergebe ich mein Buch dem Präsidenten“, flüstert er mir zu.

„Was heckt ihr beiden da schon wieder für abenteuerliche Geschichten aus?“, bellt der Oberst Laurentiu.

„Nichts“, sagt Bandundu.

„Nichts“, sage ich. Schließlich handelt es sich um ein militärisches Geheimnis.

Ehe Laurentiu nachhaken kann, tritt Monsieur Maisha an unseren Tisch. Das Schwein sei jetzt fertig.

Als ich mich durch die knusprige Kruste säble, kommt mir ein beunruhigender Gedanke: Ob es wohl versucht hat, sich zurückzuverwandeln, als ihm Monsieur Maisha die Kehle durchgeschnitten hat? – Es gibt keine Schweinemenschen, beruhige ich mich. Aber ich wage nicht, den Oberstleutnant Bandundu danach zu fragen. Aus Angst, er könnte mit vollem Mund antworten: „Natürlich. Meine Tante zum Beispiel, die hier in Kikwit …“


Tante?

1Mützig: populäres, helles französisches Bier

2Mundele, lingala: ein Weißer

3FARDC: Forces Armées de la République Démocratique du Congo, die kongolesischen Streitkräfte

Mein Onkel der Leopardenmann

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