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MALHEUREUSEMENT EINE BEDAUERLICHE GESCHICHTE

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Kisangani, das ehemalige Stanleyville, war einst einer der wichtigsten Handelsplätze und Verkehrsknotenpunkte am Kongo. Von hier aus ist der große Fluss schiffbar. Ältere Menschen erinnern sich noch an die Zeit, als in Kisangani regelmäßig Passagier- und Frachtschiffe an- und ablegten, die Kräne quietschten und Eisenbahnzüge in Richtung Osten rollten. Nach fünfundfünfzig Jahren Unabhängigkeit ist davon nicht viel mehr übrig als eine Handvoll Einbäume. Malheureusement.

„Schlau, wie du hier die Gegenströmung ausnützt“, sage ich zu dem Mann, der im Heck des Einbaums steht und das spitze Ruderblatt durch die braunen Strudel des Kongo zieht. Wir sind unterwegs zum rive gauche, dem pittoresken ehemaligen Villenviertel von Kisangani am linken Ufer des Kongo.

Der schlaue Fährmann nickt zwischen angespannten Nackenmuskeln. „Malheureusement“, setzt er dann an, und ich wünsche mir wieder einmal, ich hätte den Mund gehalten.

„Malheureusement“, „bedauerlicherweise“, ist der rituelle Auftakt jeder neuen Strophe des Großen Kongolesischen Klageliedes. Ich bin inzwischen überzeugt, dass so ziemlich jeder Kongolese spätestens bei der Erstkommunion (oder wahlweise der ersten Anprobe des Penisköchers) einen heiligen Eid ablegen muss, es sofort anzustimmen, sobald ein Mundele die geringsten Anzeichen zeigt, sich für seine Lebensumstände zu interessieren. Ein schlichtes „Guten Tag“ kann schon verhängnisvoll sein. Auf das „Malheureusement“ folgt gewöhnlich eine Schilderung der eigenen trostlosen Lage – die kranke Frau und die drogensüchtigen Kinder etwa – gefolgt von einer Darstellung der unhaltbaren Wirtschaftssituation, der Korruption, des Krieges, kurz: des Leids des Schwarzen Kontinents. Und über all dem schwebt ein großer, stiller Vorwurf. Denn wir wissen doch beide, mein Bruder mit der trügerisch unschuldigen, weißen Haut, wer in Wahrheit schuld ist an der ganzen Misere hier. Und daher hielte ich einen kleinen Wiedergutmachungsbeitrag hier und jetzt in meine aufgehaltene Hand für das Mindeste.


Im EInbaum

Ich schalte meine Hirnschleuse auf Durchzug, während das Lied des Fährmanns dahinströmt wie der große, träge Fluss, den wir queren. „Gibt keine Arbeit und keinen Lohn in diesem Land“, sagt er, während seine sehnigen Arme vor Schweiß glänzen. Wir haben für die Überfahrt den stolzen Weißenpreis von fünfzehn Dollar vereinbart. Fünfzehn Dollar für eine Stunde Arbeit. Ein kongolesischer Admiral verdient hundert Dollar im Monat. Ich wünsche mir, mein Kamerad, der Konteradmiral Jean de Dieu Amisi, wäre mit an Bord. „Maul halten und rudern!“, würde der zu seinem Landsmann sagen. Kongolesen sind im Umgang miteinander von einer erfrischenden Direktheit. Lingala, die Sprache, die an den Ufern des Großen Flusses gesprochen wird, kennt weder ein Wort für „bitte“ noch eines für „danke“. Ja, der Admiral Amisi würde seine Botschaft klar an den Mann bringen. Leider hat er die Überfahrt aufs rive gauche ebenso klar abgelehnt. Nicht im Einbaum, hat er gesagt, nicht bei all den Krokodilen, die sich hier herumtreiben.

Malheureusement sehe ich kein einziges Krokodil, bis sich der Bug unserer Quasselbarke endlich ans linke Ufer schiebt. „Nichts als Arbeitslose!“, keift mir der Fährmann nach. „Rückfahrt in einer Stunde“, rufe ich ihm über die Schulter zu und springe erleichtert an Land.

Viktor, mein Chauffeur, der die ganze Überfahrt lang geschwiegen hat, führt mich die Allee hinauf, an der die alten Villen stehen. Es ist ein bisschen wie in einem tropischen Zentralfriedhof. Die verfallenden Häuser der gefallenen Kolonialherren sind zu Mausoleen ihrer selbst geworden. In allen Stadien der Verwesung schielen sie uns aus leeren Fensterhöhlen nach.


Das Villenmausoleum von Kisangani

„Muss einmal schön gewesen sein hier“, liegt mir auf der Zunge. Ich schlucke es schnell hinunter, um den angenehm schweigsamen Viktor nicht zu einem Malheureusement zu provozieren.

Dabei fällt mir ein kongolesischer General ein, den ich auf den reparaturbedürftigen Zustand der Wasserleitung in seiner Kaserne angesprochen habe. „Haben die Belgier gebaut“, hat er geantwortet, „malheureusement haben sie sie nicht in Stand gehalten.“ Eine Feststellung, in der rechtschaffene Empörung über diese pflichtvergessenen Hallodris mitgeschwungen ist.


Grasende Dampflok

Aus dem brusthohen Gras zu meiner Linken schiebt sich der Schlot einer abenteuerlustigen kleinen Dampflokomotive. Ich reibe mir die Augen.

„Der alte Bahnhof“, erklärt Viktor.

Ich zücke meinen Fotoapparat.

„Oho, so geht das nicht!“, tönt es von links unten. An der Wand eines heruntergekommenen Stationsgebäudes lungern drei Müßiggänger. Oder Eisenbahner, was bösen Zungen zufolge fast dasselbe ist. Im Kongo mehr als anderswo.

Ich stelle mich vor und werde an den Herrn Inspektor verwiesen, der im Erdgeschoss des Gebäudes logiert. „Kein Problem“, sagt der Herr Inspektor auf meine Bitte um einen kleinen Bahnhofsrundgang. Er werde mir sogleich einen Termin beim Herrn Bahnhofsvorstand arrangieren. Ein weiterer Bediensteter wird in den ersten Stock geschickt, um mich anzukündigen. Insgesamt entdecke ich etwa ein Dutzend Männer, die sich in dem Stationsgebäude verstecken. Wenig später werde ich nach oben gebeten. Eine steile, breite Treppe, Teakholz geölt, führt mich in das schönste Büro, das ich im Kongo je gesehen habe: holzgetäfelt bis an die Decke, schwere, messingbeschlagene Möbel aus den Dreißigerjahren. Der Bahnhofsvorstand ist etwas jünger, ein jovialer Herr Mitte sechzig, schätze ich. Ich entschuldige mich dafür, ihm seine kostbare Zeit zu stehlen, und er lächelt müde.

Malheureusement verkehre von diesem Bahnhof nur mehr ein Zug pro Woche. Ich wundere mich, dass überhaupt noch einer fährt, denn die Geleise sind unter dem hohen Gras kaum zu erkennen.

Der Bahnhofsvorstand führt mich auf seinen kleinen Balkon und zeigt mir die Kräne, die unten am Flussufer aufragen. Da hätten früher die Schiffe aus Kinshasa angelegt, sagt er. Ihre Fracht sei direkt auf die Züge verladen und weiter in Richtung Osten transportiert worden.


Im Bahnhofsviertel

Ob die Kräne noch funktionierten.

Aber nein!

Warum sie dann noch herumstünden?

„Malheureusement“, sagt der Bahnhofsvorstand, „fehlen uns die Mittel, um sie abzubauen.“

Ein weiterer Kernsatz in der Mannwerdung des jungen Kongolesen: Wenn dich wer fragt, warum du nicht tust, was getan werden sollte, sag einfach: „Bedauerlicherweise fehlen uns die Mittel.“

Ich erinnere mich an einen Oberst, den ich aufgefordert habe, die Lagekarte an die Wand seines Büros zu hängen, damit alle sie sehen könnten. „Malheureusement fehlen uns dafür die Mittel“, hat er mir gesagt, ohne im Geringsten rot zu werden. Mit dem Schämen haben es manche Kongolesen nicht so.


„Einbaum auf Bahnsteig 1 zum Einsteigen bereit!“

Schließlich wird der Inspektor angewiesen, uns eine kleine Führung über das Bahnhofsgelände zu geben. Er zeigt uns einen Werkzeugschuppen, eine ausgeschlachtete Diesellok, verrostete Waggons im Grünen, einen Einbaum am Trockenen. Was zum Teufel macht der da?

Diebe, erklärt der Inspektor. Sie seien damit über den Fluss gekommen, um Eisenteile zu stehlen. Man habe sie vertrieben und ihr Flaggschiff hierhergeschafft. Gute Idee, finde ich. So hat keiner was davon. Eine klassische Lose-Lose-Situation.

Nach einer knappen Stunde verlassen Viktor und ich den freundlichen Hafenbahnhof und schlendern still zurück durch die Allee der Toten Villen. „Muss wirklich schön gewesen sein hier in der Kolonialzeit“, entschlüpft es mir zu meinem eigenen Schrecken.

Viktor blickt auf. „Malheureusement“, hebt er an, wie das Gesetz des Dschungels es befiehlt. „Malheureusement sind wir keine Kolonie mehr.“

Mein Onkel der Leopardenmann

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