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1: Sarah

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Nach einer abschliessenden Diskussion im Auto, das sie kurzerhand auf der Strasse vor dem Hotel abgestellt hatte, war alles klar gewesen. Es gab nicht mehr viel zu sagen und nachdem Sarah gewendet hatte, schaute er ihrem Auto nach, bis die Rücklichter unter einer Autobahnbrücke verschwanden. Erst dann drehte er sich um und betrat das Hotel, das er ohne lange zu überlegen ausgewählt hatte.

Peter brachte sein Gepäck, das eigentlich nur für einen Wochenendausflug geplant war und nun alles war, was er besass, auf sein Zimmer. Fünf Minuten später stand er bereits wieder vor dem Hotel und machte sich auf den Weg zu dem Stadtpark, in dem er die Drogenscene vermutete. Obwohl Peter nur hundert Franken für seinen Neustart hatte, war klar, dass er als erstes Heroin besorgen würde.

Ein milder Frühlingstag ging zu Ende, deshalb traf er so spät noch einen Dealer an. Der Stoff war schnell geschnupfte und weil er clean war, setzte die Wirkung sofort und heftig ein. Wieder zurück im Hotel legte er sich aufs Bett, aber an Schlaf war nicht zu denken.

Peter studierte vielmehr die Zimmerdecke, wo vor seinem inneren Auge der Film der vergangenen Jahre und Minuten ablief.

Vor fast zehn Jahren und einige Monate nach der Geburt seines Sohnes, hatte Peter nach einer längeren abstinenten Zeit wieder zu harten Drogen gegriffen. Einmal mehr hatte er so sein scheinbar perfektes Leben zerstört und er war von allen Beteiligten derjenige, der das am allerwenigsten begriff. Verzweifelt versuchte Peter damals, die Situation zu retten und begann eine Therapie im Tessin, die nach dem Vorbild eines indischen Ashrams aufgebaut war. Seine einzige Pflicht in dieser Institution war es, zusammen mit der Gruppe täglich eine Stunde Mantras zu singen und sich am Haushalt zu beteiligen. Freunde, mit denen er noch Briefkontakt hatte, schrieben ihn bereits endgültig ab, weil sie befürchteten, dass er jetzt auch noch einer Sekte verfallen war.

Bereits nach wenigen Wochen lernte Peter glücklicherweise Sarah kennen.

Sie war Ärztin und Homöopathin und führte seit vielen Jahren eine Arztpraxis, die nur einen Spaziergang von der Drogentherapie entfernt war und Peter hatte grosses Glück, dass Sarah für deren Bewohner immer einen Termin frei machen konnte. Normalerweise war das allerdings am Schluss ihres Arbeitstages, der bis um zwei oder vier Uhr in der Nacht dauerte.

Diese Termine waren für Therapiebewohner freiwillig und kein fester Bestandteil der Drogentherapie. Sie waren unentgeltlich und Sarah wollte kein Geld für die Gespräche, die sie mit Peter führte.

Schon während der ersten Behandlungssitzung merkte Peter, dass Sarah ein aussergewöhnlicher Mensch war. Neben der Arbeit in ihrer Arztpraxis kämpfte sie als eine der Besten auf ihrem Gebiet an vorderster Front für die Komplementärmedizin und leitete damals zusätzlich ein Heim für Behinderte, das im gleichen Dorf lag. Sarah arbeitete täglich zwanzig Stunden und konnte auch mal einen Monat ganz auf Schlaf verzichten. Ihre Agenda war so voll, dass neue Patienten normalerweise drei Jahre auf einen Termin warten mussten. Viele nahmen stundenlange Fahrten aus dem In- und Ausland auf sich, um von ihr behandelt zu werden.

Was er in den Sitzungen mit Sarah, die oft bis zur Morgendämmerung dauerten, lernte, prägte sein zukünftiges Denken und Fühlen. Zusätzlich lernte Peter, sich mit Worten auszudrücken, vor allem aber erkannte er, dass stundenlanges Rezitieren von Mantras und das Abbrennen von Räucherstäbchen nur wenig mit Spiritualität zu tun haben. In seinem Fall waren sie jedoch ein gutes Mittel, um an das Geld von Drogenabhängigen zu kommen, die für die Therapie bezahlten. Irgendwie muss man ja überleben. Auch als Therapieinstitution und es gab zweifellos Drogensüchtige, denen in diesem ‚Ashram‘ geholfen wurde. Genau genommen auch Peter, denn in der Therapie lief es am Anfang, auch dank der Behandlung von Sarah, recht gut.

Peter konnte davon ausgehen, dass er noch mal Glück gehabt hatte. Sein letzter Arbeitgeber hatte ihm versprochen, dass er nach erfolgreicher Therapie an seine Stelle in Luzern zurückkehren könne und mit der Mutter seines Sohnes hatte er vereinbart, dass in diesem Fall auch ihre Beziehung weitergehen würde. Der wohl folgenschwerste Absturz seines Lebens war somit nur ein Ausrutscher gewesen, den er nochmal korrigieren konnte.

Diese Illusion platzte aber, als die Mutter ihres gemeinsamen Kindes ihm nach einigen Monaten mitteilte, dass sie ihre Meinung geändert hatte. Bereits bei ihrem ersten Besuch stellte sie ihn bei einem längeren Gespräch vor vollendete Tatsachen:

„Peter, du musst verstehen, dass ich Michi schützen muss,“ teilte ihm seine inzwischen Ex-Freundin mit, „und das ich deshalb keinen Vater mit Drogenproblemen brauchen kann. Egal wie die Therapie ausgehen wird.“

Peter konnte diesen plötzlichen Meinungsumschwung natürlich nicht verstehen und die Talfahrt ging noch weiter, denn nur eine Woche später erhielt er die endgültige Kündigung seines Arbeitgebers. Dort war der Grund ein neuer Betriebschef, der ebenfalls keine Lust auf Leute mit Drogenproblemen irgendwelcher Art hatte.

Seine Zukunftspläne hatten sich somit innert wenigen Tagen in Luft aufgelöst.

Am Boden zerstört erinnerte er sich an ein Gespräch mit einem Mitglied aus der Therapiegruppe. Damals, auf der Hausterrasse mit Blick auf den See von Lugano, hatte Peter behauptet, dass er am liebsten bei Sarah arbeiten und leben würde.

Er ahnte, dass sein Leben auf spezielle Weise mit ihr verknüpft war und weil er wusste, dass sie eine Hilfe bei der Renovation ihres Hauses und für die Gestaltung des grossen Gartens brauchte, klammerte er sich nun verzweifelt an diese Idee, den mit den Tiefschlägen der letzten Tage wurde er vorerst nicht fertig.

Peter brach die Therapie nach einem halben Jahr ab, konsumierte wieder Drogen und flüchtete dann auf eine Alp in den Tessiner Bergen. Den Kontakt mit den Alpbesitzern hatte er mit Hilfe der Mutter seines Sohns geknüpft, mit der er wenigstens noch ab und zu telefonierte. Auf dieser Alp musste Peter einige Monate lang alleine eine Rinderherde betreuen, was zu einer harten Lebenserfahrung wurde. Anfangs hatte er nicht einmal ein Radio und nachdem er den Heroinentzug selbstständig hinter sich gebracht hatte, erfuhr Peter, was es heisst, wochenlang keinen Kontakt zu anderen Menschen zu haben.

In dieser Zeit schrieb er Sarah unzählige Briefe, in denen er sie immer wieder um eine Anstellung bat. Als der Alpsommer vorbei war, hatte Peter immer noch keine konkrete Antwort und musste sich nach dem Verladen der Tiere am Bahnhof entscheiden, wo sein Leben weitergehen würde. Weder nördlich noch südlich des Gotthards schien in jemand zu vermissen oder gar zu erwarteten. Somit blieb ihm nichts anderes übrig als auf sein Gefühl zu hören und er bestieg den Zug nach Süden. Es folgten wirre Tage bei Bekannten im Tessin und zwei ruhige, drogenfreie Wochen bei Biogärtnern im Verzasca-Tal. Dort erhielt er von Sarah endlich die Zusage für den erhofften Landschaftsgärtnerjob.

Daraus wurden fast zehn Jahre, in denen sie ihn unterstützte und ihm trotz der schwierigen Umstände ermöglichte, die Kindheit seines Sohnes zu begleiten.

Michi war fast jeden Monat für einige Tage bei ihnen in den Ferien und weil Peter während all den Jahren bei Sarah keine Drogen konsumierte, gelang es ihm, eine sehr schöne und von Liebe geprägte Beziehung mit ihm aufzubauen.

Trotzdem zog es ihn immer wieder zurück nach Luzern.

Obwohl Peter oft miterlebte, wie Sarah das Leben von Menschen, die laut Schulmedizin keine Chance mehr hatten, um viele Jahre verlängerte, viele Drogensüchtige rettete, und ihr einige Heilungen gelangen, die an Wunder grenzten, konnte sie ihm bei seinem Drogenproblem nur helfen, wenn er im Tessin blieb.

Da sein Sohn aber bei seiner Mutter wohnte, und aus anderen Gründen, wie zum Beispiel sprachliche Unterschiede, im Tessin spricht man vorwiegend italienisch, versucht er mehrmals wieder in der Deutschen Schweiz neu zu beginnen. Diese Versuche scheiterten leider regelmässig an seinem Drogenproblem.

Nach stundenlangen Telefongesprächen und viel Überzeugungsarbeit, erlaubte ihm Sarah mehrmals, wieder zu ihr zurückzukehren. Sie pflegte ihn während den kalten Entzügen, auf die sie bestand, und hielt in diesen Jahren hunderte von Stunden Gesprächstherapie mit ihm aus, die eine komplette Analyse seines Lebens beinhaltete. Peter war ein Teil ihrer Familie geworden, die in gewisser Weise zusätzlich aus etwa 300 Patienten bestand.

Vor zwei Tagen hatte er Sarah an einen Kongress in der Deutsch-Schweiz begleitet. Auf der Hinfahrt hatten sie Michi nach Hause gebracht. Sie hatten zusammen zwei wunderschöne Ferienwochen erlebt.

Wenn er diese Fahrten selbstständig und ohne Begleitung machte, hatte Peter das mehrmals mit einem Abstecher auf die Gasse verbunden, wo er den Trennungsschmerz mit einem Heroinabsturz überdeckte. Natürlich merkte Sarah das regelmässig und aus diesem Grund brachten sie Michi so oft wie möglich gemeinsam zurück.

Wie üblich war der Abschied hart gewesen.

Am Tagungsort, an den er mit Sarah weitergefahren war, verkroch sich Peter im Hotelzimmer und war das ganze Wochenende unausstehlich. Weil er nach dem Kongress mit Sarah ins Tessin zurückkehren würde, gab es keine Möglichkeit sich zu betäuben und er fürchtete sich vor den depressiven Tagen, die ihm unvermeidlich bevorstanden.

Auf der Rückfahrt begann Peter eine hässliche Diskussion, die er kurz vor Luzern so weit getrieben hatte, dass Sarah irgendwann ohne Ankündigung und entnervt das Steuer herumriss und in die Autobahnausfahrt nach Luzern einbog. Dann ging alles sehr schnell und jetzt lag er von Heroin betäubt in diesem Hotelzimmer, dass für drei Nächte bezahlt war, schaute an die Zimmerdecke und hatte vorerst keine Ahnung, wie sein Leben weitergehen würde.

Peter realisierte inzwischen, dass er einmal mehr in seiner alten Stadt hängen geblieben war und fühlte, dass es diesmal keine Rückkehr ins Tessin geben würde.

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