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Tagebucheintragung 22.04.2020

DAS CORONA-VIRUS MACHT SICHTBAR

Wie schon erwähnt, hat es wirklich eine Weile gedauert, bis ich zum Betroffenen in der Corona-Krise wurde. Zu Hause habe ich mich inzwischen organisiert. Aber ich musste realisieren, dass eine halbes Jahr Vorarbeit für geplante Filmtätigkeiten verloren ist.

Für September hatte ich meine Zweiten Salzburger Armutsfilmtage geplant mit meinem neuen DOKU-Film „Der Kampf gegen die Armut“ (Untertitel: Der Weg aus der Armut und dem Kastensystem in Indien.). Ich habe keine Ahnung, wie das gelingen soll. Außerdem wollte ich Gäste aus Indien einladen, die meine Hauptdarsteller*innen im Film waren. Die Erstaufführung in Indien wird im Oktober sein. Das könnte sich ausgehen. Einnahmen bleiben aus, und von der finanziellen Situation brauche ich nicht zu reden. Nach der Krise werden meine Partner sicher nicht als Erstes daran Interesse haben, mit mir einen Film zu machen. Ich weiß momentan nicht weiter. Ich muss meine finanzielle Basis ausbalancieren.

Das tut mir richtig weh. Ich habe einen Entzug, vermutlich wie viele andere Menschen derzeit auch. Bewegungsbeschränkung, Kontaktentzug, Arbeitsentzug, Wirkungsentzug, Gewohnheitsentzug. Ich stecke in einer emotionalen Ohnmacht. Corona macht mir das sichtbar. Das gefällt mir ganz und gar nicht. Ich fühle mich kaltgestellt.

Tagebucheintragung 24.03.2020

Wie schon gewohnt, steht heute Aufräumen weiter am Programm. Zuerst kommt der Fußboden an die Reihe. Den will ich gründlich saugen. Hat geklappt. Jetzt beginne ich mit dem Aussortieren. Dazu muss ich jedes Ding, jedes Buch, jedes Kabel, uralte Manuskripte und lieb gewordene Erinnerungen aus einer Schachtel herausnehmen, begutachten, meist abstauben und dann entsorgen oder einem neuen Platz zuordnen. Hier spießt es sich, wenn ich mich davon trennen soll.

Erinnerungen tauchen wieder auf, die ausgelöst werden. Darüber schlafe ich noch eine Nacht. Irgendwie werden die Sachen nicht weniger. Beim Wegwerfen bin ich nicht entschlossen genug und ich habe das Gefühl, mich im Kreis zu drehen. Dafür brauche ich eine Lösung. Für heute reicht es aber.

10.30 Uhr Ich lasse jetzt das Aufräumen sein und gehe meine Runde im Freien. Immerhin scheint die Sonne, aber es ist eisig kalt.

Mit meinen Gedanken bin ich heute morgen bei meinem Hörbuch. Ich höre leidenschaftlich gerne Hörbuch, es birgt für mich eine andere Qualität als ein Buch selber zu lesen. Spazierengehen und Hörbuchhören, das ist ein Genuss. Da macht mir sogar der scharfe, kalte Wind wenig aus. Außerdem lässt es mich die Corona-Zeit vergessen.

Der Titel meines Hörbuches lautet „Der freie Hund - Commissario Morelli ermittelt in Venedig.“ Dieser Krimi ist unglaublich spannend, wird von einem hervorragenden Sprecher gelesen und ist zeitnah. Er erzählt das Kreuz mit den Kreuzfahrtschiffen, die gerade dabei sind, die Lagune in Venedig zu ruinieren. Aus der Gruppe von Student*innen, die sich dem entgegenstellen, wird der Anführer der Gruppe getötet. Das löst eine intensive Morduntersuchung aus. Der Commissario erfährt die Argumente der Studierenden. Da sind die 3000 bis 4000 Touristen pro Schiff, die die Straßen in Venedig verstopfen. Sie kaufen nichts ein außer billige Glasimitationen aus China und ruinieren so das alte Glasbläserhandwerk in Murano. Sie essen am Schiff, weil sie dort Vollverpflegung haben und verursachen einen Haufen Müll. Es sind schwimmende Hochhäuser, die ihre stinkenden Abgase über Venedig verbreiten und alles, das unter Wasser ist, kaputt machen. Sie sind der Tod der Lagune. „Warum lässt die Stadtverwaltung die Schiffe hier landen?“, fragt eine Polizistin den Direktor. „Es geht um einen wirtschaftlichen Wert für die Hafengesellschaft und Venedig von 33,6 Mio. Euro pro Jahr. Wir verwalten sieben multifunktionale Anlegestellen, sechs große Parkplätze. Seit dem Gründungsjahr haben wir 30 Mio. Gäste in Venedig begrüßt. Der Gewinn sind stolze 3,6 Mio. Euro pro Jahr. Wir können zwei Kreuzfahrtschiffe mit der Kapazität von 4000 Gästen gleichzeitig abfertigen. Wenn man die Kreuzfahrtschiffe nicht hereinlässt, dann trifft das 5000 Arbeitsplätze, und das könnte Venedig ruinieren.“

Die Geschichte beleuchtet im Moment das Geschehen in Venedig, wieder lese ich in der Zeitung „Mutter Natur erholt sich“. In Venedig ist das Wasser sauber, und die Fische tummeln sich darin. Ohne das Corona-Virus hätte dieser Beweis, wie schnell sich die Natur regeneriert, niemals angetreten werden können. Ich bin dafür, dass die Kreuzfahrtschiffe nie mehr nach Venedig hineinfahren dürfen. Es gibt nun kein Argument mehr dafür, aber viele dagegen. Ein Stopp der Profitgier! Die Natur hat Vorrang.

Fast zeitgleich sehe ich in der Nachrichtensendung Bilder aus Venedig. Historische Bilder. Leere Plätze, leere Cafés, leere Kanäle. Keine Touristen. Sensationell.

Ich erinnere mich noch sehr genau an eine meiner Reisen nach Venedig. Dort hatte ich so ein Erlebnis mit einem Kreuzfahrtschiff. Ich stand am Markusplatz und plötzlich senkte sich ein Schatten herab. Da gerade zuvor die Sonne noch hell geschienen hatte, konnte ich mir nicht erklären, wo auf einmal dieser Schatten herkam. Bis ich dann das Kreuzfahrtschiff, einem schwimmenden Wolkenkratzer gleich, zu Gesicht bekam. Das war ein Gänsehautmoment. Das Schiff zog in unbeschreiblicher Eleganz vorüber, tausende Kameras klickten und versuchten, diesen Augenblick einzufangen.

Mit dem Informationsstand von heute sehe ich das ganz anders. Das Corona-Virus zeigt mir eine völlig neue Dimension dieser Geschichte auf. Ich bin dafür, dass keines dieser Monster mehr Erlaubnis erhält, nach Venedig hineinzufahren.

Tagebucheintragung 26.03.2020

Beim Frühstück lese ich Zeitung. Neben der Schlagzeile „Prinz Charles an Corona-Virus erkrankt“ steht eine zweite Meldung: „Trump: Tausende Suizide größere Gefahr als Corona“. Als Untertitel ist angeführt „Wirtschaftskrise ist schlimmer als Virus, zeitgleich warnt die Studie vor Millionen Toten“.

Ich lese im Text: „Die Oma retten oder die amerikanische Wirtschaft, auf diese makabre Gleichung lässt sich zusammenfassen, was derzeit in den USA bei der Bekämpfung der Corona-Seuche abläuft. Präsident Donald Trump hat seine Entscheidung schon gefällt. Und nimmt, wenig überraschend, kaum Rücksicht auf das Leben der amerikanischen Großeltern. So hat der Senat im US-Kongress nach schwierigen Verhandlungen zwar ein mit zwei Billionen Dollar durchaus beachtliches Konjunkturprojekt als Hilfestellung für die US-Wirtschaft verabschiedet. Donald Trump rechnet mit bis zu 2,2 Millionen Toten in den USA, dennoch sieht er bereits `Licht am Ende des Tunnels`. `Ich will das Land bis Ostern wieder geöffnet und in den Startlöchern haben`, sagte er. Denn die größte Gefahr seien `Tausende Selbstmorde` in Folge einer Rezession. Gleichzeitig erklärt sein Vize-Präsident Mike Pence die Stadt New York zum Hochrisikogebiet …“.

Diese Nachricht sitzt bei mir wie ein Schlag in die Magengruppe. Mir ist übel. Das Frühstück schmeckt mir nicht mehr. Ich kann nicht glauben, was ich da lese. Das ist unglaublich. Ich könnte schreien vor Wut. Ich finde, dass Trump ein Egoist erster Klasse ist und frage mich: Hat er denn keine Oma und keinen Opa? Was treibt ihn zu solchen Aussagen, die er sowieso in zwei Tagen wieder zurücknimmt? Amerika mit diesem maroden Gesundheitssystem, das nur funktioniert, wenn du die Kreditkarte zückst. Ich versuche, mich wieder zu beruhigen, letztlich kann man seine Aussagen ohnehin nicht ernst nehmen.

Im Vergleich mit unserem Gesundheitssystem und der Fürsorge für alte Menschen durch unsere Regierung kann ich das einfach nicht fassen und nur hilflos mit den Schultern zucken. Die Hochrechnungen, die ich kenne, sind furchterregend. Frankreich, Italien und Spanien stehen mangels ausreichender Intensivbetten vor der Realität, auswählen zu müssen, wer von den Kranken eine Behandlung bekommt. Alte fallen durch. Sie haben keinen wirtschaftlichen Wert!

ALLTAG WAR GESTERN

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