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Schreckmomente
Vorwort

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Es kann ganz harmlos anfangen, mitten im Alltäglichen. Eine kleine Abweichung vom Gewohnten lässt uns ein zweites Mal hinblicken. Ein Witwer, der seine Haushaltabfälle seit dem Tod seiner Frau unauffällig in einen öffentlichen Abfalleimer drückt. Kennen wir ihn? Der laut vor sich hersprechende Straßenprediger, der im Gehen die Weltkatastrophe verkündet. Haben wir ihn nicht auch schon gesehen und waren erleichtert, als er in einer Seitengasse verschwand? Und wenn einer vor einem Demonstrationszug stehen bleibt und von einem alten Bekannten zum Mitgehen aufgefordert wird? Ein kleines Erschrecken über die Bresche, die in die Normalität geschlagen wird, und das Leben geht weiter.

Weniger harmlos: Ein Gestürzter, der in der Tiefe einer Schlucht gefunden und gerettet wird, aber die Frage, wie er heiße, nicht beantworten kann, ein Sonnenanbeter, der in der Mittagshitze eine endlose Felsentreppe hinaufsteigt und von dem, was er hört, bevor er zusammenbricht, überwältigt wird, ein Bub, der von andern Buben gefoltert wird – oft geht es nicht um den kleinen Schrecken, sondern um den großen, um Leben und Tod.

Aber oft geht es auch um Augenblicke, in denen etwas passiert, das nicht in unsere Welt gehört. Zar Alexander der Zweite reitet an einer Touristengruppe in Finnland vorbei. Ein korrekt gekleideter Mann springt aus einem Zeppelin auf einen Tannenwipfel, klettert hinunter und erkundigt sich bei den Leuten, die aus ihren Häusern gerannt kommen, nach dem Alphornpalast. Ein Schalter für Antworten, vor dem die Menschen Schlange stehen, wird überraschend geschlossen. Für die Dauer einer Buchseite betreten wir eine Schaubude des Surrealen.

Die wenigen Ich-Texte: Schreckmomente. Der Pass des Erzählers enthält seine richtigen Personalien, aber ein vollkommen anderes Foto, und der Grenzübertritt wird ihm verweigert. Eine geistesgestörte Frau bittet den Erzähler in ihren Garten, um ihm blaue Ameisen zu zeigen. Dieser Wahnidee wegen wird sie in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Bloß: der Erzähler hat die blauen Ameisen auch gesehen.

Nie können wir uns sicher fühlen, wir, die wir mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. Auf welchem Boden? Sind wir nicht zweifelsfrei in Hilterfingen gesehen worden, wo wir schon lang nicht mehr waren?

Immer trifft Kurt Martis Suchscheinwerfer auf ein Stück verfremdetes Leben.

Aber war da nicht noch etwas? Die Hoffnung auf etwas, das das Leben ganz macht? Die Suche danach gehört ebenso zum Menschen wie das Verirren im »Lebenslabyrinth«. In den Alphornpalast hat ein Blitz eingeschlagen, hören wir von einem, der drin war und mit verbundener Hand von der Notfallstation nach Hause kommt. Gesehen hat er kaum etwas, geschweige denn Alphörner gehört. In einem Gespräch vernehmen wir bloß, dass der Türsteher dieses Palastes der wortmächtige Prediger Pater Basilius Paraburi sein soll. Ein kleines Augenzwinkern des Autors, war doch Paraburi der Titel eines seiner früheren Werke, einer »Sprachtraube«, in der Sätze vorkamen wie »Niedergefahren zur Hölle, aufgefahren zum Himmel – sonst aber ging Jesus zu Fuss«. Jetzt hütet der verstummte Sprachgewaltige also nur noch einen Palast, dessen Inneres niemand kennt.

Wer sich in dieser Welt bewegt, kann in ihr nicht wirklich behaust sein. Dem Menschen, der versucht, dem Leben auf die Spur zu kommen, gibt Kurt Marti den Namen Herr Fremd. Für ihn gleicht die Welt einem Schauspiel, das in einer unverständlichen Sprache gespielt wird. Wenn Herr Fremd unterwegs ist, gehen seine Gedanken andere Wege als die Füße, und die Gedanken sind die eines Philosophen und Aphoristikers. »Die Seelenvögel verschwinden, die Seelenärzte vermehren sich«, geht ihm durch den Kopf, oder angesichts des rasenden Tempos, in dem sich das Sonnensystem durchs Weltall fortbewegt, fragt er sich: »Ist Leben ein Bremsprodukt, eine List der Schöpfung vielleicht, um wenigstens auf diesem Planeten Raum zu schaffen für ruhiges Werden und Wachsen?« Und immer, wenn Herr Fremd auftaucht, »um weiterhin seiner Gewohnheit, dem Leben, zu obliegen«, möchte man sich ihm eine Weile lang unbemerkt anschließen, denn das, was er von sich sagt, traf auch auf den Zeitgenossen Kurt Marti zu: »Nach wie vor aber weigere ich mich, im sozialen Theater die Rolle des Außenseiters oder gar eines Sonderlings zu spielen.«

Er hat uns dieses eigenartige Buch hinterlassen, das uns einlädt, dem Schrecken standzuhalten und seinen Füssen und seinen Gedanken zu folgen. Wer weiss, wohin sie uns führen? Vielleicht in einen Alphornpalast.


Franz Hohler

Der Alphornpalast

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