Читать книгу Zelenka - Trilogie Band 3 - Kurt Mühle - Страница 3
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ОглавлениеNur der letzte Punkt fehlte noch ...
Aber ehe er ihn tippen und damit seinen Text beenden konnte, wurde der Bildschirm schwarz. Genervt verfolgte er den automatischen Neustart seines Notebooks, doch mitten im Aufbau blieb das System hängen. Welche Taste Dieter mit allmählich wachsender Verzweiflung auch betätigte, es rührte sich nichts mehr. Nur der Cursor blinkte auf der schwarzen Scheibe wie der Herzschlag in einem ansonsten leblosen Körper.
Sollte der letzte Abschnitt seiner Aufzeichnungen nun verloren sein? Nein, das durfte nicht passieren! Gerade an diesem Schlussteil hatte er tagelang gearbeitet, unter Seelenqual geeignete Formulierungen gesucht, verworfen, umgestaltet, um seine Mitschuld zu bekennen und seine Reue glaubhaft zu machen. Endlich sollte die Wahrheit ans Licht kommen über das schreckliche Geschehen auf dem verhängnisvollen Klassentreffen vor beinahe fünfzehn Jahren, bei dem Bruno ums Leben kam. Die Polizei hatte die Umstände, die zu seinem Tod in der schmutzigen, düsteren, stillgelegten Eisengießerei führten, nie aufklären können. Alle Beteiligten hatten eisern geschwiegen, eine verschworene Gemeinschaft, die Kommissar Hasenbach keinen konkreten Anhaltspunkt bot. Und so schlummerte die Akte „Bruno“ im Aktenschrank bei den ungeklärten Todesfällen.
Dieter, einst die lebenslustige Ulknudel und der beliebte Klassenclown, trafen in den Jahren nach Brunos Tod harte Schicksalsschläge: Bei einem Autounfall starben seine Eltern; er selbst wurde schwer verletzt, war seitdem querschnittsgelähmt und an den Rollstuhl gefesselt. Aus dem heiteren, quirligen jungen Mann wurde ein stiller, zurückgezogener Melancholiker, der Kontakte mied und seinen Tag mit Lesen, Musikhören und Zigarettenrauchen verbrachte. Immer wieder hatte er versucht, ein Buch - einen Roman - zu schreiben, doch hinderten ihn daran immer häufiger Schreibblockaden, gepaart mit deprimierenden Zweifeln am bisher Geschriebenen.
Bei all dem quoll oft aus seinem Innern die düstere Frage auf, ob sein Schicksal die Strafe einer höheren Macht sei. Mit aller Willenskraft verdrängte er diese Gedanken. Erst im letzten Jahr schien ihm das Vergessen allmählich zu gelingen. Dieter gewann so etwas wie Lebensfreude zurück. Er suchte Kontakte zu alten Freunden, die er zuvor arg vernachlässigt hatte und mit denen er von nun an manch erbauliche Stunden verbrachte. Selbst sein alter Klassenkamerad Bastian besuchte ihn einige Male, auch wenn der ihm offenbar nur einen neuen Computer verkaufen wollte.
Doch sein Schicksal konnte er nicht besiegen. Bei einer Routineuntersuchung erhielt er eine niederschmetternde Diagnose: Lungenkrebs.
Eine psychologische Betreuung wurde ihm angeboten. Tage später lehnte er sie ab. Stattdessen überlegte er, ein Gespräch mit einem Priester zu suchen; er war sicher, zum Büßen seiner Schuld verurteilt zu sein. Doch zur Kirche hatte er keinerlei Kontakt. Er kannte nicht mal den Namen eines Pfarrers. So kam ihm der Gedanke, seine ehemalige Klassenkameradin Marion einzuladen. Von ihr wusste er, dass sie inzwischen Kripo-Beamtin war. In einem persönlichen Gespräch wollte er die ganze alte Geschichte erzählen, reinen Tisch machen ohne Rücksicht auf all die anderen von damals.
Er schrieb ihr einen Brief, lud sie ein in ein Lokal in seiner Nähe, das er mit dem Rollstuhl bequem erreichen konnte. Ein privates Treffen sollte es werden, gab er an; seinen wahren Grund erwähnte er nicht, - aus Furcht, nicht Marion, sondern der seinerzeit ermittelnde Beamte Hasenbach könnte zuständigkeitshalber zu dem Treffen erscheinen.
Wieder folgte eine Enttäuschung. Marion rief ihn an und machte ihm mit drastischen Worten klar, dass sie keinen Kontakt zu ihm wünsche. Die ganze Klassenklicke sei für sie gestorben. Das Telefonat beendete sie mit den harschen Worten: „Und stell’ jetzt bloß nicht die dämliche Frage nach dem Warum!“
Als sich Dieters depressive Stimmung in den nächsten Tagen etwas legte, beschloss er, das damalige Geschehen in der Gießerei niederzuschreiben. „Bruno“ tippte er als Überschrift in die Tastatur seines Notebooks. Die ersten Sätze fielen ihm unheimlich schwer, doch nach und nach gelang ihm der Text flüssiger, und zugleich spürte er innerlich die Erleichterung einer Lebensbeichte.
Einige Tage schrieb, feilte und korrigierte er an dem Text, den er - wie es sein soll - nach jedem größeren Absatz abspeicherte und zudem auf einer CD sicherte; denn sein Notebook neigte in letzter Zeit öfter mal zu Abstürzen.
Doch nun der totale Crash! Und das letzte Kapitel war noch nicht gesichert ...
„Die Götter weisen selbst meine Reue ab“, murmelte er und ließ schwer atmend den Kopf hängen. Als ein paar Tage später Bastian anrief, um sich mit ihm zu verabreden, da man voneinander lange nichts gehört habe, bat er ihn, zu versuchen, sein Notebook zu reparieren und möglichst die Daten zu retten. Bastian arbeitete im Vertrieb eines Computerhandels.
„Hört sich nach defekter Festplatte an“, meinte er, klemmte sich das Gerät unter den Arm und versprach, sein Möglichstes zu tun. -
Wirtschaftlich ging es Dieter recht gut. Einiges Vermögen hatte er von seinen Eltern geerbt, seine Rente betrachtete er als ein angenehmes Zubrot, das es ihm ermöglichte, sich eine Haushälterin zu halten, die zweimal in der Woche seine Wohnung in Ordnung brachte und Einkäufe erledigte. Zehra Ylmaz hieß seine „Perle“, war Türkin, äußerst zuverlässig und lebte mit ihrer Familie im Stadtteil Marxloh. Wenn sie zu ihm kam, nahm sie ihr Kopftuch ab, das sie nur trug, weil es der strenge Familienclan so verlangte. Im Grunde fühlte sie sich eher wie eine Deutsche.
Als Dieter ihre Offenheit einmal missdeutete und gegen Bezahlung von ihr auch körperlich verwöhnt werden wollte, wies sie ihn empört zurück. Es kostete ihn viele gute Worte und eine erkleckliche Lohnzulage, um sie daraufhin nicht als Haushaltshilfe zu verlieren. Für Geld tun die doch sonst alles, dachte er bei sich und musste zur Kenntnis nehmen, dass die einst so freundliche Zehra von nun an nur noch das Notwendigste mit ihm sprach.
Was Zehra ihm zu geben nicht bereit war, suchte er im einschlägigen Anzeigenteil des Stadtanzeigers, wo er rasch fündig wurde. Viele der Damen machten auch gern Hausbesuche, zumal Dieter sich nicht lumpen ließ. Eine von ihnen, die sich „Dolores“ nannte, hatte es ihm besonders angetan, so dass er sie bereits mehrmals zu sich bestellt hatte.
Auch heute Abend hatte Dolores wieder einen Termin bei ihm. Als er ihr nach mehrmaligem Klingeln endlich die Tür öffnete, schüttelte er abwehrend den Kopf und sagte barsch: „Heute nicht. Ich melde mich.“
Da er sogleich hastig die Tür schließen wollte, stemmte sie sich dagegen und schubste ihn mit dem Rollstuhl ins Zimmer. „So nicht“, meinte sie verärgert. „Wenigstens die halbe Miete, mein Lieber! Kalt abservieren ist bei mir nicht drin.“
Aus dem Reihenbungalow drang so lautes Stimmengewirr nach draußen, dass auf der Straße einige Passanten aufmerksam wurden, kurz stehen blieben, dann aber teils kopfschüttelnd, teils spöttisch lächelnd ihrer Wege gingen. -
Zehra hatte Schlüssel zu Dieters Wohnung. Am anderen Morgen kam sie wie seit Wochen wortlos und gesenkten Hauptes herein, um stumm ihre Arbeit zu verrichten. Aus dem Besenschrank holte sie den Staubsauger, brachte ihn ins Wohnzimmer und schloss das Kabel an.
Dieter saß in seinem Rollstuhl vorm Fenster. Anscheinend betrachtete er wieder mal sinnierend sein kleines Gartengrundstück. Zehra kümmerte sich nicht um ihn. Erst als sie sich ihm mit dem Staubsauger näherte, fragte sie forsch: „Darf ich mal?“
Dieter antwortete nicht. Sie wiederholte ihre Frage doppelt so laut, er aber rührte sich nicht. Ob er eingenickt war? - Sie ging um ihn herum und hielt entsetzt inne.
Als wäre er in seinem Rollstuhl eingeschlafen, hing sein Kopf auf der Brust. Seine Haare, sein Gesicht, sein ganzer Oberkörper waren rot gefärbt von Blut, das erkennbar von einer tiefen Wunde oberhalb der Stirn herrührte.
Der Anblick ließ Zehra erzittern, der Staubsaugergriff entglitt ihr. In Panik eilte sie in den Flur, ergriff Jacke und Handtasche und rannte auf die Straße, wo sie stolpernd einen jungen Mann anrempelte, der verwundert der Flüchtenden nachschaute. Dann blickte er zu dem Haus, aus dem die Frau gekommen war; die Haustür stand weit offen. Da stimmt was nicht, dachte er, ging vorsichtig ins Haus und rief einige Male: „Hallo. Ist da jemand?“.
Aus dem Wohnzimmer drang nur das Surren eines Staubsaugers. Er ging hinein und rief wenige Minuten später mit seinem Handy den Notruf der Polizei an. -
Eine Polizeistreife traf als erstes ein, dann kam der Notarztwagen, gefolgt vom Gerichtsmediziner und Kommissar Petzold, der nach einem ersten Blick auf den Toten die Spurensicherung anforderte. „Wann trat der Tod in etwa ein?“, wollte er von dem Arzt wissen.
„Das ist nach erster Schätzung gut und gern zwölf Stunden her. Also gestern Abend oder irgendwann in der Nacht. Genaueres später. Todesursache ist augenscheinlich die massive Schädelverletzung, die durch einen wuchtigen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand erfolgt sein dürfte.“
„Wer hat den Toten entdeckt?“
Ein Beamter deutete auf ein Nebenzimmer. „Der junge Mann da drinnen.“
Während das Team der Spurensicherung seine Arbeit aufnahm, ließ Petzold sich von dem jungen Mann, der sich als Ralf Zodiak vorstellte, die Umstände schildern, die zum Auffinden des Toten geführt hatten. Er legte darüber ein erstes Protokoll an. Besonders interessierte ihn die Frau, die kurz zuvor fluchtartig das Haus verlassen hatte. Zodiak musste sie so genau wie möglich beschreiben, und mit dieser Beschreibung ließ er unverzüglich die Nachbarn befragen.
„Wenn der schon zwölf Stunden tot ist, kommt die Frau als Täterin wohl kaum in Betracht“, wandte ein vorwitziger Beamter ein.
Petzold sah ihn strafend an. „Wir wissen, wann die Dame gegangen ist, aber wir wissen bis jetzt nicht, wann sie gekommen ist, - nicht wahr, Herr Kollege.“ Er schaute sich genauer in der Wohnung um, soweit ihn die Spurensicherung gewähren ließ. Auf den ersten Blick deutete nichts auf einen Raubmord hin. Eine erste Kontrolle der Haustür sowie der Fenster ließ keine Beschädigung erkennen.
In der Brieftasche des Opfers befanden sich Geld, Kreditkarten, Behindertenausweis, ein paar Quittungen und ... Beim Blick in den Personalausweis stutzte er: Dieter Rossili. Woher kannte er den Namen?
Rossili, der Rollstuhlfahrer! Klar, der war Zeuge in dem ungeklärten Fall „Bruno“, den man seiner damaligen Chefin, Marion Zelenka, entzogen hatte, da sie befangen sein könnte. Schließlich war sie einst mit Bruno in der gleichen Abiturklasse. Und - gehörten nicht dieser Dieter Rossili und einige andere Zeugen auch dazu?
Petzold ging nach draußen, um ungestört mit seiner Kollegin vom K21 telefonieren zu können. Als Marion den Namen Dieter Rossili hörte, reagierte sie höchst unwirsch, ein Zeichen dafür, dass sie immer noch stinksauer darüber war, damals genötigt worden zu sein, den Fall „Bruno“ abzugeben. Aber als sie jetzt von Dieters Tod erfuhr, schien sie doch recht betroffen. Leise sagte sie nach einer Weile: „Der wollte mich vor ein paar Tagen einladen, zum Essen oder zum Bier oder so. Warum das eigentlich? - Gerd, halt’ die Stellung. Ich bin in längstens einer halben Stunde bei dir.“
Auf der Fahrt zum Tatort fragte sie sich immer wieder, warum ihr Dieter vor Tagen den Brief mit der so harmlos klingenden Einladung zu einem Treffen geschrieben hatte. Zwischen ihnen hatte nie eine engere Beziehung bestanden, im Gegenteil: Nach Brunos Tod war durch die polizeilichen Ermittlungen die Distanz noch größer geworden. Warum also plötzlich diese Kontaktaufnahme? Fühlte Dieter sich bedroht? Wollte er Rat, suchte er Schutz bei ihr?
Wenn es zwischen dem Brief und Dieters Tod einen Zusammenhang gab, hätte sie dann womöglich dieses Verbrechen verhindern können? Sie schüttelte hinter dem Steuer so heftig den Kopf, dass ihr das blonde, schulterlange Haar ins Gesicht wehte. Nein, wehrte sie sich gegen aufkommende Schuldgefühle, dann hätte er sich klarer ausdrücken müssen.
„Ist ein Motiv erkennbar? Einbruch? Raub?“, fragte sie gleich, nachdem sie wie all die anderen die vorgeschriebene sterile Schutzkleidung angelegt hatte, mit der verhindert werden sollte, dass Spuren verwischt oder hinzugefügt werden könnten. Sie warf einen Blick auf den Toten, um sich davon zu überzeugen, dass es sich tatsächlich um ihren ehemaligen Schulkameraden Dieter handelte.
„Eher unwahrscheinlich“, erwiderte Petzold. „Brieftasche, Portemonnaie, die vermutlich echte Rolexuhr an seinem Handgelenk, - alles da. Ob sonst etwas entwendet wurde, müssen wir erst feststellen. Nur eines ...“
„Ja?“, fragte Marion ungeduldig.
„Die Schublade zu seinem Schreibtisch wurde gewaltsam geöffnet, jedenfalls ist das recht einfache Schloss total demoliert. In der Schublade fanden wir persönliche Papiere, allerlei Schreibutensilien und in einem Umschlag ein Bündel Euroscheine, achthundertvierzig Euro insgesamt. Nach Raub sieht das also nicht aus.“
„Vielleicht hat er selbst das Schloss aufgebrochen, weil er irgendwann mal den Schlüssel verloren hatte.“
Petzold schüttelte den Kopf. „Den Schlüssel fanden wir in seiner Hemdtasche. Außerdem haben die Kollegen von der Spurensicherung feine Holzsplitter auf dem Teppich unterhalb des Schreibtisches gefunden. Ob die von der Schublade stammen, wird untersucht.“
„Tatwerkzeug?“
„Eine alte Brechstange. Die lag dort vor der Heizung. So ’n Ding brauchte man früher zum Öffnen von vernagelten Kisten.“
„Hm“, sinnierte Marion. „An Geld war der Täter wohl weniger interessiert. Also muss er etwas anderes gesucht haben. Und da ich im Moment Probleme habe, mir vorzustellen, was ein Rollstuhlfahrer zu Hause mit einer alten Brechstange anfängt, liegt es nahe, dass der Täter das Teil als Waffe mitgebracht hat. Und wenn das so war, kam er auch in der Absicht zu töten. Weil es augenscheinlich keine Einbruchspuren gibt, hat das Opfer dem Täter eventuell freiwillig Einlass gewährt.“
„Es sind keinerlei Kampfspuren zu entdecken“, ergänzte Petzold. „Der Mann wurde offenbar heimtückisch in seinem Rollstuhl von schräg hinten erschlagen.“ Er nahm vorsichtig die Brechstange auf und demonstrierte seiner Kollegin, wie der tödliche Schlag wahrscheinlich ausgeführt wurde.
„Habt ihr eine Rundumverfilmung des Tatortes gemacht?“, wollte Marion wissen. Als sie hörte, die Spurensicherung habe die spezielle Filmkamera nicht dabei und deshalb nur Fotos vom Tatort und Detailaufnahmen der Spurennummern gemacht, riet sie ihm dringend, dies nachzuholen, - gerade so, als sei sie immer noch seine Chefin. „Was ist mit der Frau, die aus dem Haus flüchtete?“
„Wahrscheinlich die Putzfrau oder so jemand. Laut Nachbarn kam regelmäßig eine Frau zu Herrn Rossili. Die muss vor Schreck den Staubsauger fallen gelassen haben und getürmt sein. Das Ding lief jedenfalls noch, als wir kamen.“
„Okay, Gerd“, meinte Marion nach einer Weile. „Das ist euer Fall. Viel Glück, und halt mich bitte auf dem Laufenden. Ich fahr’ zurück ins Präsidium.“
Beim Herausgehen fiel ihr Blick auf einen Drucker, über dem das Anschlusskabel baumelte. Sie wandte sich noch einmal um und fragte in die Runde: „Wo ist denn der zugehörige Computer?“
„Einen Laptop oder einen PC haben wir noch nicht entdeckt“, erwiderte ein Beamter der Spurensicherung.
„So. Ist ja interessant.“ -
Auf der Rückfahrt ins Präsidium beschäftigte sie sich in Gedanken ganz und gar mit Dieters gewaltsamem Tod, für dessen Aufklärung allerdings das Kommissariat 20 unter Petzolds Führung zuständig sein würde. Sie hatte Dieter das letzte Mal gesehen auf dem Klassentreffen vor etwa fünf Jahren, das sie zwar nicht als ehemalige Mitschülerin sondern bereits als Hauptkommissarin Zelenka besuchte. Denn zuvor hatte man beim Abriss einer alten Eisengießerei dort im ehemaligen Altsandbunker ein männliches Skelett gefunden. Untersuchungen ergaben, dass es sich dabei um den seit neun Jahren vermissten Bruno handelte.
Bruno war seinerzeit mit einigen Klassenkameraden nächtens in die stillgelegte Gießerei gegangen. Warum dieser dubiose Exkurs stattfand, blieb letztlich ungeklärt. Nur eine Tatsache blieb: von diesem Tage an war Bruno wie vom Erdboden verschwunden. Angeblich hatte er sich nach dem Besuch der Industriebrache nicht wohl gefühlt, war in einen Bus gestiegen und ward seitdem nicht mehr gesehen.
Als die Gerichtsmediziner Jahre später das gefundene Skelett eindeutig Bruno zuordnen konnten, ging die Staatsanwaltschaft von einem Tötungsdelikt aus. Das K21 unter Marion Zelenka wurde eingeschaltet. Das wenig später stattfindende Klassentreffen nutzte sie, den betroffenen Ehemaligen unverblümt mit einer knallharten Untersuchung zu drohen.
Aber damit hatte sie wohl irgendetwas Untergründiges ins Rollen gebracht. Rechtsanwälte schalteten sich ein, nicht etwa offen, sondern im Verborgenen über persönliche Kontakte zu dieser oder jener einflussreichen Stelle. Ihr Chef, Kriminalrat Dr. Sowetzko, riet zu behutsamer Behandlung dieser alten Sache. Da Marion jedoch auf diesem Ohr taub schien, entzog man ihr kurzerhand den Fall mit der Begründung, als ehemalige Mitschülerin des Opfers und auch der Tatverdächtigen sei sie möglicherweise voreingenommen gegen diesen oder jenen. Ihr unsensibel rabiates Vorgehen gegen ehrenwerte Mitbürger hätte ohnehin schon zu Protesten geführt. Der Fall sei daher in neutralen Händen besser aufgehoben.
Kommissar Hasenbach, Marions erbitterter Widersacher und damals noch Leiter des K20, wurde mit der Aufklärung betraut. Hasenbachs Erfolgskurve verlief zu dieser Zeit schon äußerst flach. Irgendwelche Unterstützung durch Marion erhielt er nicht. Im Gegenteil, - sie war frustriert über die Maßnahmen der Obrigkeit, schaltete auf stur und wollte fortan von diesem Fall kein Wort mehr hören.
Hasenbach konnte auch diesmal keinen Erfolg vermelden. Andere Spuren als die Vernehmungen von Zeugen blieben nach so langer Zeit nicht verfolgbar. Und diese Zeugen gaben sich entweder gegenseitig Alibis oder konnten sich an entscheidende Einzelheiten nicht mehr erinnern. Brunos Fall landete nach und nach bei den ungeklärten Fällen, und kein Hahn krähte mehr danach.
Als Dr. Sowetzko ihr gegenüber diesen Misserfolg einmal wie nebenbei kurz erwähnte, erhielt er von Marion statt eines Kommentars nur ein spöttisches Lächeln. Doch diese Reaktion versetzte ihm einen tieferen Stich als es Worte hätten tun können. Schließlich war es nicht seine Idee gewesen, Marion den Fall zu entziehen. Es war vielmehr die Bitte seines Freundes, des Oberstaatsanwaltes Dr. Kämmereit, gewesen, gefolgt von dem betont unverbindlich geäußerten wohlgemeinten Ratschlag des Polizeipräsidenten, - irgendwann am Buffet anlässlich irgendeines Jubiläums.
Solche Randbemerkungen wusste der Kriminalrat durchaus richtig einzuschätzen, und nicht selten verursachten sie ihm Magenschmerzen. Doch je näher der Zeitpunkt seiner Pensionierung rückte, desto weniger war er bereit, sich auf diese Weise manipulieren zu lassen. Vielleicht war dies ein Grund dafür, dass seine Freundschaft zu Dr. Kämmereit in letzter Zeit merklich abgekühlt war. Der Oberstaatsanwalt seinerzeit unterstellte in einem vertraulichen Gespräch mit dem Polizeipräsidenten seinem Freund schlichtweg Alterstarrsinn. -
Ein Anruf lenkte Marion von ihren Gedankengängen an Vergangenes ab. Mit Sven, ihrem Lebenspartner, diskutierte sie über die Freisprechanlage, ob er Karten für das Bundesligaspiel MSV Duisburg gegen Schalke 04 oder für eine Open-Air-Veranstaltung in Krefeld besorgen solle. Nachdem der Fußball das Rededuell gewonnen hatte, erwähnte Sven noch, dass er in seiner Firma seinen Urlaub beantragen müsse. „Bleibt es definitiv bei Ende Mai, Rio?“ fragte er im Hinblick auf den durch Marions Schussverletzung zwangsläufig verschobenen Heiratstermin.
„Klar, falls du dir das immer noch antun willst“, antwortete sie lachend. „Du hast es vor kurzem selbst erlebt: Mit mir bist du einem Begräbnis näher als einer Hochzeit. Denk nächste Woche in Ruhe drüber nach, wenn ich mit Luise auf La Palma weile.“
„Sinnlos, Rio. Ebenso sinnlos wie darüber nachzudenken, ob eins und eins wirklich zwei ergeben.“
„Männerlogik“, erwiderte sie amüsiert. „Aus meiner Abi-Klasse ist übrigens gerade wieder jemand sehr unsanft in Manitus ewige Jagdgründe befördert worden. Hoffentlich bin ich nicht die nächste.“
Er schwieg, und sie biss sich auf die Lippen. Das hätte sie nicht sagen sollen; denn es würde in Sven die Erinnerung wecken an seine Frau und an seine Tochter, die er beide bei einem Flugzeugabsturz in Portugal verloren hatte.
„Tut mir Leid“, fügte sie rasch hinzu. „Ich werde also Ehefrau aus mathematisch-logischen Gründen. Oder gibt’s etwa noch ’nen anderen Anlass?
„Klar doch. Weil ich dich absolut überhaupt nicht leiden kann.“
„Na, das ist immerhin ’n Grund. Geht mir genau so.“
„Zicke!“
„Hackklotz!“ Das selige Lächeln verschwand urplötzlich aus ihrem Gesicht, als ihr bewusst wurde, dass sie um Haaresbreite auf den Wagen vor ihr aufgefahren wäre. -
Ein paar Tage später bestellte Dr. Sowetzko Marion zu sich. Für sie standen bereits Kaffee und Gebäck bereit, - eine höchst ungewöhnliche Situation im Büro des Kriminalrates. Hui, der will was von mir, dachte sie misstrauisch, nahm betont langsam Platz und sah den Chef aus ihren leuchtend blauen Augen lauernd an.
„Mein Ruhestand rückt näher, Frau Zelenka“, sagte er mit geradezu feierlicher Stimme. „Und ich habe das Befürchtung, dass man dort“ - er deutete mit dem Zeigefinder nach oben - „schon an einem vorgezogenen Termin bastelt. Egal, mich ficht das nicht an. Denn es gibt im Leben wahrlich Angenehmeres als den Polizeialltag.“
Marion nickte bedächtig und dachte: Letzteres ist mir wahrlich auch schon aufgefallen.
„Ich glaube, ich habe es Ihnen früher schon angedeutet“, sprach er salbungsvoll weiter, „nämlich, dass ich dem Präsidenten irgendwann mal unverbindlich einen Vorschlag für meine Nachfolge unterbreitet habe. Ich möchte diesen Vorschlag nun offiziell wiederholen. Und dazu muss ich zunächst Sie fragen. Wären Sie bereit?“
Ich als Kriminalrätin, Chefin sämtlicher Kommissariate hier im Hause? Marion wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Das Vertrauen ihres Chefs schmeichelte ihr, und ihr Ehrgeiz drängte sie zu einer begeisterten Zusage. Doch ihr Verstand riet ihr zur Zurückhaltung. Zu sehr spürte sie die widersprüchlichen Strömungen im Präsidium. Zudem wusste sie von ihrem Düsseldorfer Kollegen Kellermann, dass im Innenministerium die Organisation in Duisburg als „unüblich“ eingestuft wurde, und schließlich gab es da noch die Studie der PMM-Marketing-Gesellschaft, über deren Inhalt man bisher nichts verlauten ließ. Marion jedoch wusste lediglich von Frau Sperling, der zuständigen PMM-Angestellten, dass gravierende organisatorische Änderungen vorgeschlagen wurden.
„Nun, ich würde nicht nein sagen“, antworte Marion ihrem Chef daher recht emotionslos.
„Gut. So hab’ ich das von Ihnen erwartet.“ Ihre Zurückhaltung hielt er für ein Gefühl von Bescheidenheit und Dankbarkeit. Er schenkte Kaffee nach und meinte dabei: „Da gibt’s noch etwas, das ich Sie fragen wollte: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem ungeklärten Fall Bruno und dem Tötungsdelikt an diesem Rollstuhlfahrer?“
„Beide Fälle werden vom K20 bearbeitet,“ erwiderte Marion kühl. „Petzold kann Ihnen darüber Auskunft geben.“
„Ich habe aber Sie gefragt.“
„Ich würde den Aspekt keinesfalls außer Acht lassen.“
„Angenommen“, - der Kriminalrat drehte die Hände in der Luft, als schraube er Glühlampen ein - „also mal angenommen, bei der Aufklärung des Falles Rossili wäre das Thema Bruno tabu, - auf höhere Anweisung hin ...“
„Sie kennen mich doch lange genug“, unterbrach Marion ihn mürrisch. „Ich kann mir zwar meine Fälle nicht aussuchen, aber wie ich sie angehe und was ich dazu für erforderlich halte, bestimme ich selber. Da redet mir niemand ’rein!“
Überraschenderweise lächelte der Chef über diese Antwort und meinte zufrieden: „Genau das wollte ich von Ihnen hören.“
„Und welchen sittlichen Nährwert hat diese historische Erkenntnis für die heutige Generation?“
Dr. Sowetzko hatte es im Laufe der Jahre gelernt, die Ironie seiner Hauptkommissarin zu ertragen. Er lehnte sich zurück, rieb sich über die Stirn und meinte nach einer längeren Zeit des Schweigens: „Ich möchte, dass der Fall Bruno neu aufgerollt wird. K20 ist nicht weitergekommen. Nun soll es K21 versuchen. So zu verfahren ist ja - wie Sie wissen - nicht unüblich.“
Verwundert schaute Marion ihren Chef an. „Es ist meines Wissens allerdings unüblich, jemandem einen Fall zu übertragen, den man ihm just zu Beginn entzogen hat?“
„Das ist richtig, und ich gestehe, dass dies ein Fehler war.“ Der Kriminalrat erhob sich, ging einige Male im Zimmer auf und ab, eher er in seinem gewohnten Befehlston anordnete: „Beide Fälle liegen ab sofort beim K21. Und Sie persönlich, Frau Zelenka, werden die Ermittlungen leiten.“
„So etwas nennt man wohl einen Bumerang“, sagte Marion im Hinausgehen. An der Tür wandte sie sich noch einmal um und erinnerte ihren Chef daran, dass sie in der kommenden Woche acht Tage zur Erholung von ihrer schweren Schussverletzung auf den Kanaren sein werde.
„Auch das noch! - Ach herrjeh, das hab’ ich glatt vergessen. Dann veranlassen Sie jetzt erst mal alles Nötige, damit das voran geht, bis Sie wieder da sind.“
„Muss einem ja gesagt werden“, murmelte Marion als Antwort.
„Wie - was?“
„Ach, nichts.“ Draußen im Flur atmete sie einige Male tief durch. An dem, was sie soeben vom „Alten“ vernommen hatte, kamen ihr Zweifel. Jetzt plötzlich sollte der Fall Bruno wieder aufgegriffen werden?
Oder steckte dahinter etwas ganz anderes?