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Urlaubsbilder

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Peter hatte Marion und Luise zum Airport gefahren. Rasch half er beim Kofferausladen, verabschiedete sich in aller Eile und setzte sich sogleich wieder ins Auto; denn hinter ihm ertönte bereits ein kakophonisches Hupkonzert. Zuvor hatte Sven sich angeboten, die beiden Damen zu fahren, Marion aber wusste, welch ein ungutes Gefühl der Erinnerung es in ihm wecken würde, die geliebte Frau am Flughafen zu verabschieden. „Er ist zwar ein knorriger Hackklotz, aber eben auch ein Sensibelchen“, erklärte sie ihrer besten Freundin.

Den einwöchigen Sonderurlaub hatte Dr. Sowetzko für seine Kommissarin durchgesetzt. Sie musste ihn leider unverzüglich antreten, da er als Erholungsmaßnahme nach ihrer Schussverletzung deklariert worden war und durch einen Aufschub seinen Sinn einbüßen würde. Tochter Svenja hatte zu dieser Zeit Schule, und Sven konnte in seiner Position nicht so plötzlich Urlaub nehmen. Allein zu reisen, dazu hatte sie auch keine Lust.

Ihre Freundin Luise aber fand sich spontan zu einer gemeinsamen Reise bereit. Als Ziel hatte Marion die Kanaren-Insel La Palma vorgeschlagen wegen der rauen Ursprünglichkeit und mannigfachen Naturschönheiten, von denen einige Kollegen ihr begeistert berichtet und damit ihre Neugier geweckt hatten.

Am Tag der Abreise fand sie früh am Morgen endlich eine Gelegenheit, mit ihrem Kollegen Petzold ein vertrauliches Gespräch zu führen über die merkwürdigen Entscheidungen der Obrigkeit, zwei Fälle vom K20 zum K21 zu delegieren. Mehrmals versicherte sie ihm, dass dies völlig ohne ihr Zutun geschehen sei. Ja, sie selber könne sich so recht keinen Reim darauf machen.

Petzold vertraute zwar ihren Worten, konnte sich aber eine Bemerkung nicht verkneifen: „Vielleicht seid ihr ja einfach die Besseren.“

Marion lachte. „Derartige Erkenntnisse haben hier im Hause kaum jemals Entscheidungen beeinflusst. Nein, Gerd, da mach’ dir man keine Sorgen.“

„Es geht das Gerücht um, du solltest die Nachfolgerin von dem Alten werden. Und das sehr kurzfristig.“

Marion blickte ihn verwundert an. „Ich bin konkret noch nicht gefragt worden. Und von kurzfristig ist schon gar keine Rede. Nehmen wir ’s weiterhin als reine Spekulation.“

Petzold wusste noch einiges mehr vom Flurfunk: „Mit einer Beförderung können sie dich bei dem ominösen Fall Bruno elegant aus dem Verkehr ziehen.“

„Latrinengerüchte.“ Aber so ganz schnell konnte Marion die Worte ihres Kollegen nicht verdrängen. -

Luise hatte vor einigen Tagen schon Reiseführer und andere Literatur studiert, darunter auch eine Abhandlung über die geologische Gefahr, die von dieser Insel ausgeht, wenn irgendwann einmal die riesigen Kontinentalplatten unter ihr kollidieren werden und dadurch eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes auslösen könnten. Obwohl sie kein übertrieben ängstliches Wesen war, plagte sie seit Tagen eine seltsame Furcht. Sie schlief unruhig, hatte keinen Appetit, einen trockenen Hals, und ab und zu schmerzte ihr Magen. Was war das eigentlich, das sich da wie ein böser Traum über ihr Leben zu breiten schien? War es nur die blühende Fantasie, die Angst vor einer Naturkatastrophe? Oder war es so etwas wie Vorahnung auf ganz andere Ereignisse?

Während des vier Stunden langen Hinflugs von Düsseldorf nach La Palma studierte Luise weiterhin Reiseführer und die Geschichte des Landes. Sie war fasziniert vom Leben der Ureinwohner, den Guanchen, und ihrem wechselvollen Schicksal.

Ihre Freundin Marion war mehr fürs Praktische. Sie befasste sich lieber mit Straßenkarten und Wanderwegen zu den zahlreichen Sehenswürdigkeiten; denn sie sollte das am Flughafen vorbestellte Auto über die Serpentinen der gebirgigen Insel kutschieren. Denn tiefe Täler, schroffe Felsen, zerklüftetes Vulkangestein, plötzlich auftauchende dichte Nebelschwaden und mittendrin die gewaltige Caldera de Taburiente, der größte Vulkankrater der Welt, - nein, diese Zeugnisse erdrückender Naturgewalten animierten Luise nicht gerade, sich dort ans Steuer zu setzen, zumal dies Marion offenbar nicht im Geringsten zu ängstigen schien.

Als die Maschine in spürbare Turbulenzen geriet, wurde Luises Gesicht schneeweiß, und sie lauerte verstohlen zur Papiertüte. Marion beruhigte ihre Freundin. So etwas sei ganz normal über dem Atlantik. Eine Stunde später setzte die Boeing hart auf und legte wegen der kurzen Landepiste die hier übliche Gewaltbremsung hin. Luise spürte, wie ihr Körper gegen den Gurt gepresst wurde, und es schwand erst mal die Vorfreude auf den bevorstehenden Urlaub.

Ein paar Tage später sah alles viel freundlicher aus. Die Sonne strahlte bei frühlingshaft milder Temperatur, und es wehte ein lauer Wind. Die faszinierende Landschaft begeisterte auch die Flachländerin Luise, und die gewaltigen Gesteinsmassen der Vulkane Teneguia und San Antonio versetzten sie in ehrfurchtsvolles Erschauern vor den Kräften der Natur. Luise und Marion wanderten über die kilometerweite Lavawüste zu den beiden wuchtigen Kratern.

Am Kraterrand des Teneguia angelangt, erklärte Marion kühl und sachlich: „Das Ding hier ist im Jahre 1971 ausgebrochen. Ist ja noch gar nicht so lange her.“ Und Luise sah in die von der aufsteigenden Wärme flimmernde Luft und roch die schwefligen Gase, die dem Erdinnern entwichen. Ein Geruch, den sie tagelang nicht mehr aus der Nase bekam.

Ihr kleines Hotel lag in Meeresnähe im romantischen Fischerort Tazacorte. Mit Shopping-Freuden war’s nicht so toll bestellt auf dieser Insel, und der schwarze Sand an den wenigen flachen Strandbuchten lud nur selten zum Baden ein; zu gefährlich waren oft auch die Wogen des Atlantiks. Weil man nicht pausenlos wandern und Natur bewundern konnte, war es eine willkommene Abwechslung, vor den dicken Kaimauern, über welche die Gischt spritzte, einem bunt gekleideten alten Mann zuzuhören, der Lieder zu merkwürdigen Harmonien sang, dann gebetsartig daherschwafelte und dabei bunte Öl-Bilder feilbot. Dann wieder wandte er sich seiner primitiven Staffelei zu und begann mit Feuereifer zu malen, als habe ihn soeben eine zwingende Inspiration übermannt.

Die beiden Frauen betrachteten teils amüsiert, teils interessiert die gediegenen Bilder Es war gegenstandslose Malerei mit dick aufgespachtelten grellen Farben. „Das da neben der Palme,“ sagte Luise nachdenklich und zeigte auf ein Gemälde in der Größe eines mittleren Fernsehbildschirms, „das könnte ein hübscher dekorativer Farbklecks in meinem Arbeitszimmer sein. An der Wand über dem Sekretär, weißt du?“

Als Marion achselzuckend kundtat, keine so rechte Meinung davon zu haben, lenkte sie das Klingeln ihres Handys von der Beurteilung des Kunstwerks ab. Kollege Berger entschuldigte sich umständlich und hörbar verlegen, seine Chefin im Urlaub dienstlich zu behelligen.

„Das ist völlig okay“, unterbrach Marion ihn. „Also, was gibt’s? - Haben Sie die Akte Bruno?“

„Ich habe den schriftlichen Antrag auf Abzüge der Mikroverfilmung gestellt und begründet. Hoffeld und ich haben beide das Pamphlet unterschrieben. Aber nein, - Kämmereit will Ihre Unterschrift darauf sehen. Wir seien nicht befugt dazu.“

Marions Miene verfinsterte sich. „Erklären Sie dem Oberstaatsanwalt, dass ich mich weigere, diesen Zirkus mitzumachen. Wenn die Akte bis morgen nicht im K21 eingetroffen ist, würde ich mich an eine andere Stelle wenden.“

„Sowetzko hilft uns auch nicht weiter“, stöhnte Berger. „Angeblich will er sich da ganz heraushalten. Das verstehe der Henker!“

„Ich habe einen anderen Weg im Auge. Wenn ich bis morgen Mittag von Ihnen keine Bestätigung erhalte, dass die Akte da ist, werden die Herren bald erkennen, dass sie mit mir nicht den Molli machen können.“ Damit beendete sie das Gespräch.

„Ärger?“, fragte Luise besorgt.

„Ach, - nur so ’n alberner Spinner von Staatsanwalt ...“

Inzwischen war der Künstler auf die beiden Frauen zugegangen und begann über seine Werke zu schwafeln. Der Mann hatte langes schwarzes Haar, durchsetzt mit grauen Strähnen, hinten zu einem Zopf verknotet. Sein Gesicht bestand aus einer schmalen Stirn, zwei kreisrunden, stechenden Augen, - der Rest war zugewuchert von wildem Bartwuchs, der sich beim Sprechen etwas hob oder senkte. Marion hielt deutlich Abstand zu diesem seltsamen Wesen, Luise hingegen erkundigte sich leutselig, ob er vielleicht etwas Deutsch verstehe, da sie sich eventuell für eines der Gemälde interessiere.

Seine Augen wurden noch größer, er fuchtelte mit den Armen herum und bekundete radebrechend, dass er mal eine Deutsche zur Frau hatte. Er deutete aufs Meer hinaus und gab zu verstehen, sie sei übers Meer gekommen und eines Tages vom Meer zurückgeholt worden, womit er wohl sagen wollte, sie sei ertrunken. Er selbst sei einer der wenigen noch reinrassigen Guanchen und stamme von einem Mencey ab. „Chef von Land, Häuptling,“ erklärte er und pries das Gemälde an. „Cuadro, gemalt hat Kranker, krank von Liebe. Verstoßen von Abora. Abora ist Gott. Kranker hat Bild gemalt als Sterbender. Auf seine Hemd bei Ausbruch von Teneguia. Mit ceniza - Asche und Schwefel. Und seine sangre – seine Blut. Bild santo santo. Ist heilig.” Um seine Worte zu unterstreichen, küsste er innig das Kunstwerk und hielt es gen Himmel. Dann stellte er es vorsichtig ab und verbeugte sich davor, - wie in tiefer Demut.

Marion vergaß rasch ihren Ärger. Sie musste lachen ob dieser marktschreierischen Vorstellung. Auch Luise hielt es für ein geschicktes Theater, um den heiligen Preis zu rechtfertigen, den sie aber in den nächsten Minuten geschäftstüchtig auf eine irdische Größe herunterhandelte.

Abends im Hotelzimmer verkosteten die beiden Damen eine ganze Flasche frischen Teneguia-Weißwein, was Marion in ausgesprochene Lästerstimmung versetzte: „Siehst du dort auf deinem cuadro den schwarzen Sand? Die Asche des Teneguia-Vulkans, und das Gelb-Braune ist stinkender Schwefel. Riecht man’s nicht noch? Und in der Mitte, die glühende Lava – nein, das Blut des liebeskranken Guanchen, den Abora verdammte. Glaubst du von diesem Schmarren etwa ein halbes Prozent?“

„Nicht so direkt“, druckste Luise herum. „Für mich ist das Bild in seinen Farben ein Ausdruck von Natur ...“

„... so wie der Höhlenmensch, der es gemalt hat“, ergänzte Marion lästernd. „Aus beiden spricht die Urgewalt, die alles aus Asche entstehen ließ und alles wieder zu Asche werden lässt. So gesehen hat der Künstler direkt etwas Magisches, Prophetisches, Ur-Erotisches.“

„Spotte nicht!“ Luise schüttelte den Kopf. Sie war nicht zu solchen Scherzen aufgelegt. Es dauerte eine Weile, bis sie sich gefangen hatte. „Das Bild hat etwas, macht sich bestimmt ganz gut über meinem Sekretär. Mit dem sakralen Firlefanz wollte der Guanche sich wohl nur interessant machen. Ob der überhaupt echt ist? – Na, egal.“ Sie hob ihr Glas. „Auf Abora!“

Sie stellte das Bild aufrecht gegen die Wand gelehnt auf einen kleinen Tisch. In der Nacht ging ein fürchterliches Gewitter nieder. Erst gegen Morgen schlief Luise ein, wurde aber immer wieder von bösen Träumen aufgeweckt. Sie sah das bärtige Gesicht des Guanchen vor sich, seine stechenden Augen, wie er sich mit einem Messer den Arm aufschlitzte und mit seinem Blut ein Bild bemalte.

Ihr Schrei weckte Marion auf, die gleich Licht machte. „Schau mal, ist der rote Fleck nicht jetzt viel größer?“, rief Luise verstört und zeigte auf das Bild.

„Du spinnst.“ -

Am anderen Tag kam erwartungsgemäß kein Anruf von ihrem Kommissariat. Marion wartete noch bis zum nächsten Morgen, dann rief sie Jürgen Schirrmeister an, mit dem sie sich lange unterhielt und dem sie ihren derzeitigen Ärger wegen der Akte Bruno ungewöhnlich detailliert schilderte.

„Ist das ein neuer Kollege von dir?“, wollte Luise nach dem Telefonat wissen.

Marion schüttelte nur den Kopf. „Nein - nein. Der ist nur vom Bundeskriminalamt. Das BKA wollte mich früher mal abwerben. Ich hab’ abgelehnt.“

„Tut es dir Leid?“

„Angesichts der stickigen Atmosphäre, die derzeit bei uns herrscht, - vielleicht. Aber wenn ich an meine Truppe im K21 denke, - nein. Außerdem hätte ich Sven niemals kennen gelernt.“ -

In ihrem Hotelzimmer wiederholte sich an den folgenden Tagen ständig ein Phänomen: Morgens stand das Bild des Guanchen, wie es Luise hingestellt hatte, auf dem kleinen Tisch und schaute ins Zimmer, abends war es herumgedreht und schaute zur Wand.

„Das macht das Zimmermädchen“, lachte Marion. „Das hat halt einen besseren – pardon! - abweichenden Kunstgeschmack, - was ich ihr irgendwie nachfühlen kann.“

Als Luise das Zimmermädchen darauf ansprach, wurde es verlegen. Ängstlich bekreuzigte es sich und murmelte: „Diese Cuadro, diese Bild, ist malo, mistico. Ist böse, sehr böse. Ich Angst davor und schlecht träumen.“

„Damit würd’ ich glatt zur Polizei gehen“, spottete Marion, während Luise wie geistesabwesend aus dem Fenster schaute. -

Die Tage auf La Palma waren wie im Fluge vergangen. Im Präsidium wartete man bereits ungeduldig auf die Rückkehr der Hauptkommissarin Zelenka. Ein Besprechungstermin im größeren Kreis war bereits anberaumt worden, an dem sogar der Polizeipräsident teilzunehmen gedachte, dann aber doch nicht erschien. Statt seiner erschien als Beobachter und Berichterstatter ein gewisser Herr Brühler, hager, bleich und so mundfaul, dass er nicht mal Worte der Begrüßung erwiderte. Auch an der folgenden Diskussion beteiligte er sich mit keinem Wort.

Dafür platzte es aus Dr. Kämmereit mit vor Zorn bebender Stimme heraus: „Was - bitte schön - hat Sie veranlasst, dem alten Fall Bruno einen terroristischen Hintergrund anzudichten?! - Wir warten auf eine Erklärung, Frau Zelenka, sonst kann das für Sie unabsehbare Konsequenzen haben!“

Marion war auf diese Auseinandersetzung vorbereitet. Sie schüttelte nur langsam den Kopf und erwiderte bedächtig, aber sehr bestimmt: „Ihre Konsequenzen kann ich sehr wohl absehen, Herr Oberstaatsanwalt. Besorgen Sie mir die Akte Bruno, und ich werde sie nach terroristischen Gefahrenpunkten durchforsten. Vielleicht haben Sie sogar Recht, und an der Sache ist nichts dran.“

Dr. Sowetzko fuhr ein Schauer über den Rücken. Er hatte mit dieser Kommissarin schon einiges erlebt, eine solche Kaltschnäuzigkeit jedoch noch nicht. „Warum - zum Teufel - haben Sie das BKA auf den Fall gehetzt?! Dafür gab es nicht den geringsten Anlass! Die Angelegenheit ist dadurch hochgekocht bis hinauf zum Präsidenten.“

„Tja, was eine verschwundene Akte für ’n Wirbel auslösen kann ...“

„Frau Zelenka, dies hier ist kein Spaß!“, rief Dr. Kämmereit wütend in die Runde und schlug dabei mit der flachen Hand mehrmals auf den Tisch, um sich abzureagieren. In der folgenden Stunde musste er einsehen, dass Marion keinen Zentimeter von ihrer Haltung abzuweichen bereit war. Allmählich spielte sich die Diskussion immer mehr zwischen dem Oberstaatsanwalt und Dr. Sowetzko ab, wobei es um die Frage ging, ob es richtig sei, den Fall Bruno wieder aufzugreifen und warum ausgerechnet das K21 damit beschäftigt werde.

Als sich der bisher völlig unbeachtete Herr Brühler mit süßsaurer Miene aus dem Diskussionskreis entfernte, schloss sich Marion dreist und entschlossen an. „Ich werde hier wohl kaum noch gebraucht, meine Herren. Ich warte weiterhin gespannt auf die verschollene Akte Bruno.“

„Wenn es nach mir ginge, würde ich das Weib vor die Tür setzen“, knurrte Dr. Kämmereit, als Marion den Raum verlassen hatte.

Der Kriminalrat sah sein Gegenüber nachdenklich an. Was war nur geworden aus ihrer Freundschaft von einst? Warum kam es in letzter Zeit immer häufiger zu Streitigkeiten zwischen ihnen? Und warum eskalierten sie immer dann, wenn es um die Kommissarin Zelenka ging? Er wusste, dass sein Freund Günter immense Probleme im Umgang mit ihr hatte. Aber das war schon immer so und verlief in den letzten Jahren trotzdem in einigermaßen erträglichen Bahnen.

Warum also hatte sich die Lage in den letzten Monaten so krass verschärft? - Dr. Sowetzko fand dafür nur eine logische Erklärung: Seit er dem Präsidenten Frau Zelenka als seine Nachfolgerin vorgeschlagen hatte, war die Atmosphäre wie vergiftet. Aufgefordert, sachliche Argumente gegen ihre Nominierung vorzubringen, zeigte der Freund dann seine wahren Absichten. Statt ihre Qualifikation anzuzweifeln, stellte er die Position insgesamt in Frage. Und darüber war der Kriminalrat geradezu schockiert; denn es wurde ihm immer klarer: Kämmereit wollte sich sein Arbeitsgebiet mit einverleiben.

Wie als Test sagte er nun zum aktuellen Thema: „Unterstütze mich darin, dass sie meine Nachfolge antreten kann, - gern vorzeitig, meinetwegen schon übermorgen. Dann ist sie automatisch von der aktiven Arbeit im Fall Bruno befreit.“

„Wie soll ich das verstehen?! Etwa als Nötigung?!“, begehrte Dr. Kämmereit auf. „Ich frage mich schon seit langem, was dir diese Frau tatsächlich bedeutet!“

„Ja“, antwortete der Kriminalrat bitter, „ ich habe dich verstanden, Günter. Schade um unsere Freundschaft.“ -

Luise dachte nun gern zurück an den sonnigen Urlaub auf La Palma. Das Gemälde des Guanchen machte sich zudem recht dekorativ über ihrem Sekretär. Längst hatte sie alle mystischen Mutmaßungen darüber als Hirngespinste verworfen. Dennoch mochte sie niemandem Einzelheiten des Bilderkaufs erzählen; denn dabei hätte sie unwillkürlich auch an den merkwürdigen Schöpfer des Bildes denken müssen. Die Erinnerung an ihn aber bedrückte sie, ließ ihr Herz pochen. Sie musste sich dann ablenken, Betten beziehen oder spazieren gehen.

Als an diesem Abend im Fernsehen eine Dokumentation über Vulkane gezeigt und über die verborgenen Gefahren für die Welt berichtet wurde, die durch das mögliche Zusammentreffen von Gesteinsschollen in der brodelnden Magma unter La Palma entstehen könnten, da beschlich sie ein banges Frösteln. Erinnerungen an das, was sie vor Reiseantritt darüber gelesen hatte, und an den Anblick der gewaltigen Ascheberge im Süden sowie an die Weite der Caldera, ließen sie erschauern. In der Nacht plagten sie Albträume, immer wieder wachte sie auf; schweißnass lauschte sie in die stille Nacht hinaus. Ausgerechnet an diesem Tag war sie allein, ihr Mann Peter war auswärts auf einer Schulung.

Da! Was war das? Nur Einbildung? Oder hatte sie es wirklich gehört?

Luise saß aufrecht im Bett. Ganz deutlich hatte sie ihn vernommen, diesen langgezogenen klagenden Schrei! Er musste von unten gekommen sein, - aus dem Wohnzimmer, aus dem Arbeitszimmer oder aus dem Keller. Oder doch von draußen, von der Straße? Sie wollte das Licht anknipsen, aber es funktionierte nicht. Alles blieb dunkel. Sie sprang aus dem Bett, eilte ans Fenster, öffnete es weit.

Draußen war alles ruhig, eine dicke Wolke schob sich gerade vor den Vollmond. Und mit ihr kam Wind auf, der sich in Minuten zu einem heulenden Sturm steigerte. Krachend brach ein Ast von einem nahen Baum. Ängstlich stützte Luise sich auf der Fensterbank ab. Ihr ganzer Körper schien zu beben.

Aber nein, vibrierte, bebte nicht die ganze Fensterbank? – Bebte nicht das ganze Haus? Oder fühlte es sich nur so an, weil sie selber am ganzen Leib schlotterte? Ein Kreischen drang durch das Sturmgeheul an ihr Ohr. Der Angstschrei eines Menschen? Oder nur der defekte Anlasser eines davonfahrenden Autos? Der Wind fegte welkes Laub über die Straße. Im fahlen Licht des Mondes, der gerade wieder hinter der Wolke hervor gekrochen kam, erschienen die Blätter Luise sekundenlang wie eine Schar flüchtender Tiere. -

„In der Nacht gab es einige leichte Erdstöße“, meldete der Nachrichtensender am nächsten Morgen. Nennenswerte Schäden habe es wohl keine gegeben. Hierzulande ein Erdbeben? Das mochte manch einen Radiohörer erschrecken. Luise hingegen war regelrecht erleichtert. Klar, beim ersten Erdstoß hatte jemand auf der Straße vor Schreck kurz aufgeschrieen. So einfach war das. Sie musste über sich selber lachen. Später telefonierte sie mit Marion, um ihr zu berichten, welche nachhaltigen Eindrücke La Palma offenbar bei ihr hinterlassen habe, dass ihre Fantasie davon heute noch derart angeregt werde.

„Ursache ist das pseudo-sakrale Guanchen-Bild“, lästerte Marion mit kriminalistischem Scharfsinn. „ Ist ja böse. Denk’ an Zimmermädchen! Etwas ist immer dran, an solchen Gerüchten. Unheimliches, Unerklärliches verfolgt uns Menschen länger als die schrecklichste Realität. Davon kann ich ein Lied singen.“

Luise lachte endlich befreit auf. „Die letzte Nacht war ganz heilsam. Ich glaube, nun hab ich’s überwunden, - nach der ernüchternden Meldung heute Morgen in der Zeitung.“

„Siehst du, liebste Freundin, es gibt für alles ’ne ganz einfache Erklärung“, erwiderte Marion zufrieden. Und offenbar gut gelaunt fügte sie hinzu: „Auch ich erlebe manchmal Zeichen und Wunder.“

„Davon hast du mir aber noch nie erzählt.“

„Dann tue ich es jetzt. Stell’ dir vor: eine verschwundene Akte, von Scharen erfahrener Kriminalisten vergeblich gesucht, liegt heute - wie von Geisterhand bewegt - ordentlich auf meinem Schreibtisch.“

„Darin sehe ich kein Wunder. Die Akte hatte wohl jemand bei euch verschlampt und dir dann bei Nacht und Nebel unbemerkt auf den Schreibtisch gelegt.“

„A-a-a-ber, hier im Hause?! Das würde nie einer tun!“, spottete Marion.

Nach dem Gespräch ging Luise fröhlich gelaunt in ihr Arbeitszimmer – und erstarrte.

Ihr bot sich ein gespenstischer Anblick: Der Bilderrahmen war völlig aus dem Leim. Was einmal die Leinwand gewesen war, hing heraus als schmutzig-weißes, zerrissenes Tuch, unschwer als Rest eines Hemdes auszumachen. Der Sekretär und der Fußboden davor waren übersät mit Staub und Asche, schwarz, grau und braun. Alles Rot war verschwunden. Es roch zudem verbrannt und nach Schwefel.

Minutenlang stand Luise mit geschlossenen Augen da. Das konnte doch alles nicht wahr, nicht Wirklichkeit sein! Sicherlich würde sie gleich aufwachen, und das gewohnte Leben hätte sie wieder eingefangen. In der Wirklichkeit würde sie zurückfinden zur Normalität, in den gewohnten Alltag.

Aber was war diese Wirklichkeit? - Nur die simple Verlängerung von Vergangenem? Hier ein vergangener Traum – dort die Fortsetzung des Lebens? Oder gibt es etwas, das zwischen Traum und Wirklichkeit existiert? Etwas, das weder geträumt noch real zu sein scheint, und das dennoch wahr ist? Sie mochte, nein - sie konnte auch später nie mit ihrem Mann darüber sprechen! Selbst ihrer besten Freundin, die fast alles hautnah miterlebt hatte, wollte sie es nicht erzählen; es wäre ihr peinlich gewesen. Oder fürchtete sich Luise, vom Unerklärlichen, vom Unheimlichen, vom Erleben überirdischer Erscheinungen etwas preis zu geben?

Das anfängliche Entsetzen wich einer seltsamen Ruhe. Irgendetwas in ihr, das bisher im Dunkeln lag, schien hell zu erstrahlen. Stumm, mechanisch, wie von einer fremden Macht geleitet, kehrte Luise sorgsam Staub und Asche zusammen und füllte beides in eine Plastiktüte. Den Bilderrahmen nahm sie von der Wand und brachte ihn zum Sperrgut in die Garage.

Abends machte sie sich auf zum nahen Friedhof, - mit einer kleinen Schaufel, ein paar Buchsbaumpflanzen und einer Plastiktüte. Im Schutz der Dunkelheit hob sie wie in Trance ein winziges Grab aus, um einen Plastikbeutel mit grauer Asche zu verbuddeln und anschließend einige Buchsbäumchen darauf zu pflanzen.

Zelenka - Trilogie Band 3

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