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5. Wein

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„Ich hab ja damals schon einiges gesehen, als wir von Istanbul aus los sind“, führte Manni seine Erzählung bei Markus Besuch am Sonntag fort. Er war verkatert. Die letzte Nacht hatte er nicht so gut weggesteckt wie sonst. Jetzt genoss er es einfach nur ein Konterbier in der Hand zu halten und nichts weiter tun zu müssen, als zu zuhören.

„Es gab ja so viele andere, die sich zusammen getan haben um nach Indien oder den Iran zu kommen. Die Busse waren so voll, des glaubst du gar nicht, wie viele Leute sich da rein gequetscht haben! Gerammelt voll waren die! Ich weiß gar nicht mehr, bis wie weit die gefahren sind. Aber ich war schon froh, dass wir unseren Eigenen gehabt haben. Da wars angenehmer zu reisen. Wir haben ja da drin auch gewohnt.

Beim Fahren haben wir uns abgewechselt. Ein jeder ist mal gefahren, auch die Traudl. Die hat sich des aber nur tagsüber getraut. In der Nacht da hats halt Angst gehabt. Was ich aber auch verstehen konnte. Da in der Nacht, da hats auf den Landstraßen keine Beleuchtung und Nichts geben. Nur die Sterne und den Mond. Da bin ich auch nicht so gerne gefahren. Aber schee wars, so einen Himmel, wie da in der Nacht hab ich hernach nie wieder gesehen.

Ich weiß gar nicht mehr wie lang des gedauert hat, aber irgendwann waren wir an der Grenze zum Iran. Und des haben wir scho in Istanbul gehört, dass die da ganz streng kontrollieren. Also mit Bus auseinanderbauen und Leibesvisitation. Wegen dem ganzen Rauschgift. Oh, da haben die aufgepasst! Und weil wir des gewusst haben, haben wir unser ganzes Zeug schon vor der Grenze zam geraucht“, er redet so viel und schnell, dass ihm ein dünner Sabberfaden vom Kinn hing.

„Und dann sind wir gefahren und gefahren. Staubig wars, des kannst du dir gar nicht vorstellen. Geld haben wir auch nicht so viel gehabt, der Hunger dafür aber war groß. Die Einheimischen haben halt auch nicht immer so viel gehabt. Grad in den ländlichen Gegenden wars schon ärmlicher. Und wie in einer andern Zeit teilweise. Aber gefreut haben die sich immer, wenn wir Ausländer einen Stop gemacht haben. Viel Kichererbsen hab ich damals gegessen. Und Hummus. Des alles hat es damals noch nicht in Deutschland gegeben. Gekannt hat des keiner von uns. Des war was richtig besonders. Am Anfang war mir das alles sehr suspekt, aber der Hunger, der hat es mir schon rein getrieben. Und geschmeckt hat es ja auch. War halt nur ganz anders, als wie das Essen, des ich von daheim gewohnt war. Ganz was anderes war des.

Und man hat ja auch immer Leute getroffen, die ham dann wieder was neues erzählt. Viele Engländer. Ausm Hotel hab ich da ein wenig Englisch gelernt. Und mich auch ganz gut verständigen können. Wenn auch manchmal nur mit Hand und Fuß. Freundlich waren sie alle. Das war ja damals so das Motto der Zeit. Musik hats auch immer gegeben. Dann saßen wir halt abends ums Lagerfeuer rum, einer hat immer Gitarre spielen können, bei uns wars halt der Franzi. Und irgendwer hat immer einen Joint in den Griffeln gehabt“, Manni lacht auf. So heftig dass er sich verschluckte und mit seinem Weizen nachspülen musste.

„Und braun gebrannt waren wir alle! Bald haben wir alle vier ausgeschaut wie Spanier. Wenn wir nicht gefahren sind, da waren wir halt den ganzen Tag draußen und haben uns gesonnt. Aber nachts da ist es halt schon manchmal recht schnell abgekühlt. Frisch wars dann. Da haben wir halt im Bus geschlafen. Mei, der Franz und die Traudl haben da halt nicht so viel Privatsphäre gehabt.“

Markus benedeite Manni. Was hatte er denn schon bisher Großartiges erlebt, was mit dieser Reise vergleichbar war?

„Und irgendwann sind wir halt dann in Teheran angekommen. Ich weiß gar nicht mehr, wie lang wir da unterwegs waren. Sind ja alle Schiss lang angehalten und haben uns jeden Stein angeschaut, den wir interessant gefunden haben. Teheran - des war schon schön. Damals hieß des ja noch Persien. Also der Iran. Damals hat es ja grad da die Unruhen in Deutschland gegeben. Wegen dem Schah halt und die Studentenproteste. Da hast bestimmt schon mal was gehört davon. Da ging es ja dann auch los mit der RAF. Ich war da ja immer ganz skeptisch mit denen ihren Aktionen da. War mir nicht so ganz geheuer.

Und in Persien wars mir auch nie so ganz geheuer. Die waren da schon noch ein Stückchen strenger unterwegs als zum Beispiel in Afghanistan. Das war es ja echt schee. Aber in Persien. Puh! Damals sind die Frauen allerdings noch im Minirock umeinander gelaufen. Teilweise halt. Des kann man sich ja auch gar nicht mehr vorstellen, wenn man da jetzt Bilder im Fernsehen sieht. Des kann man sich nicht vorstellen! Die waren da halt wahrscheinlich fortschrittlicher als jetzt. Zumindest in den Großstädten halt. In den ländlicheren Gegenden war schon noch alles recht ursprünglich.

Aber was mir gefallen hat in Persien, das waren die Bazare. Da hats so gute Früchte gegeben! Und so schön getöpfertes Zeug. Da hat die Traudl fleißig eingekauft. War aber dumm, weil einmal, da haben wir so scharf bremsen müssen auf der Landstraße, weil wir so einen total überladenen LKW ausweichen mussten. Die haben ja da keine Verkehrssicherheit gehabt. Das ganze Töpfer-Zeug hat es dann im Bus umher geschleudert. Alles kaputt! So kleine Scherben haben wir noch Wochen später gefunden.“ Wieder lachte der Alte sein röchelndes Husten.

„Ja, die Traudl“, nachdenklich fasste sich Manni ans Kinn. „Heimweh hat sie ganz oft gehabt. Ganz arg. Die war halt auch erst 19. Geweint hat sie auch viel, weil sie ihre Mutti vermisst hat. Und irgendwann ist sie dann wieder zurück. Ist mit Leuten mitgefahren, die auf der Heimreise waren. Des hat dem Franzl halt schon das Herz gebrochen. Der war richtig traurig.

Danach hab ich die Traudl nie wieder gesehen. Ich glaub, geheiratet hat sie dann auch recht schnell, als sie wieder daheim war. Nur halt nicht den Franzl. Aber was dann aus ihr geworden ist? Keine Ahnung. Mei, so eine Reise des ist halt auch nicht für jeden was. Mich wundert des heute immer noch, dass ich mich des getraut hab. Aber froh bin ich, dass ich es gemacht hab.“ Markus nickte zustimmend. Man musste sich im Leben etwas trauen, um weiter zu kommen.

Mimi sah er das nächste Mal am Mittwoch, als er auf dem Weg zur Buchhandlung war. Er hatte ihr nicht geschrieben, weil er nicht wusste was. Als sie am Sonntag gegen mittag aufgewacht waren, war es ziemlich unangenehm zwischen ihnen gewesen. Sie waren in der seltsamen Situation zwischen Restalkohol und fürchterlichem Kater gewesen. Mimi ging es schlecht und sie wollte einfach nur nach Hause. Ihr war die ganze Angelegenheit ziemlich peinlich. Mit hoch rotem Kopf hatte sie sich verabschiedet, ihm dabei nicht in die Augen gesehen und war dann Treppe hinunter gepoltert. Ihm war das ganz auch irgendwie unangenehm. Vielleicht hätte er ihr nicht so viel Bier ausgeben dürfen?

Langsam ging Markus an der Bäckerei vorbei. Er hatte Mimis Rücken erkannt. Sie nahm gerade die Bestellung von zwei älteren Damen auf. Dann drehte sie sich um. Markus grinste. Mimi grinste. Wenn auch verlegen. Sie winkte. Er winkte zurück. Und dann sprach sie mit den Kundinnen weiter.

Als Markus nach Feierabend aus der Buchhandlung kam, sah er sie in ihrer hellblauen Jeansjacke an der Tram-Haltestation. „Hi“, sagte sie nervös. Mimi wirkte unschlüssig, was sie jetzt tun sollte. Markus kam ihr zuvor und umarmte sie. Und dann war plötzlich alles ganz ok.

„Hast du heut schon was vor?“ „Eigentlich nicht.“ „Magst du mit in die Kneipe kommen?“ Mimi überlegte kurz. „Wann denn?“ „Wir machen um neun auf. Aber ich bin schon früher da und muss Sachen herrichten. So gegen acht. Ich sperr heute auch den Laden auf. Die Kollegen kommen alle später. Also, wenn du magst kannst du mir gerne Gesellschaft leisten.“ „Ok, cool! Aber ich hoffe, das endet nicht wieder in so einem schlimmen Rausch wie beim letzten Mal.“ „Cool. Dann klopf einfach an die Hintertür.“

Mimi grinste Markus an, als sie ihre Türe nicht aufbekam. Sie war ziemlich aufgekratzt. Im Treppenhaus hatte sie die ganze Zeit lachen müssen. „Das ist nicht nur so, weil ich betrunken bin. Das Schloss klemmt etwas. Ist ziemlich nervig. Der Vermieter weiß eigentlich auch schon längst Bescheid.“ Sie hatten im „Rabatz“ wieder mehr getrunken, als sie eigentlich gewollt hatten. Das Bier war ein gutes Schmiermittel gewesen, um das Eis zwischen ihnen endgültig zu brechen.

Bei dritten Versuch klappte es endlich mit der Tür. Markus stand in einem dunklen Flur, der nur von einer nackten Glühbirne beleuchtet wurde, die traurig von der Decke baumelte. Der lange Gang in Mimis WG war vollgestellt. Überall lagen Schuhe herum, die Garderobe quoll über und sogar ein Rad stand in dem schlauchförmigen Raum. „Wie viele seid ihr denn?“ „Zu sechst.“ „Nicht schlecht.“ „Ich hasse es.“ Aus einem der Zimmer war das Geräusch eines Fernsehers zu hören.

„Magst du noch was trinken?“, Mimi war voraus in die Küche gegangen. Markus folgte ihr. Die Küche war eng und viel zu klein für sechs Personen. Auch am Küchentisch war nur Platz für vier Stühle. Die Einrichtung war alt und wild zusammen gewürfelt. Nudeln, Reis und andere Sachen standen in einem alten Ikea-Billy-Regal. Ein Regalbrett fehlte, die Restlichen wirkten verstaubt und klebrig. Die obligatorische Weltkarte, die zum Inventar einer fast jeder WG-Küche gehörte, hing schief an der Wand. In der Spüle stapelten sich Töpfe und Pfannen. Es roch nach altem Fett und kaltem Rauch. Für Markus nichts Neues.

„Sorry“, entschuldigte sich Mimi. Der Kühlschrank brummte laut auf, sie trat dagegen. „Der Putzplan wird grundsätzlich nicht eingehalten. Ich hab kapituliert. So lange es in meinem Zimmer sauber ist, ist mir alles andere egal.“ Markus zog einen Stuhl hervor, um sich hinzusetzen, ließ das aber gleich bleiben, als er in etwas klebriges fasste.

„Am liebsten würde ich ausziehen“, erklärte Mimi, während sie zwei Gläser ausspülte. „Ich mag nicht mehr in einer WG wohnen. Ich hass es! Mich nervt die Unordnung. Die Freundin meines Mitbewohners hat mehr Zeug als ich im Bad stehen. Ständig ist Besuch da, irgendwer wirft immer seine Jacken auf den Boden. Mülltrennung ist denen egal. Es kotzt mich so an. Ich möchte mal alleine sein und das Zeug so machen wie ich es will. Und mich nervt, dass die anderen so laut und rücksichtslos sind. Ich würde gerne mal ausschlafen, ohne dass mich irgendein Trottel weckt, weil er meint, vor meiner Zimmertür telefonieren zu müssen.“ Sie hielt inne. „Du hältst mich sicher für spießig.“ „Nein, ich versteh das. Irgendwann reicht es halt. Kann ich hier eine rauchen?“ Mimi nickt und zog eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank. „Ein ganz edles Tröpfchen. Keine zwei Euro vom Aldi.“ „Ah, den kenn ich! Kauf ich auch öfter! Ist gut!“ Mimi lachte. „Früher dachte ich immer, nach dem Studium hätte ich Geld um mir richtig guten Wein kaufen zu können. Also so eine acht Euro Flasche.“ „Wie naiv von dir.“ „Und jetzt schau mich an! Ich werd mich wohl für den Rest meines Lebens in einer WG-Küche mit billigem Wein volllaufen lassen müssen. Wie deprimierend ...“

Mimi reichte ihm ein Glas. Es war noch warm vom Abspülen. Der Wein schmeckte süßlich. „Ich mag ihn ganz gern, man muss ihn nicht mit Limo strecken“, erklärte Mimi grinsend. „Unser Leben ist viel cooler, als dass der anderen Leute, die sich den teuren Wein kaufen können. Wir erleben wenigstens noch Abenteuer und sind freier“, sagte Markus „Aber hast du nicht auch manchmal das Gefühl, irgendwie hinterherzuhinken? Ich bin jetzt hier die Älteste in meiner WG. Die Leute aus meinem Studium haben teilweise echt gutbezahlte Jobs. Eine Schulfreundin von mir ist mit dem zweiten Kind schwanger – nicht, dass ich das auch wollen würde, aber ... Ich weiß nicht. Es gibt so zwei Lager. Die, die, erwachsenen geworden sind und die ewigen Jugendlichen. Jetzt ist das noch cool. Aber ... Ich weiß nicht, wie das in ein paar Jahren sein wird. Ich hab auf jeden Fall keine Lust, für immer Käsesahnetorte zu servieren.“ „Ich will auch nicht für immer in der Kneipe arbeiten.“ „Aber dir scheint dass da richtig zu gefallen. Du schaust immer so glücklich aus da.“ „Das kommt vom Alkohol. Der macht mich glücklich.“ „Du bist schon ein Kindskopf.“ „Irgendwann werden wir schon das nächste Level erreichen. Dauert halt nur länger, weil wir bis dahin mehr erleben. Aber ich bin mir sicher, dass du nicht dein ganzes Leben lang Käsesahntorten servieren musst. Ganz sicher sogar.“ „Das hast du schön gesagt.“

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