Читать книгу Nach Dem Fall (Gefallener Engel #2) - L.G. Castillo, L. G. Castillo - Страница 10

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»Bist du dir ganz sicher?« Naomi suchte die Umgebung des Bachs ab, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war und sah, wie sie und Lash die Brücke betraten. Ihr Herz pochte heftig vor Aufregung bei dem Gedanken daran, dass sie Belita und Chuy wiedersehen würde, obwohl sie wünschte, Lash würde sie das allein tun lassen.Wenn sie dabei erwischt wurde, wie sie Gabrielles Anordnungen missachtete, würde man es ihr vielleicht durchgehen lassen, weil sie neu war. Aber wenn Lash erwischt wurde, konnte er in Schwierigkeiten geraten, weil er ihr geholfen hatte.

»Ganz sicher.« Er ergriff ihre Hand, als sie zur Mitte der Brücke gingen. »Ich werde für dich Schmiere stehen.«

Naomi biss sich auf die Unterlippe. Nur Sekunden trennten sie noch vom Blick auf Belita – nach all diesen Wochen. Wieso fürchtete sie sich auf einmal davor, nach ihr zu sehen?

»Was ist los?«

Sie blickte in seine schönen haselnussbraunen Augen. Wie konnte sie mit ihm an ihrer Seite überhaupt Angst haben? Sie benahm sich lächerlich. »Gar nichts. Ich werde ganz schnell sein.«

Sie ging zu der Stelle, von der sie wusste, dass sie den besten Blick auf Belitas Haus haben würde. Ihre Hand fuhr über das vertraute Geländer. Wieder raste ihr Herz vor lauter Vorfreude.

Hör schon auf, sagte sie sich. Hör auf, eine große Sache daraus zu machen. Du hast schon oft nach Belita gesehen.

Sie holte tief Luft und beugte sich über das Geländer. Still lag das Wasser da. Es war, als sähe sie durch eine gleichmäßige Glasoberfläche. Einen Moment lang sah sie nichts als klares Wasser. Dann tauchte das vertraute kleine weiße Haus langsam auf.

Das Herz schlug ihr in der Brust. Irgendetwas war verkehrt. Etwas stimmte nicht.

Die einst sattgrüne und perfekt getrimmte Wiese war dicht besiedelt von kniehohem Unkraut. Die Blumenbeete, die Belita immer penibel gepflegt hatte, ihr Stolz und ihre Freude, waren überwuchert von Knöterich und mit Bierdosen zugemüllt.

Sie schloss schnell die Augen. Das konnte nicht Belitas Haus sein. Sie atmete tief ein und versuchte, sich zu beruhigen. Mach dich nicht verrückt.

Sie blickte ganz offensichtlich in die verkehrte Richtung. Sie musste einfach besser aufpassen.

Als sie die Augen langsam öffnete, sah sie dasselbe kleine weiße Haus an derselben Stelle. Sie stöhnte.

Es ist Belitas Haus.

Zerbrochenes Glas lag auf der Vordertreppe und die Fliegengittertür schlug lose im Wind hin und her. Am schlimmsten war, dass jedes einzelne Fenster zerbrochen war.

Was war geschehen? Belita und Chuy würden nie zulassen, dass das Haus in einen solchen Zustand geriet. Es sei denn, das Haus stünde leer.

»Nein!«, schluchzte sie und warf sich gegen das Geländer, um sich so weit vorzulehnen, wie sie konnte. Das Haus war Belitas ganzer Stolz gewesen. Sie würde es nie verlassen. Ihr Vater war in diesem Haus aufgewachsen. Etwas musste geschehen sein – etwas so schreckliches, dass Belita keine andere Wahl geblieben war, als auszuziehen.

Angst schnürte ihr die Kehle zusammen, als sie an das Eine dachte, das ihre halsstarrige Großmutter aus dem Haus zwingen konnte.

Nein! Sicher nicht! Belita war nicht tot. Das konnte auf keinen Fall geschehen sein. Belita hatte sich bester Gesundheit erfreut, als sie sie vor einigen Wochen gesehen hatte. Es musste etwas anderes sein. Das musste es einfach.

Panisch lief sie am Rand der Brücke entlang und versuchte, einen besseren Blick auf die Umgebung zu bekommen. Verzweifelt suchte sie nach einem Hinweis, irgendetwas, das erklärte, was mit Belita und Chuy geschehen war.

»Was ist los?« Lash folgte ihr dicht auf den Fersen.

»Belita ist weg.« Sie schluchzte.

Sie sah sich die anderen Häuser in der Nähe von Belitas an. Sie erweckten alle denselben gespenstischen, heruntergekommenen Anschein. Es sah aus, als sei das ganze Viertel verlassen. »Sie sind alle weg!«

»Was? Bist du sicher?« Er beugte sich über das Geländer und spähte ins Wasser.

»I-ich verstehe das nicht. Es sind nur ein paar Wochen vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Es sah alles aus wie immer. Es standen Autos am Straßenrand. Die Nachbarskinder haben Basketball gespielt. Alles sah genauso aus, wie damals, als ich von dort weggegangen bin.«

»Das ist ein paar Wochen her«, murmelte er.

»Ja. Ein ganzes Stadtviertel kann nicht einfach innerhalb weniger Wochen wegziehen, oder? Ich meine, sieh dir das Gras an. Es ist fast kniehoch!«

Er rieb sich die Nasenwurzel und biss die Zähne zusammen. »Ein paar Wochen«, wiederholte er.

»Wieso sagst du das immer wieder?«

Er stöhnte auf und schlug dann mit der Hand gegen das Brückengeländer. »Scheiße!«

»Was? Was ist denn?«

Er schritt auf der Brücke auf und ab, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und fluchte leise vor sich hin.

»Ich hatte keine Ahnung, dass so etwas passieren würde«, murmelte er und vergrub das Gesicht in den Händen. »Dämlich, dämlich, dämlich!«

»Lash, bitte erklär’s mir. Du weißt doch irgendwas.« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter. Als er nicht antwortete, packte sie ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Jetzt sag’s mir schon!«

Gequält sah er ihr in die Augen. »Es waren nur ein paar Wochen… für dich.«

Sie blinzelte verwirrt. »Für mich? Was meinst du, für mich?«

»Na ja, genauer gesagt für uns.« Er wandte das Gesicht ab, unfähig sie anzusehen. »Ich kann nicht glauben, dass ich es dir nicht gesagt habe.«

Sie legte eine Hand unter sein Kinn und drehte es zu sich hin. »Mir was nicht gesagt hast?«

Er sog scharf die Luft ein und hielt den Atem an, bevor er ihn heftig ausstieß. »Die Zeit vergeht hier anders als auf der Erde.«

»Was soll das heißen? Die Zeit vergeht anders? Wie anders?«

Ihr sank das Herz. Oh Gott! Vielleicht sind sie alle tot!

Lashs Gesicht verschwamm vor ihren Augen und sie fühlte, wie sie fiel.

»Naomi!«, rief er, als er sie auffing.

»Wie lange?« Ihre Stimme klang leise, ängstlich.

»Du hast einen Schock. Lass mich dich nachhause bringen. Es tut mir so leid, dass ich vergessen habe, es dir zu sagen. Ich kann es dir alles erklären und dann können wir herausfinden – «

»Nein.« Sie atmete tief ein und zwang sich, aufrecht zu stehen. Jetzt war nicht der Moment für Schwäche. Jetzt war der Moment gekommen, der Erzengel zu sein, der zu sein sie trainierte. Sie tat einen weiteren kräftigenden Atemzug und sagte: »Sag’s mir. Wie viel Zeit ist vergangen?«

»Ich habe nie wirklich auf die Zeit geachtet. Wir messen die Zeit hier nicht so wie auf der Erde. Ich würde sagen, etwa« – er schluckte und warf ihr einen besorgen Blick zu – »ein Jahr.«

»Ein Jahr! Ich bin seit einem Jahr weg?«

»Vielleicht weniger«, sagte er hastig.

Sie stieß den Atem aus. Sie sollte dankbar sein, dass es erst ein Jahr gewesen war. Sie drehte sich um und starrte auf Belitas Haus. Sie hatte vorgehabt, einen heimlichen Besuch zu wagen, wenn sie ihren ersten Auftrag erhielt. Sie hatte Belita eine Art Zeichen geben wollen, dass sie immer noch bei ihr war. Selbst wenn sie sie nicht hätte sehen können, wusste sie, dass Belita gewusst hätte, dass sie es war. Sie hatte sogar vorgehabt, einen Blick auf Chuy zu werfen, wohl wissend, dass er mittlerweile daran glaubte, dass Engel existierten. Jetzt waren sie fort.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Erzengel sind mächtig. Sie können so ziemlich alles tun, oder?«

»Alles würde ich nicht sagen, aber ja, sie haben mächtige Fähigkeiten. Wieso?«

»Ich kann sie finden.«

»Du wirst nicht dazu in der Lage sein, auf die Erde zu gehen, es sei denn, du hast einen Auftrag erhalten oder einer der Erzengel erteilt dir die Erlaubnis dazu.«

»Aber ich bin ein Erzengel.«

»Technisch gesehen schon, aber du bist noch in der Ausbildung. Du brauchst immer noch die Zustimmung von Michael oder Gabrielle, und die würden sie dir nie geben, außer es würde einem höheren Zweck dienen.«

Ihr Gesicht verfinsterte sich. Welchen Sinn hatte es, ein Erzengel mit besonderen Kräften zu sein, wenn man sie nicht einsetzen konnte? Was sollte sie jetzt tun? Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Ich dachte, der Himmel sollte ein Ort des Glücks sein.«

Er schloss sie in die Arme. »Naomi, bitte weine nicht.«

Sie konnte nichts dagegen tun. Sie wollte tapfer sein – der mächtige Erzengel sein, von dem alle erwarteten, dass sie es war. Sie konnte es nicht. Es war schwer, so unglaublich schwer einen Teil von ihr zurückzulassen, den Teil, der sie zu dem gemacht hatte, was sie war: ihre Familie – Belita, Chuy, ihre Eltern. Solange sie sie hatte, fühlte sie sich, als ob sie alles schaffen konnte. Als ihre Eltern gestorben waren, hatte sie das Gefühl gehabt, sie hätte einen Teil davon verloren. Und jetzt, wo Belita und Chuy fort waren, fühlte es sich an, als ob ein Loch in ihrer Brust klaffte.

Lash legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an, so dass sich ihre Blicke trafen. »Ich nehme dich mit, um Belita zu finden.«

»Wie denn?«, schniefte sie. »Du weiß doch nicht, wo sie sind.«

»Ich habe einen Plan. Geh zurück nachhause. Wenn ich wiederkomme, habe ich die Erlaubnis. Du und ich müssen auf die Erde.«

Ihre Augen weiteten sich. »Ich will nicht, dass du irgendwas tust, was dich aus dem Himmel werfen kann. Ich kann dich nicht auch noch verlieren.« Sie wollte unbedingt ihre Familie finden, aber nicht auf seine Kosten.

»Es ist völlig gesetzmäßig. Ich versprech’s. Ich kann es dir jetzt nicht erklären. Du musst einfach nur wissen, dass ich das für dich hinkriege. Vertraust du mir?«

Sie sah in sein herrliches Gesicht. Seine Augen sahen sie liebevoll an. Sie seufzte und Hoffnung regte sich in ihr. Mit Lash an ihrer Seite konnte sie alles schaffen.

»Ja.«


Lash marschierte einen ausgetretenen Pfad am Bach entlang, einen Pfad, den er über die Jahre schon hunderte Male genommen hatte. Ich kann nicht glauben, dass ich es tatsächlich tue.

Nach Dem Fall (Gefallener Engel #2)

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