Читать книгу Nach Dem Fall (Gefallener Engel #2) - L.G. Castillo, L. G. Castillo - Страница 7

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Jeremy lehnte am Brückengeländer. Saphirblaue Augen blickten in Richtung des Berges. In der Ferne konnte er das Schimmern von Lichtern auf dem höchsten Gipfel erkennen.

Er schloss einen Moment lang die Augen und wartete darauf, dass der Schmerz abklang. In den letzten Wochen, in denen er fort gewesen war, war ihm nicht klar gewesen, dass er immer noch da war und tief in seinem Innern lauerte. Das hatte er Gabrielle zu verdanken. Wie konnte sie wissen, was er fühlte, wenn er es selbst nicht verstand?

Er hatte geglaubt, Zeit abseits von Lash und Naomi zu verbringen, würde ihm helfen, sich über seine Gefühle klar zu werden. Aber als er zurückgekehrt war und allein in Lashs Zimmer gestanden hatte, hatte er sich gefragt, nach wem sein Herz sich sehnte – nach Lash oder nach Naomi.

Frustriert rieb er sich mit den Händen übers Gesicht. Er hatte sich gehen lassen, seitdem er fortgegangen war, fast, als ob er sich selbst bestrafte. Er hatte keinen Gedanken ans Rasieren verschwendet. Er hatte nicht einmal mehr daran gedacht, seine maßgeschneiderten Lieblingsanzüge anzuziehen. Stattdessen trug er, was immer er sich überwerfen konnte, etwa schwarze Anzughosen und T-Shirts. Selbst sein einstmals perfekt frisiertes Haar war anders mit einem zotteligen Pony, der ihm über die Augen fiel und der Rest war lang genug, um ihm übers Schlüsselbein zu streichen. Der einzige Luxus, den er sich gestattete, war eine schwarze Lederjacke, die zu seinen neuen Krokodilstiefeln passte.

Er sah in den dunkler werdenden Himmel hinauf und versuchte, den genauen Moment zu benennen, in dem sich alles verändert hatte. Wann hatte er sich von einem treuen besten Freund in jemanden verwandelt, dem man nicht vertrauen konnte? Konnte er es Lash vorwerfen, dass er ihm nicht traute, wenn er nicht wusste, ob er sich selbst trauen konnte, sobald es um Naomi ging?

Jeremy stieß sich vom Geländer ab und schritt die Länge der Brücke ab. Seine glänzenden schwarzen Stiefel klackten auf dem Holz. Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Weiter nichts.

Auf Lash aufzupassen und sicherzustellen, dass er Naomi zum Shiprock brachte – dass war es, was man ihm aufgetragen hatte. Und das hatte er getan. Er hatte seine Anweisungen genauestens befolgt. Was war also das Problem, wenn er ein wenig öfter nach ihnen gesehen hatte, als von ihm verlangt worden war? Es hatte niemandem geschadet. Und er mochte ein klein wenig Eifersucht empfunden haben – nein, Besorgnis. Ja, das war es. Er war besorgt gewesen, als er die offensichtliche Anziehungskraft zwischen den beiden wahrgenommen hatte. Er hatte Lash warnen müssen, sie in Ruhe zu lassen. Er hatte geglaubt, es würde Lashs Chance, nachhause zurückzukehren, ruinieren.

Jeremy erstarrte, als er sich an die Worte erinnerte, die er zu Lash gesagt hatte.

Sie ist nicht für dich bestimmt.

Weshalb hatte er das zu ihm gesagt?

Du weißt weshalb, flüsterte eine leise Stimme in seinem Kopf.

Er schlug mit der Hand gegen das Geländer. Er wusste ganz genau, weshalb. Er wünschte, er könnte alles vergessen und mit Lash und Naomi einfach nochmal neu anfangen. Aber das konnte er eben nicht.

Er kämpfte gegen seine Erinnerungen an sie an und umklammerte das Geländer so fest, das seine Fingerknöchel weiß wurden. Vorher war es einfacher gewesen, als sein einziger Fokus darauf gelegen hatte, eine Mission zu erfüllen. Jetzt fiel es ihm schwer, aus seinen Gedanken zu vertreiben, was er empfunden hatte, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte: langes dunkles Haar, das ihr wunderschönes Gesicht einrahmte, während sie sich über die sterbende Deborah beugte. Es war gewesen, als ob ein Blitz in seine Brust eingeschlagen hätte und ein Herz erneut zum Schlagen brachte, von dem er nicht gewusst hatte, dass es zuvor stillgestanden hatte. Erst als Lash sich offensichtlich von der Art bedroht fühlte, in der er sie ansah, war er in der Lage gewesen, sich von dem Ganzen loszureißen und sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren. Seitdem hatte er die wachsenden Gefühle abgeschüttelt, Gefühle bei denen er keine Ahnung hatte, woher sie kamen, bis Raphael es ihm erklärt hatte – er war sein Sohn und war vor langer Zeit mit Naomi verlobt gewesen.

»Bist du bereit?«

Jeremy fuhr beim Klang der Stimme herum. »Gabrielle. Ich dachte, ich wäre allein.«

Sie trat aus den Schatten heraus. Ein Windhauch wehte weiche blonde Wellen um ein strenges Gesicht. »Du hast dich wochenlang zurückgezogen. Hast du dich auf deine neue Aufgabe vorbereitet?«

Jeremy war von ihrem Ton überrascht. Hatte er geträumt, dass es Gabrielle gewesen war, die erst vor wenigen Wochen vorgeschlagen hatte, dass er fortgehen sollte, um etwas Abstand von allem zu bekommen, was zwischen ihm und Lash geschehen war? Sie hatte so freundlich und geduldig gewirkt.

Er sah wieder zum Berg hinauf und fragte sich, ob Lash noch böse auf ihn war. Und so sehr er auch versuchte, es nicht zu tun, er dachte an Naomi. »Könnte man damit nicht Lash damit beauftragen? Er ist besser geeignet.«

»Michael hat darauf bestanden, dass dieser Auftrag von dir beaufsichtigt wird. Außerdem hast du auf der Erde deine eigene Aufgabe zu erfüllen.« Ihre Stimme klang streng und sie musterte ihn aufmerksam. Etwas musste sie in seinem Gesicht gelesen haben, denn ihre Züge wurden weicher. Es war derselbe Ausdruck, mit dem sie ihn nach seinem Streit mit Lash angesehen hatte. »Hat dir die Auszeit nicht geholfen, dich vorzubereiten?«

»Gabrielle, kannst du nicht eine Ausnahme machen? Ich habe immer meine Pflicht erfüllt und ich habe dich oder Michael nie ausgefragt wegen der Aufträge, die ihr beide mir erteilt habt… nicht einmal, als ihr von mir erwartet habt, meinen besten Freund niederzuschlagen.«

»Deinen treuen Diensten in all diesen Jahren hast du es zu verdanken, dass du im Rang aufgestiegen bist, um ein Erzengel zu werden«, erklärte sie. »Du weißt, dass mit dieser Rolle eine größere Verantwortung einhergeht. Wenn Lash so gehorsam gewesen wäre wie du… na, das spielt jetzt keine Rolle. Er ist ein hoffnungsloser Fall.«

»Wieso hasst du ihn?«

Gabrielle hob eine Augenbraue. »Ich sage es nur, wie es ist. Hat sein Verhalten in der Vergangenheit das nicht bewiesen?«

Jeremy schüttelte den Kopf. Er konnte ihre Feindschaft Lash gegenüber nicht nachvollziehen. Er hatte angenommen, dass sie ihm gegenüber verständnisvoller sein würde, sobald er seine Treue endlich unter Beweis gestellt hätte. Er war zurückgekehrt, nur um festzustellen, dass sie noch genau dieselbe war wie zu dem Zeitpunkt, an dem er fortgegangen war.

»Wenn du dir wegen Lash Sorgen machst, kann ich dir versichern, dass es keine Einmischung seinerseits geben wird. Dafür werde ich sorgen.«

»Mir Sorgen machen? Das kann man wohl sagen. Wenn er herausfindet, dass ich derjenige bin, der mit der Liebe seines Lebens zusammen ihren ersten Auftrag ausführen soll, verdammt – «

Bei seiner Wortwahl wurde ihr Blick stechend.

»Äh, was ich meine, ist...« Er räusperte sich. »Du weißt doch, er ist nicht gerade der Vernünftigste aller Engel. Und seit unserem Streit steht da so einiges zwischen uns.«

»Ich hatte vorgeschlagen, dass du dir eine Auszeit nimmst, damit du, und hoffentlich auch Lash, Gelegenheit findet, über alles Geschehene nachzudenken.« Gabrielle sah zum Berg hinauf und dann wieder zurück zu Jeremy. »Und um etwaige Gefühle aufzulösen, die vielleicht noch… vorhanden sind.«

Jeremy schluckte bei ihrer Andeutung nervös. »Ich verstehe nicht ganz, was du meinst.«

Ihre Stimme war leise und sanft, als sie fortfuhr. »Du bist dir bewusst, dass du in dem Ruf stehst, ein ausgezeichneter Pokerspieler zu sein. Deine Fähigkeiten wären in dieser Situation nützlich, meinst du nicht?«

Er runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.«

Gabrielle seufzte. »Obwohl ich das Spiel verabscheue, bin ich ziemlich gut darin, das zu bewahren, was man ein Pokerface nennt. Ich würde sagen, ich bin bisher recht erfolgreich damit gewesen.«

Ihr Gesicht veränderte sich, als ob eine Maske von ihr abgenommen würde, und das strenge Auftreten, für das sie bekannt war, wurde durch das einer sanften und verletzlichen Frau ersetzt. »Du hast Gefühle für das Mädchen. Das war offensichtlich, als du an ihrem Bett gesessen und darauf gewartet hast, dass sie aufwacht. Tatsächlich stand es dir deutlich ins Gesicht geschrieben, als du sie das erste Mal gesehen hast, damals, als du deinen Auftrag mit Deborah und Nathan ausgeführt hast.«

»Das hast du gesehen?«

»Ja.« Ihre Stimme war leise.

»Wieso? Wieso hast du über mich gewacht?«

»Weil ich wusste, was du vor langer Zeit für sie empfunden hast, als sie deine Frau werden sollte. Und ich weiß, dass solche Gefühle nicht verschwinden – selbst, wenn Erinnerungen unterdrückt werden.«

Er trat einen Schritt nach vorn und packte sie am Arm. »Was weißt du noch? Sag es mir.« Er musste mehr erfahren. Vielleicht, wenn er wusste, was in seiner Vergangenheit geschehen war – vielleicht konnte er seine wachsenden Gefühle dann loswerden.

Sie schrak zurück und sah auf seine Hand hinunter.

»Entschuldige.« Er ließ seine Hand sinken. Er ging zu weit. Er musste sich besser kontrollieren.

» Es ist nicht an mir, die Geschichte zu erzählen.« Sie rieb sich die Stelle ihres Arms, an der er sie gepackt hatte. »Das ist etwas, das Raphael mit dir, Lash und Naomi teilen will. Er jetzt gerade bei Michael und bittet um die Erlaubnis, einiges von eurer Vergangenheit enthüllen zu dürfen.«

»Werden wir unsere Erinnerungen zurückerhalten?«

»Das ist unwahrscheinlich. Ich bin mir sicher, dass Raphael dir erzählt hat, dass die Unterdrückung eurer Erinnerungen Teil seiner Bestrafung ist.«

Jeremy nickte. Als er an Naomis Seite darauf gewartet hatte, dass sie aufwachte, hatte Raphael ihm erklärt, weshalb er und Lash sich nicht an ihre Vergangenheit erinnern konnten. »Das scheint eine lange Zeit zu sein, um bestraft zu werden.«

»Es ist nicht deine Sache, zu entscheiden, wie lange eine Bestrafung dauern soll«, maßregelte sie ihn. »Aber ich muss dir zustimmen. Ich glaube, es ist immer weitergegangen, weil es mit dem zusammenhängt, was gerade passiert – einschließlich deines aktuellen Auftrags. Was Raphael getan hat, hatte einen Dominoeffekt nicht nur auf dich, Lash und Naomi, sondern letztlich auch auf...« Sie hielt inne und Jeremy starrte sie mit angehaltenem Atem an.

»Nun, ich muss los. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass dein Auftrag auf dich zukommt, und ich wollte dir Zeit geben, dich vorzubereiten.«

Jeremy stieß enttäuscht den Atem aus. Sie verriet nichts. Trotzdem musste er einen Weg finden, seinen Auftrag loszuwerden, wenn er die Dinge mit Lash je wieder richtig hinbiegen wollte.

»Gibt es für mich irgendeine Möglichkeit, meinen Auftrag anzufechten? Vielleicht, wenn ich mit Michael rede?«

»Das könntest du, aber es würde ihn nur noch ungehaltener machen. Ich habe schon deinetwegen mit ihm gesprochen. Was meinst du, warum du die Erlaubnis erhalten hast, fortzugehen und für dich allein zu sein?«

»Das hast du getan?«

»Allerdings. Weshalb siehst du so überrascht aus? Es ist doch bekannt, dass ich von Zeit zu Zeit ein oder zwei nette Dinge zustande bringe.« Bei diesen Worten funkelte es in ihren grünen Augen.

Er blinzelte schockiert. Sie sah tatsächlich aus, als ob sie sich über ihn lustig machte.

»Michael wollte, dass ihr Unterricht deiner Verantwortung obliegt und dass du sie auf ihrem ersten Auftrag begleitest. Ich habe ihn überzeugt, mir zu gestatten, das Training zu leiten.«

»Gabrielle, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.« Wenn sie nur so nachsichtig mit Lash sein könnte, wäre das Leben seines Bruders ganz anders. Obwohl Lash es niemals zugeben würde, war das Einzige, was er je von ihr gewollt hatte, Respekt.

»Da bist du ja!«, rief Raphael von den Gärten her. »Ich habe nach dir gesucht, Jeremiel.« Ein älteres Abbild seiner selbst kam mit einem breiten Lächeln im Gesicht auf sie zu. »Willkommen zurück, mein Sohn.«

Jeremy schluckte bei diesen Worten schwer. Raphael hatte sich für ihn immer wie ein Vater angefühlt. Obwohl er immer Lash mit seiner Aufmerksamkeit zu überhäufen schien, hatte Raphael es geschafft, ein wenig seiner Zeit mit ihm zu verbringen.

»Wenn ich mir das Lächeln auf deinem Gesicht so ansehe, gehe ich mal davon aus, dass dein Treffen mit Michael gut gelaufen ist«, sagte Gabrielle.

»Ja. Ja, das ist es. Er hat zugestimmt, dass es für uns alle gut wäre, einige Informationen aus unserer Vergangenheit zu teilen in der Hoffnung, dass es unsere Verbindungen zu stärken und die Heilung vorantreiben möge.« Raphael wandte sich zu Jeremy um und schlug ihm auf die Schulter. »Komm, Jeremiel. Wir haben viel mit deinem Bruder zu besprechen.«

Gerade, als Jeremy sich umdrehte, nahm er wahr, wie Gabrielle Raphael mit einer derartigen Sehnsucht ansah, dass er ein ein zweites Mal hinsehen musste. Ihre grünen Augen verengten sich und ihr Gesicht verschloss sich wieder zu der alten Gabrielle und er fragte sich, ob er sich Dinge einbildete. Sie warf einen Blick hinauf zum Berg und wieder zu ihm zurück. Dabei warf sie ihm ein verstohlenes Lächeln zu. »Denk an das, was ich gesagt habe, Jeremy. Betrachte es als ein Pokerspiel.«

Nach Dem Fall (Gefallener Engel #2)

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