Читать книгу Bali kaputt - Lara Stern - Страница 9
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Nichts war so schlimm wie der Anblick seiner nackten Füße.
Den ganzen Vormittag über hatte Sina versucht, sich innerlich auf die Konfrontation mit Martins Leiche vorzubereiten. Aber da war noch immer diese kleine, glimmende Hoffnung gewesen, die sie nicht loslassen wollte.
Er konnte, er durfte nicht tot sein!
Auf der Polizeistation in Kuta erfuhr sie, daß ihre Hoffnung vergeblich gewesen war. Allein die bloße Erwähnung seines Namens reichte aus, um sie auf ein imaginäres Surfbrett zu katapultieren, das hinaus in den Kosmos trieb. Glibbriger Schleim schien an ihr zu haften, ein Stigma der Unberührbarkeit, das die Beamten dazu brachte, sie mit einer unverhohlenen Mischung aus Abscheu und Neugierde anzustarren.
Martin war tot.
Sie wußte es, bevor der jüngere von beiden einen verblichenen Aktendeckel aus dem Regal nahm und umständlich zu blättern anfing.
Gestorben vor drei Tagen. Da war sie gerade in München weggeflogen.
Sie hatte keinen Wagen gemietet, sondern war, ohne viel nachzudenken, am Morgen einfach in Mades Taxi auf dem Parkplatz vor dem Hotel gestiegen.
Er beobachtete, wie sie später bleich und stumm aus der Polizeistation herauskam.
»Denpasar«, sagte Sina beim Einsteigen. »Gerichtsmedizin. Jalan Kenangan. Muß im Zentrum liegen.«
Sie wechselten kaum ein paar Worte während der Fahrt. Made, heute zum ersten Mal im balinesischen Sarong anstatt in seinen gewohnten Jeans, starrte auf die Straße und versuchte, im zunehmenden Chaos die Übersicht zu behalten. Offiziell herrschte Linksverkehr. In Wirklichkeit fuhr jeder überall. Umschwirrt von unzähligen Motorrädern, die wider jede Vorschrift mal von rechts, dann wieder von links an ihnen vorbeizogen, kamen sie in den Einzugsbereich der Hauptstadt.
Hier, inmitten der staubigen Gebäudezeilen und verstopften Straßen, war nichts mehr von dem tropischen Charme zu spüren, der die Insel weltweit berühmt gemacht hat. Es mußte die Hölle sein, in Denpasar zu leben.
Todesmutig wich Made einigen Radfahrern aus, die an langen Stangen Körbe mit Kampfhähnen transportierten. Hupen gellten, ein Junge trieb eine Horde kleiner Schweine über die Fahrbahn. Die alte Frau, die die Kreuzung vor ihnen mit einer Opfergabe schmückte, rettete sich mit einem Satz vor heranbrausenden Mopeds.
Das Gebäude war zweistöckig, grau und schäbig.
»Bitte warten Sie«, sagte Sina zu Made. »Ich denke, es wird nicht allzu lange dauern.«
Sie war froh, daß sie sein überraschendes Angebot, sie zu begleiten, abgelehnt hatte. Mit ihm an ihrer Seite hätte sie Martins nackte Füße noch weniger ertragen.
Der Kühlraum war eine winzige Kammer. Auf einer Pritsche lag ein männlicher Leichnam, mit einem geflickten weißen Tuch bedeckt. Nur die Füße schauten heraus.
Sie hätte sie unter Hunderten erkannt.
Größe 47, zwei schmale, lange Kähne, von Adern durchzogen, die jetzt kälter und blauer waren als je zuvor.
Der Gerichtsmediziner war vermutlich Mitte Dreißig. Kein junger Mann mehr auf einer Insel, wo mehr als sechzig Prozent der Bevölkerung unter Zwanzig sind. Er verbreitete dienstliche Reserviertheit.
»Bitte, decken Sie ihn auf!« sagte Sina mit fester Stimme. »Ich will ihn sehen.«
Erst später fiel ihr auf, daß sie unwillkürlich deutsch gesprochen hatte.
Er war so dünn geworden!
Sie starrte auf Martins hageres Gesicht und die bekannte Ananasfrisur, in der schon reichlich weiße Strähnen blitzten. Sein Nasenbein war gebrochen, er hatte Schürfwunden an Armen und Beinen und bläuliche Quetschungen im Rippenbereich. Kein friedlicher Schläfer lag vor ihr, sondern einer, dem man übel mitgespielt hatte.
»Woran ist er gestorben?« fragte sie zittrig und strengte sich an, nicht loszuweinen. »Wieso sieht er so schrecklich aus?«
»Herzversagen«, lautete die Antwort »Letztlich sterben wir alle an Herzversagen.«
»Das deutet aber doch auf einen Kampf hin«, beharrte sie. »Ich glaube kaum, daß er sich diese Verletzungen selbst beigebracht hat. Und was ist das da? Der blaue Fleck in seiner Armbeuge?«
Der Mediziner hob seine linke Braue. »Ein frischer Einstich«, sagte er unbeteiligt. »Harte Drogen. Vermutlich Heroin. Ich glaube, in Deutschland nennen Sie das ›Goldenen Schuß‹.«
»Martin war kein Junkie«, widersprach Sina impulsiv. Dann mußte sie an das Pulver aus seinem Haus denken. Auf der anderen Seite hatte sie nichts dort gesehen, was im entferntesten einem Spritzbesteck geähnelt hätte. »Können Sie feststellen, ob jemand etwas über einen längeren Zeitraum genommen hat?« wollte sie wissen.
»Wozu die Mühe?« Jetzt klang die scheppernde Stimme des Mannes blasiert. »Er ist tot, und es gibt einige Leute auf der Insel, die nicht unglücklich darüber zu sein scheinen. Ein Fremder, den niemand vermißt.«
Er sah sie durchdringend an. Die grünlichen Augen konnte er kaum von balinesischen Eltern haben. Seine Haut war heller als die der meisten Balinesen, ein bräunliches Creme. Sie kämpfte dagegen, ihn als unsympathisch abzutun.
»Todesursache ist Herzversagen. Wollen wir es dabei belassen.« Sein Ton bekam etwas Abschließendes.
»Moment, Moment!« Sina geriet in Rage. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie mir erst einen Köder vor die Nase halten und mich dann wie einen Fisch zappeln lassen! Martin hat nicht gefixt, das weiß ich genau. Das paßt nicht zu ihm! Ist es nicht möglich, daß ihm ein anderer das Zeug gespritzt hat?«
»Ihr Freund war ein großer Mann«, sagte der Arzt ausweichend. »Schlank, aber mit Kraft. Jemand, der sich wehren konnte.«
»Anscheinend nicht genug.« Jetzt war sie ernstlich zornig. Es tat gut, die Trauer von heiß aufsteigender Wut verdrängen zu lassen. »Sonst würde er nicht so aussehen, geschweige denn hier liegen, oder?«
»Vielleicht bekam er es nicht ganz aus freien Stücken«, murmelte der andere widerwillig.
»Was wollen Sie damit sagen?« bohrte Sina weiter.
»Möglicherweise stehen die Verletzungen in Zusammenhang mit dem Einstich«, sagte der Arzt. »Erst schlug man ihn zusammen. Dann setzte man ihm den Goldenen Schuß. Damit man ihn für einen Fixer halten sollte. Aber das ist nichts als eine These. Es gibt keinerlei Beweise dafür.«
Er zog angewidert die Nase hoch.
»Sie mögen die Deutschen nicht«, sagte Sina verblüfft.
»Sie hassen sie, obwohl Sie unsere Sprache perfekt beherrschen.«
»Sagen wir lieber, die Deutschen sind es, die Menschen mit anderer Hautfarbe und anderen Sitten nicht akzeptieren wollen«, erwiderte er steif. »Meine Mutter stammt aus Bali, mein Vater ist Holländer. Ich habe einige Jahre in Aachen studiert. Eine gute Gelegenheit, die Deutschen und ihr kaltes Land ein bißchen kennenzulernen.«
Er ließ eine kleine Pause folgen. »Ich bin gern nach Bali zurückgekommen«, sagte er. »Sehr gern.«
Sein Mund war ein schmaler, beleidigter Strich. Es hatte offensichtlich wenig Sinn, ihm mit Differenzierungen zu kommen. Er machte nicht den Eindruck, als ob er seine Meinung revidieren wollte.
»Sie haben zuvor von Leuten gesprochen, die froh sind, daß Martin tot ist«, sagte sie. »Wer könnte das sein?« Sie sah ihm direkt in die Augen.
»Bali ist keine große Insel«, erwiderte er vage. »Leute treffen sich und reden. Gerüchte machen schnell die Runde.«
»Ausländer? Waren es Touristen, mit denen er Ärger bekommen hat? Was wissen Sie? Sie müssen es mir sagen – bitte!«
Er zuckte die Achseln. »Es gibt Dinge auf Bali, die tabu sind«, sagte er ausweichend. »Absolut tabu, wenn Sie verstehen, was ich meine. Verletzt man sie, bestrafen einen früher oder später die Götter. So einfach ist das.«
Es hatte keinen Sinn. Sie schaute in eine Maske.
»Was geschieht jetzt mit ihm?« wechselte sie das Thema. »Soll ich mich um eine Überführung kümmern? Ich müßte versuchen, Kontakt mit seiner Familie aufzunehmen.« Sie überlegte. »Ich glaube, er hat eine Schwester, die irgendwo in der Schweiz lebt. Ich weiß aber nicht, ob sie nicht verheiratet ist und anders heißt.«
»Wir haben einen Friedhof für Leichen wie diese«, sagte der Gerichtsmediziner abfällig. »Dort begräbt man sie.«
»Aber doch nicht Martin!« protestierte Sina. »Er wollte immer verbrannt werden! Kann man keine lokale Feuerbestattung organisieren?«
Jetzt war das Lächeln des Mannes vor ihr böse geworden. Er reckte sich, um größer zu wirken.
»Kein Mensch auf Bali wird einem wie ihm die Gnade der Verbrennung gewähren«, sagte er langsam. »Kein einziger.«
Es tat zu weh, um zu weinen. Der Kloß in ihrem Hals, der wütende Schmerz, der sich in ihrem Magen festgefressen hatte.
Sina starrte nach draußen, wo sattgrüne Reisfelder an ihnen vorbeiglitten und Frauen schwere Wassereimer auf dem Kopf balancierten. Made hatte aus eigenen Stücken die Route geändert, als wollte er ihr durch die Schönheit der Landschaft ein wenig Trost zukommen lassen.
Sina bat ihn, unterwegs zu halten, um etwas zu trinken. So, wie sie sich momentan fühlte, sah sie sich nicht in der Lage, mit der reibungslosen Professionalität der gepflegten Hotelanlage fertig zu werden.
»Irgendwo. Es kann auch ganz einfach sein.«
Er stoppte vor einer niedrigen Häuserzeile in einem der kleinen Dörfer vor Legian. Der ganze Ort schien zu schlafen. Keine Spur von Touristen, nur ein paar Hunde, die träge im Schatten lagen.
Es war eine seltsame Mischung aus Kiosk, Lebensmittelgeschäft und Werkstatt, in die er sie führte. Sie bekam lauwarmes Mineralwasser in einem angeschlagenen Glas. Ein alter Mann deutete auf seine magere Brust und schüttelte immer wieder den Kopf. Dann wies er in eine Ecke.
Die alte Frau, offensichtlich die Chefin, zog Sina nach hinten. In einem dämmrigen Raum standen auf Regalen zahlreiche Holzfiguren. Sina machte eine abwehrende Handbewegung und wollte sofort wieder nach draußen. Die Alte aber schob sie sanft und doch nachdrücklich weiter.
Zu ihrer Überraschung begann Sina allmählich, die verschiedenartigen kleinen Gegenstände wahrzunehmen. Sie sahen gebraucht aus, verwendet, belebt. Nichts Neues, wie die unzähligen uniformen Schnitzarbeiten, die überall an den Straßen auf Käufer warteten.
Schließlich entschied sie sich für einen flaschengroßen Ganesha, den elefantenköpfigen Sohn Shivas. Sie streichelte seinen runden Bauch und bezahlte einen niedrigen Preis. Mit ihrer Plastiktüte kehrte sie zum Auto zurück.
Made strahlte. Offenbar war er mit ihrem Kauf einverstanden.
»Das ist Bali«, sagte er beim Anfahren. »Menschen sind ehrlich hier. Keine Verbrecher.« Er nickte mehrmals, um seine Aussage zu bekräftigen.
»Warum wollen Sie mir nicht helfen, Made?« fragte Sina leise. »Mein Freund ist tot, und ich muß herausfinden, von wem er getötet wurde. Und warum. Es muß einen Grund geben. Ich bin ganz sicher.«
»Woran gestorben?« fragte er lauernd.
»Herzversagen«, antwortete sie zunächst. Was für ein Spiel spielte er mit ihr?
Made gab ein kurzes Knurren von sich.
»Und höchstwahrscheinlich an einer Überdosis Heroin«, fuhr sie fort. »Die man ihm vermutlich verabreicht hat. Ich bin ganz sicher, daß er es nicht freiwillig genommen hat. Martin war kein Drogentyp.«
»Gefährliche Sache«, sagte er nach einer längeren Pause. »Wie Öl, das man ins Feuer gießt. Verbreitet schlechten Geruch. Auf Bali alle lieben guten Duft.«
»Er hat eine Freundin gehabt, ein einheimisches Mädchen«, sprach Sina weiter. »Ich glaube, die beiden haben zusammengelebt. Ihr Name ist Sri. Martin hat sie seinen Engel genannt. Hier ist ihr Bild.«
Sie streckte ihm das verschandelte Foto entgegen. »Ich möchte sie unbedingt finden. Vielleicht kann sie mir weiterhelfen.«
Er warf einen schnellen Blick darauf und kniff die Augen zusammen.
»Nicht gut, Familie zu verlassen«, erwiderte er heftig.
»Ist eine Welt hier, eine andere in Europa. Verschiedene Sitten. Paßt nicht immer zusammen. Große Probleme. Viel Kummer. Alle traurig.«
Er hielt vor dem Hotel.
»Was wollen Sie damit sagen? Kennen Sie das Mädchen? Wo ist sie?«
Er wiegte nachdenklich seinen Kopf und schien mit sich zu kämpfen.
»Muß erst noch einmal nachdenken«, sagte er schließlich. »Mit anderen sprechen. Sie kommen morgen, mich zu fragen, o. k.? Ich bin immer da. Mein Platz vor Hotel. Kein Problem.«
Sina hatte nur einen Wunsch – mit dem nächsten Flieger zurück nach München. An Urlaub war jetzt ohnehin nicht mehr zu denken.
Wie sollte sie von hier aus Kontakt mit Martins Schwester aufnehmen?
Sogar der Vorname war ihr erst nach längerem Nachdenken wieder eingefallen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo Sabine Stegmann mittlerweile wohnte.
Und wenn sie ihre Adresse herausbekäme?
Selbst dann wäre sie keinen Schritt weiter als bisher. Ein toter Martin mit kalten blauen Füßen und sein balinesischer Engel, der sich offenbar in Luft aufgelöst hatte.
Auf der anderen Seite hatte sie das Gefühl, Martin im Stich zu lassen, würde sie auf der Stelle nach Hause fliegen. Vielleicht gelang es ihr trotz aller Widerstände, etwas über die Umstände herauszufinden, die zu seinem Tod geführt hatten.
Er konnte jedenfalls nicht als Einsiedler hier gelebt haben. Nicht in Kuta, diesem lebendigen Ort, der aus allen Nähten platzte. Er mußte Bekannte gehabt haben, Freunde, Geschäftspartner, Kontakte zu Einheimischen. Andere mußten von seinen Plänen gewußt haben. Martin war ein geselliger Typ gewesen. Große Klappe vielleicht, aber die meisten hatten ihn in der Regel gemocht.
Falls er keinen unwahrscheinlichen Mist gebaut hatte. Sie holte das Geld und die Beutelchen aus der Kommode und beschloß, beides im Hotelsafe zu verwahren. Die Kette mit dem Elefanten hängte sie sich in einer Anwandlung von Trotz um den Hals.
Mal sehen, ob jemand darauf reagieren würde. Überhaupt war sie gespannt, wer ihr in nächster Zeit die Aufwartung machen würde.
Woher stammte das Heroin?
Ein Klopfen an der Türe ließ sie zusammenschrecken. Sie ließ Geld und Stoff unter der Bettdecke verschwinden.
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, Kiko! Störe ich? Ich habe dich heute noch gar nicht gesehen! Hast du keine Lust auf Meer und Sonne?«
»Nicht besonders«, erwiderte Sina und öffnete.
Kiko, in einem witzigen zitronengelben Badeanzug, setzte das Tablett mit den frischen Kokosnußdrinks ab. Besorgt betrachtete sie Sinas rote Augen.
»Ist was passiert?« fragte sie. »Bist du krank? Kann ich vielleicht helfen?«
»Martin ist tot«, sagte Sina und spürte, wie ihre Kehle eng wurde. »Mein Freund, der hier gelebt hat. Er plante ein großes Geschäft. Aber dazu ist es nicht gekommen. Man hat ihn zusammengeschlagen und mit Heroin vollgepumpt. Alle hier behandeln ihn wie einen Aussätzigen. Und jeden, der etwas mit ihm zu tun hat.«
»Kuta ist ein Ort der Drogen«, sagte die andere ernst.
»Pilze, Heroin, synthetisches Zeug – alles, was du haben willst. Du brauchst nur in bestimmte Lokale zu gehen und zu bestellen. Es gibt Japaner, die allein deswegen immer wieder nach Bali kommen.«
»Hat man es dir auch schon angeboten?«
»Nein, aber Freunden von mir«, war die Antwort. »Sie scheinen eine gute Nase zu haben, wer dafür in Frage kommt. Man nennt sie ›Kuta-Cowboys‹. Sie machen Jagd auf naive Touristen mit Geld in der Tasche. Am liebsten sind ihnen japanische Kunden. Die haben in der Regel am wenigsten Ahnung.«
»Du mußt mir mehr davon erzählen«, sagte Sina und fingerte nach einem Tempo.
»Hier drin?« staunte Kiko und zeigte auf das zerwühlte Bett.
»Ich brauche ein bißchen Zeit«, sagte Sina. »Zum Traurigsein, Nachdenken und Grübeln. Und zum Telefonieren. Aber morgen will ich alles erfahren, was du darüber weißt.«