Читать книгу Brüderlein, Schwesterlein - Lara Stern - Страница 5

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Schon immer hatte er Hitze gehaßt. Er hatte nichts übrig für Mittelmeerstrände; und südliche Nächte, die andere ins Schwärmen brachten, riefen in ihm lediglich Assoziationen von Fäulnis und Verwesung hervor. Er verabscheute die schwülen Tage in der Stadt, wenn der Asphalt dampfte, Autofahrer den Verstand verloren und laute, vergnügungssüchtige Menschenmengen sich in Biergärten oder Badeanstalten breitmachten.

Wenn schon Sommer, dann nördliche Sommer. Die niemals zu warmen, sonnendurchfluteten Tage; die weißen Nächte, die Mensch und Tier übermütig werden ließen und Schlaf zu etwas Nebensächlichem machten. Klare, kalte Seen. Einsame Fjorde. Kleine Holzhäuser und keine neugierige Menschenseele weit und breit.

Dann schien sich sogar sein Körper zu verändern, gewann die verlorene Frische längst vergangener Jahre zurück: kühle, straffe Haut, die sich in unbekümmerter Nacktheit zur Schau stellte. Wenn er die Augen schloß, war er ein junger Mann, voller Sehnsüchte und maßloser Begierden. Für ihn gab es keine Konventionen; er kannte weder Scham noch Schuldgefühle. Bis zum Ende aller Zeiten würde er sich nicht beeindrucken lassen von dem, was die anderen in ihrer feigen Engstirnigkeit für moralisch vertretbar hielten.

Lucky nimmt sich, was immer er will. Wann immer er will. Sooft es ihm gefällt.

Das war sein Motto, das einzige, dem er bis heute treu geblieben war. Lucky, so hatte er sich genannt, weil er seinen Taufnamen schon als Kind als verstaubt und seiner unwürdig empfunden hatte. Lucky war nicht alt geworden. Lucky, Herr der sieben Meere, siegreich über Schmerz, Angst und Vergänglichkeit, würde ewig über alles und alle triumphieren …

Er schwitzte. Er brauchte dringend seinen Drink.

Es war stickig im Haus, unerträglich geradezu, obwohl die Jalousien ein gutes Stück heruntergelassen waren. Das Zimmer lag in wohltuendem Dämmerlicht; dunkelgrüne Samtportieren umrahmten die angelehnte Tür. Seine Hand zitterte, als er Port in ein Glas goß, exakt zwei Finger breit.

Er war alt, sein Körper verbraucht, seine Haut schlaff. Faltige Knie, baumelnde Hoden und die aderdurchzogenen Füße eines Greises. Er hatte Lust, zu schreien oder etwas Wertvolles zu zerschlagen.

Natürlich tat er nichts dergleichen. Er blieb reglos sitzen, nackt und breitärschig, auf dem dunkelbraunen Lederstuhl mit hoher Lehne, den schon sein Vater besessen hatte, und dessen Vater vor ihm, und den er seinem einzigen Sohn niemals vererben würde.

War da eben nicht ein seltsames Geräusch gewesen? Er drehte sich um und starrte durch die Lamellen nach draußen in den abendlichen Garten. Mückenschwärme tanzten tief; noch immer stand die Hitze fast greifbar zwischen weißen und rosaroten Blumenrabatten. Durch die geöffnete Tür strömte widerlich warme Luft.

Der ganze Körper klebte. Er roch seinen säuerlichen Altmännerschweiß; er war müde, erschöpft, abgeschlagen. Wie ein Hilfesuchender wandte er sich zurück ins sichere Zimmer. Diese lästigen Gedanken an Altern und Sterben quälten ihn, seitdem der Junge aus dem Haus gelaufen war. Als sei es gestern gewesen, erinnerte er sich noch genau an seinen Blick. Feuer unter Eis. Niemals würde er ihn vergessen können.

Söhne. Söhne!!!

Er lachte halblaut auf, goß sich einen kräftigen Schluck nach und trank ihn in einem gierigen Zug. Er dachte nicht daran, den Löffel abzugeben, noch lange nicht, wenn es nach ihm ging! Er war reich, gewitzt, einflußreich und sehr, sehr unkonventionell. Nach wie vor voll prächtiger Ideen, sein Leben abwechslungsreich und vergnüglich zu gestalten. Die besten Voraussetzungen für einen sorgenlosen Lebensabend, auch wenn er sich in letzter Zeit manchmal einsam fühlte und es zunehmend anstrengender fand, sich die Gesellschaft zu beschaffen, nach der es ihn gelüstete. Aber auch dafür gab es Lösungen.

Er stand auf, schlüpfte in die Pantoffeln und schlurfte hinüber zum Bücherschrank. Mit einem kontrollierten Nicken fiel die Lesebrille von der Stirn zurück auf die Nase. Auf Knopfdruck verschwand die Seidentapete. Im Geheimfach hinter den schweinsledergebundenen Klassikern und den Märchenbüchern aus Familienbesitz schob er die Münzalben und das braune Bargeldpäckchen beiseite und wühlte zwischen Dutzenden von Kassetten. Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte: Sommervergnügen 1968. Die Beschriftung auf der Umhüllung war ebenso verblaßt wie die Aufnahme selbst, und das häufige Umkopieren hatte ein übriges dazu getan, aber das spielte keine Rolle.

Nicht heute abend. Nicht wenn er in dieser Stimmung war. Er legte die Kassette in den Videorecorder ein und ließ sich in den Lehnstuhl fallen. Der weißen Damenpistole auf dem Beistelltischchen gönnte er keinen Blick, sondern entzündete die Kerze in dem Kandelaber neben sich, obwohl es draußen noch nicht ganz dunkel war. Er schenkte sich einen Schluck Portwein ein. Dann erst betätigte er die Fernbedienung.

Die altbekannten Bilder erschienen, unscharf und verwaschen bunt, so amateurhaft, wie man damals eben gefilmt hatte. Ohne Ton. Den brauchte er nicht. Er hatte seinen eigenen Text dazu.

Anstelle von Erregung überfluteten ihn unversehens Wehmut und ein grausames Gefühl von Verlassenheit. Er nahm die Hand von seinem schlaffen Schwanz und preßte sie auf das Herz. Sein Atem ging stoßweise. Er spürte, wie sich ein eiserner Ring immer fester um seinen Brustkorb schloß. Er tastete nach dem Mineralwasser, fand aber nur den Portwein. Er setzte die Flasche an.

Der starke, süße Geschmack trieb ihm Tränen in die Augen. Er hustete. Plötzlich ekelte ihn seine Nacktheit an.

Er kam nicht mehr dazu, sie mit dem leichten Morgenmantel zu verhüllen, der neben ihm auf dem Boden lag. Als er sich schwerfällig nach ihm bückte, trat eine schmale, dunkel gekleidete Gestalt hinter den Portieren hervor. Sie packte den Leuchter, holte aus und traf exakt seinen Hinterkopf.

Lu fiel zu Boden und begann zu röcheln. Die erloschene Kerze rollte neben ihn.

Der nächste Schlag wurde mit erheblich größerer Wucht geführt. Hirnmasse und Blut sickerten auf den sandfarbenen Teppichboden. Lu beschmutzte sich und starb. Durchdringender Gestank erfüllte den Raum.

Auf dem Bildschirm rutschten noch immer lachende Kinder ins Wasser.

Erst dann fiel der Schuß. Und ein zweiter gleich hinterher, mitten in den großen Bildschirm.

Ein ohrenbetäubender Knall. Millionen feinster Splitter. Stichflammen schossen empor.

Die Portieren fingen sofort Feuer. Von der Decke begann die Sprinkleranlage zu sprühen. Alarmsirenen gellten.

Aber der Spuk war nicht zu Ende – noch lange nicht.

Brüderlein, Schwesterlein

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