Читать книгу Brüderlein, Schwesterlein - Lara Stern - Страница 6

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Gute fünfundzwanzig Grad im Schatten und noch nicht einmal halb neun! Sina V. Teufel stand auf ihrer Dachterrasse und spürte, wie sich in den Achselhöhlen Netze von Feuchtigkeit bildeten. Noch ein paar Minuten in der prallen Sonne, und das curryfarbene Seidenhemd würde schon vor dem ersten Einsatz ruiniert sein. Sie trat einen Schritt in den Schutz der Markise zurück.

Seit Wochen hielt ein unbarmherziger Sommereinfall die Stadt in Atem. Es war viel zu heiß für Mitte Juni; alle waren gereizt und überdreht, selbst die Pflanzen ließen die Blätter hängen. Der mannshohe Bambus neben der Tür brauchte mindestens das Doppelte seiner gewohnten Wasserration; die Rosenstöcke wirkten kraftlos; der liebevoll aufgepäppelte Blutahorn schien seinen Geist aufgeben zu wollen.

Sie goß all ihre Gewächse kräftig und blinzelte nach oben. Der Himmel über München war wieder gnadenlos blau. Nicht eine Wolke weit und breit. Sonnenstrahlen ließen die umliegenden Blätter silbern oder grünlich blinken; schon jetzt sah der Weg über das aufgeheizte Metall sehr ungemütlich für empfindliche Katerpfoten aus.

Keine Spur von Taifun. Er war den zweiten Morgen nicht von seiner nächtlichen Runde zurückgekehrt. Sina war beunruhigt, verbot sich aber den Blick vier Stockwerke tief in den Hof. Schon um Mitternacht hatte sie unter einer kürbisgelben Mondkugel zwischen Küchenkräutern und Fahrrädern jeden Zentimeter nach einem leblosen schwarzen Raubtierkörper abgesucht. Notgedrungen ergebnislos, wie sie sich anschließend noch immer aufgewühlt bei ein paar Gläsern Rosé vorgebetet hatte. Was aber mochte der Grund sein, weshalb er nicht nach Hause gekommen war? Sauer? Verlaufen?? Gekidnappt???

Sie zwang sich, ihre Konzentration auf das zu lenken, was unbedingt noch erledigt werden mußte. Der Besuch, den sie heute abend erwartete, war anspruchsvoll, mit einem deutlichen Zug ins Mäkelige. Hoffentlich würde er allein aufkreuzen. Ihr stand nicht der Sinn nach seinen vorzugsweise blonden und rothaarigen Gefährtinnen, die sich bei ähnlichen Gelegenheiten mit Schnittblumen und verlegener Herzlichkeit auf sie gestürzt hatten. Eine Mutter in diesem Leben hatte sie als durchaus ausreichend empfunden. Während sie zwei Flaschen Chablis in den Kühlschrank legte – sein Lieblingswein, wenigstens war er das bei ihrem letzten Treffen vor vier Jahren noch gewesen – und sich noch schnell die Telefonnummer des indischen Caterings notierte, von dem Carlo neulich so geschwärmt hatte, fragte sie sich zum x-ten Mal, weshalb sie sich überhaupt auf dieses vorhersehbare Fiasko eingelassen hatte. Aber nun war es zu spät für einen Rückzieher. Zumindest was sie betraf.

Seine Absagen in letzter Minute standen auf einem anderen Blatt. Ausreden waren seine Disziplin; darin war er kaum zu übertreffen. Züge, die auf offener Strecke hielten, Flugzeuge, die partout nicht starten wollten, wahlweise ausgestorbene oder verstopfte Städte – wenn es darauf ankam, war ihm noch jedesmal etwas Passendes eingefallen. Ihre Kindheit war voller Vielleichts, Wahrscheinlichs und Wenn-aberdanns gewesen. Vermutlich rührte daher die geradezu pathologische Abneigung gegen Unzuverlässigkeit, die Sina V. Teufel privat wie dienstlich plagte.

Falls man glaubte, die Schuld an den persönlichen Schwachstellen und Deformationen ein Leben lang seinen Erzeugern zuschieben zu können. Für gewöhnlich konnte sie Leute, die dazu neigten, nicht ausstehen. Der Anfall von Selbstmitleid verschwand zum Glück so schnell, wie er gekommen war. Sinas praktische Seite siegte.

Was war noch zu tun? Die Markise ganz herunterlassen, zum wiederholten Mal überprüfen, ob die diversen Katzentüren auch wirklich funktionierten, noch schnell in der Küche Freßnapf und Wasserschälchen neu auffüllen. Irgendwann mußte Taifun ja wieder nach Hause kommen.

Jetzt war sie endlich startbereit, aber sie kam einfach nicht in Schwung. Gab es tatsächlich so etwas wie Verhaltensmuster, die – dahingestellt, ob tauglich oder nicht –, von Generation zu Generation weitergegeben wurden? Oder war sie einfach unfähig, das zu leben, was man gemeinhin unter »glücklich sein« faßt? Jedenfalls klumpte etwas in ihrer Brust, ein schwarzes, bleiernes Gefühl, das weder ausschließlich mit Theos drohendem Überfall noch mit Taifuns rätselhaftem Verschwinden zu tun hatte.

Sina spürte diese ungute Last, als sie ihren BMW aus der Tiefgarage holte und losfuhr. Klar, daß es mit einem Kerl zu tun hatte. Und mit was für einem!

Vor zwei Tagen hatten sie sich scheußlich gestritten. Wegen einer Nichtigkeit, zumindest anfangs. Später waren dann beim passenden Stichwort auf beiden Seiten die Schotten runtergerasselt. Seitdem Sendepause. Beruhigend zu wissen, dachte sie bitter, daß es in dieser Welt der zahllosen Unwägbarkeiten noch gewisse Gesetzmäßigkeiten gibt, auf die man sich hundertprozentig verlassen kann! Ein rascher Blick auf die Uhr. Spät dran war sie auch noch.

Selbstredend war im gesamten Bahnhofsviertel nicht ein halbwegs legaler Parkplatz frei. Sina stellte ihren Wagen in zweiter Reihe ab und hoffte auf ein kleines Wunder. Dann spurtete sie die Stufen zur Bahnhofshalle hinauf und schob sich durch die schwerbepackten Menschenmassen. Keuchend kam sie am Bahnsteig an.

Pit Klein, der Mann, den sie Redford nannte, seitdem er vor knapp einem Jahr ihr Herz im Sturm erobert hatte, war gerade am Einsteigen. Jeans, Knitterhemd und unzählige Lachfaltchen um die eisblauen Augen. Der rasende Reporter in Reinkultur, dachte sie unwillkürlich. Immer auf dem Absprung. Das fehlende i-Tüpfelchen auf meinen höchstpersönlichen Macken.

»Warte gefälligst!« rief sie.

Er ließ den abgeschabten Koffer fallen und starrte sie an wie eine Erscheinung. Da war es wieder, jenes winzige Verziehen des linken Mundwinkels, das wie am ersten Tag ihre Knie weich werden ließ! Etwas verkrampft lächelte Sina zurück.

»Ist das alles, was du zu sagen hast?«

Redford blieb noch immer stumm.

Sie hätte es wissen müssen! Wenn er sich unter Druck fühlte, klappte er zu wie eine Auster. Heute aber hatte sie keine Lust, die Verständnisvolle zu mimen. Ärger stieg in ihr auf und machte dem verdammten Blei in ihrer Brust den Rang streitig. Zwei endlose Wochen fuhr er wegen einer Reportage in den wilden deutschen Osten – mit der Bahn! Anstatt wie jeder vernünftige Mensch einen der unzähligen Billig-Flugtarife zu nutzen – und bekam zum Abschied kein Wort heraus!

»Vorsicht auf Gleis zwanzig«, schepperte die Lautsprecherstimme. »Die Türen schließen! Der ICE nach Berlin ist zur Abfahrt bereit.«

»Ich muß rein«, brachte er schließlich hervor. »Du hörst ja.« Ein halb unbehagliches, halb hilfloses Achselzucken. Nicht gerade der Gipfel an Emotion. Von reumütigem Entgegenkommen ganz zu schweigen. »Ich ruf’ dich an – Liebchen!? Sobald ich ein Quartier habe.«

Er streifte ihre Wange mit einem Kuß, packte seinen Koffer und die unvermeidliche Trapperjacke und war im Zug verschwunden.

Sina warf den Kopf in den Nacken. Sie überwand ihren Stolz und raste bei tropischen Temperaturen quer durch die Stadt – und er spielte sich auf als Mr. Cool, der es wagte, sie mit einem windigen »Liebchen« abzuspeisen!

Hinter der getönten Scheibe waren nur unscharfe Konturen auszumachen. Einen Augenblick lang glaubte sie, einen Arm zu erkennen, der sich rhythmisch auf und ab bewegte, da setzte sich der Zug schon in Bewegung. Sie verzichtete aufs Zurückwinken ins Ungewisse und bestellte sich am nächstbesten Stand einen doppelten Espresso; er erwies sich als ebenso bitter und fadenscheinig wie ihre Hoffnungen.

»Haben Sie vielleicht eine Zigarette für mich?«

Die blühende Akne ihres Gegenübers erglühte in tiefem Magenta. Er nickte und fingerte ein filterloses Knickding aus einer zerknüllten Packung.

Sina bediente sich resigniert. War auch schon egal! Heute war der richtige Tag, um nach Monaten heroischer Abstinenz zu alten Lastern zurückzukehren. Zwischen den ersten Zügen, bemüht, dem Pickeligen auszuweichen, der weiter und weiter über den Tisch wuchs, dachte sie über ihr Leben nach. Ein Kater auf Abwegen, ein künstlich auf jugendlich getrimmter Vater, ein Geliebter, den jedes Gramm Zuneigung zuviel in die Flucht trieb – womit hatte sie diese seltsame Trinität an unzureichender Männlichkeit eigentlich verdient?

Während sie insbesondere über den letzten Punkt weitersinnierte, dämmerte in ihr die Ahnung, wie unsäglich weit die Entfernung zwischen zwei Menschen werden konnte, die sich so nah gekommen waren wie Redford und sie.

Jeder Tag, der mies beginnt, kann noch viel mieser weitergehen. Hannes Lieblingsspruch aus despressiven Zeiten war eine weitere Gesetzmäßigkeit, auf die man sich verlassen konnte. Sina kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie einer dieser Abschleppmarder ihren Wagen an die Angel genommen hatte und nach oben auf die Stellfläche hieven wollte. Inzwischen stach die Sonne stechend herunter; Fußgänger verfielen in müdes Schlendern, und alle Cafés hatten erwartungsvoll jeden Stuhl draußen postiert.

»Was soll das denn werden, wenn es fertig ist? Machen Sie das Auto wieder los!«

Der Angesprochene, ein vierschrötiger Typ mit Stiernacken und zweckentfremdeter Baskenmütze, schüttelte bedächtig seinen Kopf. Jede schnelle Bewegung schien ihm ein Greuel zu sein.

»Nix zu machen! Absolutes Halteverbot, junge Frau. Sie behindern außerdem die Taxizufahrt.« Er nickte dem Fahrer zu. »Gemma? Paßt scho!«

Der Wagen ruckelte ein Stück weiter nach oben. Schweißbahnen rannen ihr unaufhaltsam den Rücken runter.

»Die Feststellung etwaiger Ordnungswidrigkeiten überlassen Sie am besten der Polizei. Das Auto von der Kette, aber dalli!« Sinas Stimme klang sogar in ihren eigenen Ohren unangenehm schrill.

Noch immer machte der Dickwanst keine Anstalten, der Aufforderung nachzukommen. Ganz im Gegenteil. »Weiter, Hansi!« schnarrte er, ohne sich zu bewegen. Sina setzte die Sonnenbrille ab. »Lust auf eine Anzeige wegen Diebstahls? Ich bin die Halterin dieses Pkws, Rechtsanwältin Dr. Teufel. Es kann sehr unangenehm für Sie werden, wenn Sie nicht augenblicklich tun, was ich sage, das verspreche ich Ihnen!«

Beim Wort »Rechtsanwältin« war er leicht zusammengezuckt. Sie ließ ihm keine Chance, sich zu erholen, sondern streckte ihm angriffslustig Kraftfahrzeugschein nebst Visitenkarte hin. Die mit dem Großdruck für schlichte Gemüter.

»Und die Rechnung …«

»… schickt die Polizeiverwaltung mit dem Bußgeldbescheid. Ich sehe schon, wir verstehen uns!«

Das wirkte. Er kam zeitlupenartig in Gang und befreite den Wagen. Sina warf ihm noch einen mißmutigen Blick zu, stieg ein und gab Gas. Zweihundert Mark, dachte sie. Mindestens. Und der ganze Ärger noch dazu!

Plötzlich mußte sie lachen. Wie absurd die ganze Situation doch war! Papa ante portas, Redford verdattert im Zug, sie entnervt im glutheißen Auto, und das alles, weil erwachsene Menschen im entscheidenden Moment die Zähne nicht auseinander bekamen! Was T. V. Teufel betraf, so schien ihrer Erfahrung nach tatsächlich Hopfen und Malz verloren. Aber sie und Redford?

»Lernfähig, äußerst lernfähig!« murmelte sie vor sich hin. Ihre Laune stieg. »Und gnade dir Gott, alter Sturkopf«, setzte sie ihren halblauten Monolog fort, »beim nächsten Mal kommst du mir nicht so ungeschoren davon!«

Im Sekretariat herrschte Freibadatmosphäre. Azubine Anke Frey, kurz vor den ReNo-Prüfungen, trug über einem Mini den Hauch einer giftgrünen Chiffonbluse. Man mußte mindestens zweimal hinsehen. Erst dann entdeckte man darunter den hautfarbenen Seidenschal, der ihren Busen mehr schlecht als recht verhüllte. Tilly Malorny löffelte hingebungsvoll Eiskaffee, und Marina König war dabei, gurrend ihren Sprößling Raffi aus einem Papierkorb zu locken, den er offenbar mit Wasser gefüllt hatte. Mit reichlich Wasser, wie sich herausstellte, als Eimer und Bub mit Getöse umfielen.

Anke rannte nach Putzlappen und Handtüchern und fing an, den Teppichboden trockenzutupfen; Marina trocknete zeternd Raffi ab. Tilly ließ sich in ihrem Genuß keinen Augenblick lang beeinträchtigen. Über ihren Köpfen verquirlte ein weißer Deckenventilator träge, warme Luft. Logischerweise ohne den geringsten Effekt, denn alle Fenster standen weit offen; vom Maximiliansplatz dröhnte das Hupkonzert genervter Autofahrer herauf.

»Wo stecken die anderen?« Sina verzichtete angesichts des Stillebens auf die einschlägigen Bemerkungen, die sie schon auf der Zunge gehabt hatte. »Wo ist Hanne?«

»Toll, was?« Ein langstieliger Eislöffel zeigte schräg nach oben. »Geschenk von Herrn Bergis. Und angebracht hat er ihn auch noch eigenhändig! Damit wir nicht so leiden müssen, hat er gesagt. Ist eben doch ein echter Kavalier!«

»Wo ist Hanne?« wiederholte Sina eine Spur unwilliger. »Und wo sind Lola und Arno?«

Tilly setzte sich in Positur. Sie haßte es, Dinge zweimal gesagt zu bekommen, unvereinbar mit ihrer Würde als Bürovorsteherin. »Frau Bromberger ist beim Einrichtungsberater.« Man sah förmlich, wie sie sich das Wort auf der Zunge zergehen ließ.

»Beim bitte was?«

»Beim Innenarchitekten«, kam es spitz zurück. »Herr Bergis hat sie vorhin abgeholt. Für die neue Wohnung Fliesen und Armaturen aussuchen. Lola schlägt Fundstellen nach, und ob Arno inzwischen im Keller die fraglichen Akten gefunden hat, entzieht sich meiner Kenntnis.« Kurze, verschnupfte Pause. »Selbstverständlich könnte ich nachsehen gehen.« Beiden war klar, daß man sie besser nicht dazu aufforderte. »Darf ich Sie außerdem daran erinnern, daß Frau Eschenborn auf Sie wartet? Und das seit mehr als zwanzig Minuten.«

»Doch nicht etwa in meinem Büro? Hatten wir nicht erst neulich vereinbart, Mandanten grundsätzlich nicht in die Büros abwesender Anwältinnen zu führen?«

»Hätte ich sie vielleicht hier draußen Platz nehmen lassen sollen?«

Ein fälliger Arm beschrieb einen Halbkreis über das Chaos von Kinderspielzeug, Lappen und Eimern. Der Kleine hockte unter einem Schreibtisch und heulte wie am Spieß. Auf Marinas Wangen brannten hektische Flecken und die ganze Last alleinerziehender Mütter. Der private Kindergarten, den ihr Sohn besuchte, war wegen akutem Windpockenbefall geschlossen; der Jahresurlaub für die großen Sommerferien reserviert. Jetzt galt es, eine barmherzige Seele aufzutun, bei der Raffi ungestört seinen Unsinn abziehen konnte.

»Schon gut«, murmelte Sina entnervt. Keine Grundsatzdiskussionen, nicht an diesem Morgen, wo einem unvermutet Bäche aus Papierkörben entgegenflossen.

»Besteht die Aussicht auf frischen Kaffee?«

»Ganz wie Sie wünschen!«

Obwohl die Frage keineswegs speziell an sie gerichtet war, erhob sich Tilly ostentativ und segelte in Richtung Küche. Es würde Tage dauern, bis sie wieder entleidigt war. Aber was half’s: Trotz ihrer Empfindlichkeit war sie ein Prachtstück und außerdem die wohl genialste Organisatorin des Aktenwesens der westlichen Hemisphäre, wie Hanne immer behauptete. Daher lief es vermutlich ebenso ab wie schon die unzähligen Male zuvor: Funkstille, zarte Annäherung – Versöhnung. Es gab Dinge, die waren schlechterdings unabänderlich.

Sina betrat seufzend ihr Büro.

Immer wieder war sie überrascht, wie gut Nathalie Eschenborn aussah. Sie hatte einiges an Gewicht verloren, seitdem sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, und die Linien um Mund und Augen zeichneten sich schärfer ab, als stünde sie unter Streß, aber sie war und blieb eine auffallende Erscheinung: herzförmiges Gesicht, schmale Nase, trotzig aufgeworfene Lippen und eine Flut dunkelblonder Haare. Dazu ein Körper, wie sich ihn Männerphantasien besser nicht hätten ausmalen können, mit Beinen bis zum Kinn, knabenhaften Hüften und einem üppigen Busen, den sie am liebsten unter Jacketts oder weiten Pullis versteckte.

Seit einigen Jahren mit all ihren Steuerangelegenheiten in Harmes kostenbewußten Händen, war sie bislang zweimal Sinas Mandantin gewesen: Das Mietvertragsproblem wegen einer kleinen Wohnung, die sie sich als Büro einrichten wollte, lag schon etwas zurück. Im vergangenen Herbst war Nathalie dann als umsatzbeteiligte Cheftexterin bei einer mittelgroßen Agentur eingestiegen. Sina hatte die komplizierten Abmachungen juristisch abgeklopft und sie dabei unterstützt, ihre Forderungen gegenüber den beiden anderen Partnern – beides Männer – durchzusetzen.

Die beiden Frauen, die nur ein paar Jahre voneinander trennten, mochten sich, wenngleich Nathalie Eschenborn das war, was Sina für sich »Person mit Tapetentür« nannte. Obwohl sie lebhaft war und gestenreich sprach, umgab sie eine Aura der Zurückhaltung. Etwas Unbestimmbares, aber Wichtiges fehlte: jenes innere Leuchten, das Menschen so anziehend erscheinen läßt. Rauchgraue Augen blickten skeptisch in die Welt, und die dunklen, überraschend kräftigen Brauen konnten sich plötzlich abwehrend zusammenziehen. Jetzt aber lächelte sie.

»Schön, daß Sie da sind!«

»Tut mir leid, daß Sie warten mußten«, erwiderte Sina. »Es gab noch etwas Dringendes zu erledigen.«

»Kein Problem! Ich habe heute meinen freien Tag. Da kommt es auf ein paar Minuten wirklich nicht an.« Ihr Lächeln verschwand.

»Wie es aussieht, habe ich geerbt.« Sie reichte Sina ein Blatt Papier. »Das kommt vom Nachlaßgericht. Nächsten Dienstag ist die Testamentseröffnung. Ich bin unter anderem hier, um Sie zu bitten, diesen Termin für mich wahrzunehmen.«

Sina überflog das Geschriebene. »Mein Beileid«, sagte sie dann. »Ich wußte nicht, daß Ihr Vater gestorben ist.«

»Gestorben ist eine nicht ganz korrekte Beschreibung. Er wurde in seiner Villa in Pullach überfallen. Und umgebracht. Sie haben sicher darüber gelesen. Die Zeitungen waren voll davon.«

»Der Pullacher Mordfall – natürlich! Ihr Vater – wie schrecklich für Sie! Ich wußte ja nicht, daß er …«

»Ja, die Presse war im Detail erstaunlich diskret. Kein Wunder, schließlich war mein Vater nicht nur angesehener Unternehmer, sondern auch Mitglied des bayerischen Senats. Manche Verbindungen scheinen über den Tod hinaus ihre Gültigkeit zu behalten.« Ihr Ton hatte sich verändert.

»Wie ist der Stand der Ermittlungen? Gibt es schon eine heiße Spur?«

»Die Polizei geht von Raubmord aus. Das heißt, wenigstens anfangs tat sie das. Inzwischen sprechen, so Oberstaatsanwalt Engl, ein paar entscheidende Dinge dagegen.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Bevor Sina etwas erwidern konnte, flog die Tür auf. Anke versuchte sich in dem Kunststück, ein Tablett zu balancieren und gleichzeitig ihren Busenschoner festzuhalten. Letzteres mißlang.

»Hast du nicht noch irgendwo ein T-Shirt rumliegen?« fragte Sina säuerlich. Auch wenn das Mädchen die Tochter ihrer Freundin Friederike war und sie Anke schon als Kleinkind gekannt hatte, in der Kanzlei hatte sie sich den Regeln zu fügen, die für alle galten.

»Sind doch eh nur Frauen weit und breit«, maulte Anke. »Was soll man in dieser Affenhitze denn anziehen?«

»Eine Kanzlei ist ein Ort der Rechtspflege und kein Nacktbadestrand!«

Sinas Tonfall ließ Anke einlenken. »Okay, schon verstanden! Wenn die große Vorsitzende befiehlt – ich gehorche!«

Mit einem rasanten Hüftschwung war sie draußen.

Sina schenkte ihrer Besucherin, dann sich selbst Kaffee ein.

»Was hatten Sie eben gesagt? Vor dieser Zirkusnummer?«

»Mein Vater wurde am 20. Mai ermordet. Erschlagen, und anschließend mit einer Pistole in die Stirn geschossen. Aber da lebte er laut Obduktionsbericht schon nicht mehr. Natürlich gibt es eine Alarmanlage im Haus, aber der Täter konnte unentdeckt entkommen. Das Zimmer wurde zudem in Brand gesteckt. Und die Feuerwehr hat beim Löschen noch den Rest erledigt.« Sie hüstelte. Trank einen Schluck. Ihre Stimme klang belegt, als sie weitersprach. »Zumindest scheint die Spurensicherung am Ende ihres Lateins. Und nicht nur sie. Man tut sich ausgesprochen schwer, einen Schuldigen zu finden. Sonst wären sie wohl kaum auf mich verfallen.«

»Heißt das, die Polizei verdächtigt Sie?«

Nathalie zuckte die Achseln, aber ihr Mund war hart geworden. »Ist natürlich blanker Unsinn. Aber wie die meisten braven Unschuldigen habe ich kein Alibi. Keines jedenfalls, das der Polizei gefällt. Ich war nämlich in der fraglichen Zeit allein im Büro. Beim Texten. Ein eiliger Auftrag. Sie verstehen.«

»Seien Sie nicht zu sorglos, Frau Eschenborn! Naivität in einem Mordfall kann unter Umständen ganz schön gefährlich werden.«

»Ich hatte wahrlich kein gutes Verhältnis zu meinem Vater.« Das Gesicht der Frau war abrupt versteinert. »Aber umgebracht habe ich ihn deswegen noch lange nicht.«

»Man muß nicht schuldig sein, um unter Verdacht zu geraten oder verurteilt zu werden«, sagte Sina ernst. »Polizei und Staatsanwaltschaft werden nervös, wenn kein passender Mörder auftaucht. Dazu kommt, daß die meisten Täter aus dem Familienkreis kommen. Also beginnt die Polizei genau da zu ermitteln. In der Regel verliert irgendwann einer die Nerven und gesteht. Auf diese Weise werden die meisten Fälle aufgeklärt.«

Sie stand auf, ging rüber zu ihrem Schreibtisch und kam mit einer Visitenkarte zurück. »Sie wissen ja, daß ich bei Strafrecht passe. Aber mein Freund und Kollege Louis Levin kann Ihnen sicher weiterhelfen. Schwul, teuer und absolut brillant. Ich würde Ihnen dringend empfehlen, sich sofort mit ihm in Verbindung zu setzen. Sagen Sie nur, daß ich Sie geschickt habe. Dann weiß er schon Bescheid.«

»Danke.« Die Mandantin steckte die Karte in ihre weinrote Beuteltasche. »Mach ich, wenn Sie meinen, daß es so wichtig ist. Und diese Erbschaftsgeschichte? Am liebsten wäre mir, Sie würden alles für mich abwickeln. Je weniger ich damit zu tun habe, um so besser.«

»Schön der Reihe nach! Kommen wir erst einmal zurück zur Testamentseröffnung. Sind Sie die einzige Erbin, oder gibt es andere? Ihre Mutter? Geschwister?«

»Meine Mutter ist schon lange tot. Da ist nur noch Dominik, mein jüngerer Bruder. Aber wir haben nicht viel miteinander zu tun. Wir sind eine komische Familie, lauter Einzelgänger.« Ihr Lächeln wirkte bemüht.

»Klingt nach ganz ordentlichen Spannungen.«

»Spannungen?« Nathalie lachte kurz auf. »Sagen wir lieber, mein Bruder und ich sind ganz und gar unterschiedlich. Getrennte Neigungen, getrennte Wege. Dabei waren wir unzertrennlich, als wir klein waren. Brüderchen und Schwesterchen wie im Märchenbuch. Aber das ist Ewigkeiten her.«

»Wenn sonst keine direkten Erben vorhanden sind, dürfte das Testament Sie beide vermutlich zu gleichen Teilen berücksichtigen.«

»Das glaube ich kaum!« widersprach Nathalie. Ihre Gesten wirkten auf einmal fahrig. Sie zündete sich eine Zigarette an, machte ein paar Züge und drückte sie wieder aus. Sina verkniff es sich, es ihr nachzutun. Der Rachen brannte, und ihre Zunge fühlte sich an, als habe sie bereits eine ganze Schachtel inhaliert. »Mein Vater und ich haben uns, wie gesagt, nicht besonders verstanden. Und während der letzten Jahre kaum gesehen. Ich gehe davon aus, das hat sich in seinem Letzten Willen ausgewirkt. Unmißverständlich, wie ich ihn kenne. Das Haus, die Immobilien, vor allem aber die Fabrik – ich bin sicher, er hat Lösungen gefunden, die ihm mehr zusagen.«

»So bitter?« fragte Sina und mußte unwillkürlich an ihr verkorkstes Verhältnis zu T. V. Teufel denken. Mit komplizierten Erbschaftsgeschichten jedenfalls würde sie eines Tages nicht konfrontiert werden. Sie konnte schon froh sein, wenn sie ihm nicht den Lebensunterhalt und weitere Sperenzchen finanzieren mußte.

»Nicht bitter.« Nathalie schüttelte den Kopf. »Nur realistisch. Wenigstens das hat er mir beigebracht. Ist doch auch schon was.« Ihr Ton wurde drängender. »Vertreten Sie mich bei der Testamentseröffnung? Dienstag um neun? Ich weiß, es ist kurzfristig, aber es wäre wichtig für mich.«

»Sie wollen Ihrem Bruder nicht begegnen.«

Nathalie Eschenborn war aufgestanden. Gardemaß, beinahe einsachtzig, wie Sina schätzte. Eine der handverlesenen Frauen, die Leinenstiefel und Shorts tragen konnten.

»Ja, das möchte ich nicht. Sein Auftritt bei der Beerdigung hat mir gereicht. Absolut bühnenreif: Um ein Haar wäre er Papa ins offene Grab nachgesprungen. Dabei hatten die beiden auch ihren Zoff miteinander. Aber für eine gute Inszenierung besaß Dominik schon als Dreijähriger das richtige Gespür. Damals pflegte er Mamas Hüte aufzusetzen, in ihre Pumps zu schlüpfen und auf der Treppe ganze Abendgesellschaften zu unterhalten.«

Sina blätterte in ihrem Terminkalender.

»Wird eng«, sagte sie. »Aber es geht. Hat wohl wenig Sinn, Sie zu bitten, mir künftig ein bißchen früher Bescheid zu geben?«

Jetzt verzogen beide das Gesicht. Sina hatte auf die jüngst zurückliegenden Vertragsverhandlungen angespielt. Nathalies nachlässiger Umgang mit Terminen hätte das Projekt um ein Haar zum Platzen gebracht.

»Ich werde mich bessern«, sagte sie. »Ehrenwort!«

»Sie können gleich damit anfangen, indem Sie im Sekretariat ein paar Vollmachten auf Vorrat unterschreiben«, schlug Sina vor. »Damit wir unverzüglich loslegen können. Wo kann ich Sie am Dienstag nachmittag telefonisch erreichen?«

Nathalie zog einen gespielten Flunsch.

»In der Agentur«, sagte sie. »Immer tapfer am Malochen. Letzte Woche bin ich neununddreißig geworden. Sieht nicht so aus, als würde der Märchenprinz noch vorbeikommen.«

»Stehen die nicht längst unter Artenschutz?« fragte Sina und brachte sie lachend hinaus.

Später Nachmittag, dreiunddreißig Grad im Schatten. Selbst die Fliegen hingen schlapp an der Scheibe. Alle Sekretärinnen waren ins Wochenende ausgeflogen, nur Arno Rebell hatte freiwillig den Telefondienst übernommen.

Sina legte das Diktiergerät aus der Hand und öffnete die Schiebetür zum Nachbarbüro.

Hannes Zimmer erinnerte sie an das Warenlager eines mittelständischen Möbelgeschäfts. Stapelweise Teppichbücher lagen auf dem Boden, Dekorationsstoffe aller Art auf den Stühlen. Blickfang war ein überdimensionaler Verkaufsständer, der Keramikplättchen in Regenbogenfarben feilbot.

»Ah ja«, sagte Sina spöttisch, »die italienische Variante! Wahrscheinlich eine spezielle Empfehlung vom Herrn Einrichtungsberater!«

Hanne warf ihr einen scharfen Blick zu.

»Einen kalten Campari zum Durchschnaufen?« schlug Sina versöhnlicher vor.

Hanne nickte.

Sina ging in die Küche und kam mit zwei beschlagenen Gläsern zurück.

»Salute! Auf die Hitze – und die doofe, alte Liebe!« Ihre Stimme hatte einen rauhen Unterton.

Sie tranken.

»Demnach ist Pit endgültig abgedüst«, tippte Hanne treffsicher. »Große Versöhnung? Alles wieder paletti?«

Sina schüttelte den Kopf.

»Hätte ich mir gleich denken können, als ich heute mittag dein miesepetriges Gesicht gesehen hab!«

»Und wie steht’s bei dir? Sind die gehäkelten Klobrillen schon im Anrollen?«

Seit Wochen gärte das Thema Wohnungswechsel zwischen ihnen. Nicht genug, daß sich Bill Bergis im letzten Jahr bei Hanne eingenistet hatte; jetzt hatte er noch ein aufgemotztes Dachgeschoß in der Innenstadt aufgetan und die Zögernde so lange bestürmt, bis sie schließlich doch schwach geworden war. Sina hielt es für eine denkbar schlechte Idee, daß Hanne dafür ihr geliebtes Hexenhäuschen in Steinhausen aufgeben, den Löwenanteil ihres Vermögens investieren und sich zusätzlich einen Schuldenberg aufhalsen sollte.

Von Bill war nichts zu erwarten, zumindest nicht in pekuniärer Hinsicht. Seit einem halben Jahr erzählte er jedem, der ihm unter die Finger kam, von den lettischen Filmwochen, die ganz München unwiderstehlich in ihren Bann ziehen würden. Ob noch in diesem Jahrtausend, blieb freilich fraglich. Keiner wußte, was er eigentlich trieb, wenn er nicht gerade ungebeten Ventilatoren montierte.

»Vernünftig war ich lange genug«, erwiderte Hanne. »Jetzt will ich endlich leben. Und zwar richtig!«

»Recht hast du«, sagte Sina. »Aber muß das ausgerechnet auf hummerfarbenen Flauschböden sein?« Sie zog mit spitzen Fingern ein rosafarbenes Veloursteilchen hervor. »Ich weiß nicht, wieso, aber deine abgelatschten Dielen passen einfach besser zu dir!«

»Daß alle immer versuchen müssen, mir in mein Leben reinzuquatschen!« Hannes Reaktion verriet, wie schwer ihr der Abschied von dem verwinkelten Haus in Wirklichkeit fiel. »Glaub mir, Sina, manchmal muß man spontan springen, nicht erst, wenn alle Sicherheitsnetze montiert sind.« Sie setzte eine Verschwörermiene auf. »Es ist eine Sache, den Liebsten bei sich einziehen zu lassen. Aber eine vollkommen andere, sich gemeinsam ein neues Nest zu bauen!«

»Stammt diese Weisheit von Bill?«

»Nein, von mir.«

Hannes Kinn zitterte leicht. Es hatte keinen Sinn, sie weiter in die Defensive zu treiben. Außerdem gab es etwas, das Sina an Hannes Entschlossenheit betroffen machte. Vielleicht liefe auch in ihrem Leben alles ganz anders, wenn nicht zu Redfords übervorsichtiger Zukunftsplanung ihr blödsinniges eigenes Mißtrauen käme …

»Nathalie Eschenborn war heute morgen bei mir«, wechselte sie das Thema. Allerdings würde sie bei passender Gelegenheit den nächsten Vorstoß in Sachen Umzug wagen. Zum Glück war ja noch nicht das letzte Wort gesprochen. »Wegen einer Erbschaftsgeschichte. Stell dir vor: Das Pullacher Mordopfer ist ihr Vater!«

»Der Senator? Das gibt’s doch gar nicht!«

Sina nickte. »Genau der! Hast du ihn eigentlich gekannt? Was war er für ein Typ?«

»Snob erster Güteklasse«, kam spontan Hannes Antwort. »Ich bin ihm nur einmal begegnet. Auf einer steifen Cocktailparty irgendwelcher Wirtschaftsprüfer. Jetzt, wo du mich fragst: Er kam mir vor wie ein Abziehbild.«

»Ein Abziehbild?«

»Ja, irgendwie künstlich. Zu smart, zu braun, zu weißhaarig. Als sei er direkt den Werbeslogans seiner Tochter entsprungen.«

»Aber die mochte ihn nicht besonders«, sagte Sina nachdenklich und spielte mit ihrem Glas.

»Kannst du mir ad hoc ein halbes Dutzend Menschen über dreißig aufzählen, die keine Probleme mit ihren Eltern haben?« erwiderte Hanne. Ihre Mutter quälte sie mit erschlagenden Marmeladesendungen und drohte in regelmäßigen Abständen, in der Kanzlei vorbeizukommen, um endlich alles auf Trab zu bringen.

Sina überlegte und zuckte dann die Achseln.

»Siehst du? Kannst du nicht!« Hanne ließ eine effektvolle Pause folgen. »Wann, sagtest du, wollte dein Vater bei dir anrollen?«

»Ach, du liebes bißchen!« Sina sprang auf. »Der hat mir gerade noch gefehlt!« An der Tür blieb sie stehen, legte den Kopf schief und grinste. »Weißt du, werte Sozia, daß du bisweilen etwas ausgesprochen Hinterfotziges haben kannst?«

Sie duckte sich rechtzeitig. Hannes Eisstückchen prallten am Rahmen ab.

Brüderlein, Schwesterlein

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