Читать книгу Brüderlein, Schwesterlein - Lara Stern - Страница 7

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Manchmal hatte das Kind das Gefühl, daß die Welt sich schief legte. Dann kam es ins Rutschen und kippte ganz langsam von der Erde runter. Es wurde in den Weltraum geschleudert, wo Dunkelheit und Kälte herrschten.

Das absolute Nichts. Es hörte auf zu sein.

Die Angst in solchen Momenten war körperlich wie Übelkeit. Stieg auf in seinem Brustkorb und vermischte sich mit dem Schmerz, der dort für immer eingefroren war. Es machte nur noch winzige Atemzüge, ganz flach, weil es beim Ausatmen zu sinken begann, dorthin, wo die Angst saß.

Es war gut möglich, daß es jeden Moment zu tief fiel.

Das Kind lag wach im Bett und beobachtete die Flecken an der Decke. Es war sich nicht sicher. Aber es konnte sein, daß sie sich bewegten.

Es war ungeschützt. Allein in seinem Kinderzimmer. Ein heißer Sommer. Das Kind blieb trotzdem unter der Decke.

Am liebsten hätte es sein Hemdchen ausgezogen, aber selbst das erschien ihm zu gefährlich. Es behielt es also an.

Es schwitzte lieber.

Zu dieser Zeit hatten seine Besuche zur Schlafenszeit bereits begonnen. Da war das Kind ungefähr sieben und längst zu groß geworden für sein altes Gitterbettchen. Aber es vermißte die Stäbe, die kleine, vergitterte Welt, hinter der es sich sicher und geborgen gefühlt hatte.

Papa kam ins Zimmer und schloß vorsichtig die Tür. Er setzte sich an das Bett. Sein Atem dröhnte in den Ohren des Kindes.

Es versuchte sich unsichtbar zu machen, aber es nützte nichts. Seine Hand kroch trotzdem unter die Decke. Er hatte schöne Hände, lange Finger, geschickte, zierliche Daumen. Er konnte alles damit machen. Seine Finger waren so groß. Der Körper des Kindes so klein. »Das ist unser Geheimnis«, flüsterte er. »Nur du und ich, ja?«

Das Kind traute sich nicht zu schlucken. Zigaretten, warme Haut, ein würziges Eau de Cologne. Er roch schwer und bedrohlich.

»Du hast es gern, nicht wahr? Sag, daß du es gern hast!«

Es antwortete nicht. Es bewegte sich nicht. Es fühlte sich, als wäre es festgefroren.

Das Geheimnis war eine mächtige Waffe.

Das Kind sah sein braungebranntes Gesicht über sich, glattrasiert, die hellen Augen, den schmalen, festen Mund. Er atmete schwer, wie er es all die nächsten Jahre tun würde, während er es auf den Bauch legte, die Hände festhielt und seinen Hintern anfaßte.

Er schlug zu. Es tat weh. Das Kind hatte Angst. Große Angst.

»Keine Angst«, sagte er. »Ich tu dir nicht weh. Ich würde dir niemals weh tun.«

Er log. Alles in dem Kind lehnte sich dagegen auf. Er machte mit ihm, was er wollte.

Seine Stimme war tiefer als sonst und sollte beruhigend klingen. Das Kind kannte sie. So sprach er, wenn er mit wichtigen Leuten zusammen war, die er überzeugen wollte.

»Bleib ganz still liegen! Laß locker, wir tun nichts Böses!«

Wenn sie nichts Böses taten, warum sagte er dann, daß sie nichts Böses taten?

Plötzlich stöhnte er auf. Er sackte über dem Kind zusammen.

War er tot?

Das Kind blieb ganz ruhig liegen. Irgendwann würde er weg sein.

Aber es hatte zu lange gewartet. Noch ehe es das Kind über den Flur bis ins Bad geschafft hatte, fühlte es warmes Pipi seine Beine runterrinnen.

Es hatte sich naß gemacht. Es schämte sich.

Es tat weh. Dort, wo Papa das Kind angefaßt hatte.

Es hatte sich nicht gewehrt. Es hatte aufgehört zu fühlen.

Brüderlein, Schwesterlein

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