Читать книгу Brüderlein, Schwesterlein - Lara Stern - Страница 8

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Kurz vor halb zehn stellte sie die Teller zusammen und legte die Servietten weg. Die Kerze im Windlicht flackerte noch einmal auf und erlosch. Sina machte keine Anstalten, sie zu ersetzen. Es war ein langer, heißer Tag gewesen; sie hatte das Warten gründlich satt.

Die pünktlich gelieferten indischen Delikatessen waren inzwischen zu wenig ansehnlichen Häufchen zusammengesunken; die Gambas schwammen in Öltunke, der Fisch sah zäh und trocken aus, die Chapatis glichen müden Teig-Flundern. Sina hatte ohnehin keinen Hunger. Sie hatte die Weinflasche bis zum letzten Drittel geleert und spürte die Ahnung aufziehender Kopfschmerzen.

Kein Anruf, natürlich nicht. Wozu auch?

War doch nur seine Tochter, die beizeiten gelernt hatte, daß man sich nicht auf ihn verlassen durfte. Die drängenden Telefonate, das »Ich-muß-dich-unbedingt-sprechen« – nichts als veraltete Stichworte in einem Theaterstück, das abgesetzt worden war, bevor sie es kapiert hatte.

Ihr Fehler!

Jetzt rauchte sie doch. Es bereitete ihr geradezu grimmige Freude, wie schlecht sie sich dabei fühlte.

Noch immer war die Luft lau und streichelte ihre bloßen Arme. Sie hatte das weiße Kleid angezogen, das sie seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Wahrscheinlich, dachte sie bitter, um Papa das Bild von Tochter zu bieten, an das er von früher gewöhnt war. Patent, klug, kühl. Und unschuldig – auf alle Fälle unschuldig!

Warum fiel ihr ausgerechnet jetzt ein, wie er sich damals aufgeführt hatte, als sie sich zu ihren ersten Teenager-Rendezvous verabredet hatte? Seine jäh erwachte Besorgnis, sein Mißtrauen, seine Eifersucht, all das stand plötzlich wieder vor ihr. Sie hatte sich im Keller schminken und heimlich aus dem Haus schleichen müssen, um diese durch und durch harmlosen Andis, Stefans oder Jürgens zum Eisessen oder Schlittschuhlaufen zu treffen.

Es war schwierig und schmerzhaft gewesen, dieses unvorbereitete Reifen vom Mädchen zur Frau. Ohne die Unterstützung ihrer Mutter wäre sie vermutlich zu einem Blaustrumpf verkümmert und hätte die Welt der Bücher für immer mit der Realität verwechselt.

Ungeduldiges Läuten. Zweimal. Viermal. Sina ging langsam zur Wohnungstür und öffnete.

»Tut mir leid, daß es etwas später geworden ist!«

Er hatte gekühlten Champagner dabei und einen bunten Sommerstrauß. Sie wich der angestrebten Umarmung unauffällig aus.

»Komm rein! Ich hatte, um der Wahrheit die Ehre zu geben, nicht mehr mit dir gerechnet.«

Er folgte ihr in die Küche, wo sie die Blumen versorgte, und sah sich neugierig um.

»Schön ist es bei dir! Sag mal, hast du etwa umgestellt? Kommt mir alles so anders vor als beim letzten Mal.«

»Du warst lange nicht mehr da. Oder dein Gedächtnis läßt nach«, sagte sie barscher als beabsichtigt und ärgerte sich im gleichen Augenblick darüber. Sie hatte sich doch geschworen, beherrscht und sachlich zu bleiben! »Mein Job läßt mir wenig Zeit für häusliche Aktivitäten. Und außerdem mag ich es, wenn die Dinge ihren Platz haben.«

»Ich weiß«, erwiderte er unerwartet weich. »Das ist einer der Gründe, weswegen ich dich sprechen wollte. Gehen wir nach draußen?«

Es gelang ihm bestens, den halbabgedeckten Tisch auf der Terrasse zu übersehen. In solchen Dingen war er seit jeher fabelhaft gewesen. Statt dessen fiel sein Blick auf den Aschenbecher.

»Du rauchst noch immer?«

Sina nickte. Geht dich überhaupt nichts an, dachte sie. Hört diese verdammte Bevormundung denn niemals auf?

»Darf ich mir ein Zigarillo anzünden?« fragte er zu ihrer Verblüffung.

Er tat es mit sichtlichem Genuß. Dann ließ er den Korken springen. Kein Wort von seinem sonstigen Gesundheitsapostelzeug! Er sah besser aus als bei ihren letzten sporadischen Treffen. Ein zierlicher, alerter Mann, dem man seine Zweiundsiebzig nicht ansah.

Er hatte noch immer dichtes, gewelltes Haar, einstmals aschblond, mittlerweile beinahe weiß, ein schmales, leicht gebräuntes Gesicht und auffallend schöne, schlanke Hände. Trotz seiner Vorliebe für gutes Essen gab es nicht einmal den Ansatz eines Bauches. Blaue, lässige Leinenhosen, ein helles Jackett, englische Schuhe. Es war eine ganze Weile her, daß er so teure Sachen getragen hatte.

Er begann einzuschenken.

»Für mich nur halb.« Sina hielt die Hand über ihr Glas.

»Siehst müde aus, Gesine-Valerie«, sagte er und goß es randvoll. »Gönnst du dir auch manchmal Verschnaufpausen?«

»Bitte, Theo …«

»Schon gut!« winkte er ab. »In Ordnung! Ich bin der letzte, der das Recht hätte, dich danach zu fragen, nicht wahr?«

Er prostete ihr zu.

»Auf uns«, sagte er leise. »Trotz allem. Ich weiß, daß ich dir ganz schön harte Nüsse serviert habe. Entschuldige bitte, Tochter.«

»Weshalb bist du hier?« fragte Sina. »Was ist passiert?«

Er blieb die Antwort schuldig. Statt dessen trank er konzentriert. Die Stille dehnte sich.

»Hast du eigentlich in letzter Zeit etwas von Harry gehört?« wollte er plötzlich wissen.

»Harry? Nein, und ich bin auch nicht besonders traurig darüber. Weshalb fragst du?«

»Nur so«, erwiderte er schnell und lachte. »War schon ein verrückter Kerl, dein Ehemann! Auf eine Art mag ich ihn noch heute.«

»Ich auch«, sagte Sina. »Vorausgesetzt, er läßt mich in Frieden.« Auf diesem Ohr war sie taub. »Was ist los? Laß mich mal raten: Geldprobleme? Liebeskummer?« Sie schaute ihn prüfend an. »Du bist doch nicht etwa ernstlich krank?«

»Nein, alles in Ordnung«, wehrte er ab. »Sag mal, was ich dich immer schon fragen wollte: Hast du ganz mit dem Thema Ehe abgeschlossen? Ich meine, endgültig?«

»Ich denke schon«, erwiderte sie spontan. »Ein Reinfall dieser Größenordnung war genug. Mittlerweile habe ich mich ganz gut daran gewöhnt, mein Leben auf meine Weise zu leben. So, wie ich es mag.«

»Fühlst du dich nie allein dabei?«

Was hätte sie nicht alles dazu sagen können! Sie dachte an Redford, an seine Tochter Jenny mit dem braunen Mäusepony, an Monika, die Kindsmutter, mit der er nicht mehr zusammenleben konnte und wollte, die ihn aber nicht losließ, sondern sich mit tausenderlei unterschiedlichsten Gefühlen und Ansprüchen an ihn klammerte. Und er sich ebenso an sie, da machte Sina sich nichts vor. Ob sich das jemals ändern würde, stand in den Sternen. Manchmal jedenfalls glaubte sie nicht mehr so recht daran.

»Klar fühl’ ich mich manchmal allein!« gab Sina zu. »Aber ein Ring am Finger ist auch noch keine Garantie dagegen, oder?«

Theo Teufel war aufgesprungen und nahm eine ungewohnt formelle Haltung ein. Er sah aus wie ein kleiner Junge, der gleich sein Gedicht aufsagen muß.

»Nach reiflicher Überlegung möchte ich wieder heiraten, Gesine. Und dich bitte ich um deine Einwilligung dazu.«

»Trägt man das normalerweise nicht der Mutter der Braut vor?«

Sein Gesicht verzog sich schmerzlich. Er setzte sich.

»Ich kann deinen Zynismus verstehen, nach allem, was geschehen ist. Ich weiß, daß ich Fehler gemacht habe, viele Fehler. Deiner Mutter gegenüber. Und gegenüber dir natürlich. Eine gewisse Unstetigkeit in geschäftlichen Dingen, die vielen Umzüge, und vor allem die ständigen Affären, aber weißt du, ich konnte einfach nicht allein bleiben. Und dabei war ich es eigentlich immer! Aber das ist mir erst in letzter Zeit bewußt geworden.« Er begann zu strahlen. »Das ist Vergangenheit, Schnee von gestern, glaube mir! Diesmal ist es vollkommen anders. Ich habe meine große Liebe gefunden und bin glücklich wie nie zuvor!«

»Wie schön für dich. Und wie alt ist sie? Vierunddreißig? Achtundzwanzig? Oder noch ein bißchen jünger?«

»Möchtest du ihr Bild sehen?«

Er streckte ihr ein Foto entgegen. Eine sympathische, mütterlich wirkende Frau mit kurzen, dunklen Locken lächelte Sina entgegen. Freundliche Augen, ein Hauch von Doppelkinn. Sie sah aus wie jemand, der Hunde, kleine Kinder und üppige Kaffeetafeln liebt.

»Melissa ist sechzig«, sagte er, unüberhörbar stolz, »und Witwe. Eigentlich ist sie Rheinländerin, lebt aber seit Jahren im Ausland. Sie hat ein kleines Hotel auf Mallorca, ein Familienunternehmen, das sie mit ihren beiden Söhnen betreibt. Prima Kerle, Pablo und Antonio, beide verheiratet. Das erste Enkelkind ist schon unterwegs. Aber es ist genug für alle da. Dreißig Zimmer, Privatstrand mit Kiosk und Bootsverleih. Um den soll ich mich in Zukunft kümmern.«

»Hoffentlich findest du die passende Kapitänsmütze!«

Er schien ihre boshafte Antwort gar nicht gehört zu haben.

»Wir haben uns beim Tangotanzen kennengelernt«, fuhr er versonnen fort. »In einem Kursus für reifere Jahrgänge. Sie hat die schönsten Hüften der Welt. Und wunderbare braune Augen. Ich bin der zweite Mann in ihrem Leben, hat sie gesagt. Sie wünscht sich, daß ich ihr letzter bleibe. So eine Art von Frau ist sie.« Er sah auf. »Wirst du kommen?«

»Wohin?«

»Nach Mallorca. Am 15. August, wenn wir Hochzeit feiern. Melissa ist sehr religiös. Sie möchte, daß die Jungfrau Maria unseren Bund segnet.«

Das war nun wirklich zuviel. »Meinst du nicht, daß du ein bißchen übertreibst?«

»Es war mir noch nie so ernst«, erwiderte er fest. »Ich habe mir vorgenommen, diese Frau glücklich zu machen. Und genau das werde ich tun, das verspreche ich dir!«

Sie stand auf, ging zum Geländer, schaute über die umliegenden Dächer. Vollmondlicht in Hülle und Fülle. Auch den schwärzesten Kater hätte man nicht übersehen können. In diesem Augenblick fehlte ihr Taifun mehr denn je.

Sina seufzte und drehte sich wieder um. Theos Augen hingen an ihrem Gesicht.

»Bitte, laß mich nicht im Regen stehen!« bat er. »Die Seijos sind eine richtige deutschspanische Bilderbuchfamilie. Ich möchte vor ihnen nicht erscheinen wie ein … ein …«

»… Verlierer«, ergänzte Sina. »Wie jemand, der nicht weiß, wohin er gehört, weil er sich sein ganzes Leben keinen Deut um seine Familie geschert hat.«

Er nickte stumm.

»Ich weiß es noch nicht«, sagte sie schließlich. »Gib mir Zeit, um mich an die Vorstellung zu gewöhnen – du als frischgebackener Ehemann! Ich hoffe nur, du hast dir alles gut überlegt. Was du über Melissa und ihre Sippe erzählt hast, klingt nicht, als hätten sie eine große Schwäche für überstürzte Experimente.«

Er war aufgestanden und stand nah vor ihr. Beinahe auf Augenhöhe. Er war nicht viel größer als sie. Sina roch einen Hauch von Aramis; seine Spezialmarke, die er sich selbst in knappsten Zeiten geleistet hatte.

»Haßt du mich?« fragte er leise.

Sie brauchte nicht zu überlegen. »Nein.«

»Aber du magst mich nicht«, beharrte er.

»Vielleicht mag ich nur nicht, was du so tust. Ich habe oft Mühe gehabt, dich zu begreifen. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Du bist mir einfach sehr fremd.«

»Schade«, erwiderte er zu ihrer Überraschung. Sein Gesicht wirkte plötzlich eingefallen. »Ich wünschte von ganzem Herzen, es wäre anders. Aber dazu ist es wohl zu spät. Es tut mir leid, Gesine. Alles.«

Irgendwann in der Nacht Klappern, Schaben, Scheppern. Schnelles Getrappel weicher Pfoten.

Das blasse Traumgesicht ihrer Mutter löste sich auf. Sina knipste schlaftrunken das Licht an.

Taifun lag heiß und schnurrend auf ihrer Brust. Sein linkes Ohr blutete, und er sah trotz des dichten Fells abgemagert aus.

»Du alter Teufel, du! Wo zur Hölle bist du denn gewesen?«

Sie streichelte ihn. Herzerweichendes Gemaunze. Es klang, als stünde er unmittelbar vor dem Verhungern.

Sie gingen in die Küche, wo Taifun zwei riesige Portionen verschlang. Er bestand auf ihrer Nähe. Kaum machte sie einen Schritt in Richtung Bett, schon setzte sein Jammern ein.

»Warst du gefangen, mein Raubtier? Bist du mutig entflohen?«

Glühende Augen. Dann neigte er anmutig seinen dicken Kopf und begann sich ausführlich zu putzen.

Als er sich später ungeachtet aller Proteste in ihren Nacken schmiegte, spürte Sina, wie eng ihre Kehle wurde.

Lag es an Redford? Ihrem Vater? Oder war es die Erleichterung, daß der Kater wieder da war?

Sie wußte nicht, warum sie losweinte. Sie tat es einfach.

Brüderlein, Schwesterlein

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