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Eins

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M anche vergleichen das Alter mit einem Berg oder einem hohen Turm. Allein die schwindelerregende Besteigung ermögliche den lang ersehnten Weitblick. Blank und zugänglich liege schließlich, so behaupten sie, dein Leben vor dir, ausgebreitet wie eine sonnige Ebene, in der du nach Belieben umherspazieren und innehalten kannst, getrieben von der Sehnsucht nach dem Gestern und nach den geliebten Gefährten, die du auf der langen Reise verlassen hast oder verlieren mußtest. Eine selige Stimmung stelle sich dabei ein, weltentrückt und weltzugewandt zugleich, gepaart mit Weisheit, vor allem jedoch mit der inneren Gewißheit, den Weg alles Endlichen nicht umsonst gegangen zu sein.

Alles Quatsch! entgegne ich. Bloße Augenwischerei, ähnlich dem dümmlichen religiösen Getue, dem auch die letzten meines Jahrgangs unweigerlich zu verfallen scheinen. Zum Glück bin ich resistent dagegen geblieben, standhaft wie eh und je, Papas kleiner Soldat, wie er zu sagen pflegte, und ich habe nicht vor, dies zu ändern. Wem sollte ich auch noch etwas vormachen wollen, nach allem, was geschehen ist?

Wie die Liebe verändert auch der Tod alle Dinge. Wenn das Ende eines Lebens absehbar wird, bleibt nicht viel übrig, dem man noch Gewicht zumessen könnte. An schlechten Tagen – und es werden leider ständig mehr – erlebe ich das Alter als eine Art Schiffbruch. Müde fühle ich mich, ausgelaugt, bedauerlicherweise aber nicht erschöpft genug, um nicht noch immer in Rage darüber zu geraten, daß ich nie mehr jung sein werde. Schmerz meißelt die Zeit, sagt man. In Wirklichkeit wartet man lediglich darauf, daß die Gegenwart endlich aufhört. Und was die Erinnerung betrifft: Wie sollte auch nur eine halbwegs ehrliche Annäherung an so etwas wie Wahrheit herauskommen, wenn Geschichte, Erinnerung und Wunschvorstellungen ungehindert zusammenfließen?

Falls ein Bild jenen seltsamen Zustand beschreiben kann, in dem sich jeder Betagte befindet, der die Lebensrevision anstellt, dann ist es das Labyrinth, die unendliche Spirale: Wir entfernen uns von der Erkenntnis in dem Maße, indem wir wähnen, uns ihr zu nähern. Und das ist sicherlich auch gut so. Der Zauberteppich des Daseins wird ohnehin im geheimen gewirkt. Niemand kennt die Abfolge der Toten und der Lebenden. Kein Sterblicher weiß, wer als nächster mit dem Schmerz an der Reihe sein wird. Oder mit der Angst.

Was mich betrifft, so hatte ich reichlich Gelegenheit, eigene Erfahrungen mit all dem zu sammeln. Mich kann nichts mehr überraschen. Paradies und Höllenqualen, ein einziger Sommer war genug um mich in beidem bis zur Meisterschaft zu unterweisen.

Und ein einziger Mann – Jean.

»Du mußt dich mehr um die wirkliche Welt kümmern, Kleines«, sagte er immer wieder. Niemand in der Familie rief ihn bei seinem Taufnamen. Seitdem Maman im Hause Bonhoff lebte, war aus dem harten Wort Hans ganz selbstverständlich das weichere Jean geworden. »Jetzt, wo alles für dich erst richtig losgeht. Ich bin nur eine Chimäre, Rita, oder, wenn dir das besser gefällt, eine Art Fossil aus einer längst versunkenen Epoche.« Seine Stimme hatte eine Wärme, die mich noch sehnsuchtsvoller werden ließ. »Aber du, mein Mädchen, du bist von deinem Kopf bis zu deinen hübschen, beeindruckend schmutzigen Füßen ganz und gar lebendig!«

»›Die wirkliche Welt‹! Was soll das denn nun schon wieder heißen?« lautete meine empörte Antwort. Weshalb sagte er nur ständig solche Dinge, die mich wütend und traurig zugleich machten? Ich haßte es, wenn er so daherredete, als sei ich nichts als ein dummes, unwissendes Gör. »Du mußt verrückt geworden sein! Ich kenne niemanden und nichts, was realer sein könnte.« Anstatt zu antworten, schüttelte er nur den Kopf und ging mit hängenden Schultern zurück ins Haus. Natürlich verstand ich Jean nicht. Wie sollte ich auch? Damals glaubte ich noch, die ganze Welt liege vor mir und ihm, wartend, bereit nur für uns. Ein Rausch, ein Glanz, ein Glück, das ewig währen würde. Aber es sollte ganz anders kommen – für ihn, für mich, für uns alle.

Er schien dazu bestimmt, meine Träume zu zerstören, und er tat es lächelnd, auf eine unübertroffen charmant-grausame Weise. Er war es, der mich zeichnen sollte, und bis zum heutigen Tag trägt meine Seele die Narben von seiner Hand.

Er allein zählte für mich. Alles andere war plötzlich ohne Bedeutung.

Ich sehnte mich danach, in seinen Armen zu vergehen und jede Scham, alle Konventionen, jegliche Bedenken hinter mir zu lassen wie flüchtige Schatten der Nacht. Ich liebte ihn so, wie man nur als ganz junger Mensch lieben kann, unschuldig, gelehrig, offen für jede Nuance von Wunder oder Wahnsinn. Hungrig nach seiner Berührung, dürstend nach seiner Nähe.

Jean befahl. Mit Blicken, Worten, Briefen. Ich gehorchte, nein, ich parierte. Alles hätte ich für ihn getan.

War das Tyrannei? Ausbeutung? Männlich-überlegene Tücke? Wenn ja, dann wohl die süßeste Tyrannei, die köstlichste Ausbeutung, die anbetungsvollste Tücke, die ich mir je hätte vorstellen können.

Allein mit ihm in einem Raum zu sein ließ alle Zellen meines Körpers vibrieren. Seine Hände waren fest und heiß, als würden sie von einer unsichtbaren inneren Sonne gespeist. Ich lebte nur für den Moment, in dem ich sie endlich auf meinem Körper spüren würde. In diesem Punkt hat er mich nicht enttäuscht. Niemals mehr ist mir richtig warm geworden, nachdem ich ihn für immer verloren hatte, ihn, meinen einzig inniglich Geliebten.

Was bedeuten schon die vielen anderen, die ich ihm später nachfolgen ließ, mutwillig, eigensinnig, ja sogar selbstzerstörerisch, Männer und Frauen in bunter, wahlloser Aneinanderreihung, um mich abwechselnd an dem einen Geschlecht für die Vergehen des anderen zu rächen, als könne ich durch Quantität jemals wettmachen, was ich an Qualität in einem einzigen Augenblick wütender Eifersucht für alle Zeit verspielt hatte? Selbst die Bretter, die mir einmal die Welt waren, der Glanz der Tourneen, die vielen fremden Städte, das johlende, klatschende Publikum – nichts als Beiwerk, vergänglich, vergessen, längst verblaßt.


Ich schweife ab, wieder einmal, und beginne, mich vor mir selber zu ekeln. Mein Bein tut plötzlich so weh, daß ich aufstehe und ein paar Schritte versuche. Einen Augenblick lang habe ich meine gewohnte Vorsicht vergessen, und gleich muß ich für meine Unachtsamkeit büßen. Der ovale Spiegel mit dem Goldrahmen, der früher über Mamans Frisierkommode hing, wirft ungerührt zurück, was ich am meisten verabscheue: den Anblick eines faltigen, weinerlichen Weibes, das von einem Thema unversehens ins andere verfällt.

Aber wen wundert es?

Mein Bett ist seit Jahren unberührt; die kurzen Schlafphasen, die ich mir gönne, sind zu knapp für Laken und Daunen. Ich döse auf dem Sofa, und kaum liege ich, dann suchen sie mich schon heim, die geliebten, die verhaßten Gespenster. Unverändert. Geradezu aufreizend jugendfrisch. Und so vollkommen! Sie sind all das, was wir Lebenden niemals zu erreichen vermögen. Ich habe trotzdem keine Angst vor ihnen, inzwischen nicht einmal mehr Scheu. Ich erwarte sie, festlich gerüstet. In meinem Zimmer brennen Kerzen, wenn die Dämmerung kommt, jene trügerische Stunde, in der wir Dinge sehen, die gar nicht da sind oder längst schon vergangen. Ich kann nicht sein ohne den Schein der Kerzen, nicht mehr, seitdem meine Liebe zu Jean zerbrochen ist wie eine Kristallkugel.

Das klingt beinahe tröstlich, aber es ist natürlich nur eine Seite der Medaille. Beinahe hätte ich den Verstand verloren, weil ich ständig an ein und dasselbe denken mußte. Mit der Lüge leben lernen, so sagt man landläufig. Aber in Wirklichkeit lebt man nicht mit ihr. Man lebt in ihr wie in einer tiefen, feuchten Höhle. Ich hatte mein Versprechen gebrochen, hatte ausgesprochen, was niemals hätte gesagt werden dürfen. Seitdem büße ich dafür. Und werde weiter dafür bezahlen bis zum allerletzten Atemzug.

Gott zählt die Tränen der Frauen, heißt es in der Kabbala. Sie weinen öfter, weil sie die Welt besser verstehen. Mein Gott freilich war schon lange abwesend, wenn er mir überhaupt jemals beigestanden hatte. Deshalb mußte ich über meine Feigheit und meinen Kleinmut weinen, bis ich keine Tränen mehr hatte. Umsonst. Vergebens. Denn am Boden meines Bewußtseins ruht bis zum heutigen Tag Schuld wie ein flacher Teich aus fauligem, dunklem Wasser.

Dabei liegt alles, was sich damals abgespielt hat, inzwischen mehr als sechzig Jahre zurück. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre es niemals geschehen oder wenn doch, dann wenigstens ganz anderen Menschen zugestoßen, nicht mir, nicht Amelie und Jean und Riri. Nicht Claire, geborene Dubois, der schönen Maman, die aus dem Elsaß stammte und stets die stolze Französin herauskehrte, weil sie unter all den Boches nie richtig heimisch werden konnte, nickt Friedrich Bonhoff, meinem herrischen Vater, der an einem lauen Sommerabend unseren Bobo, der ihm schon im Ersten Weltkrieg als Bursche gedient hatte, aus einer spontanen Laune heraus im ganzen Haus die Kugellampen abmontieren ließ, nur um mir, seinem Liebling, das Zusammenspiel von Sonne, Mond und Sternen droben am fernen Himmelszelt so realistisch wie möglich zu demonstrieren.

Keiner von ihnen ist mehr am Leben, und ich weiß, daß auch meine Tage gezählt sind. Vielleicht atme ich überhaupt nur noch, um mich zu erinnern. So verrückt es auch klingen mag: Ausgerechnet ich bin das Gedächtnis einer ausgelöschten Familie – und ein lausiges dazu. Denn was uns damals widerfahren ist, worin jeder auf ganz eigene Weise so unheilvoll verstrickt war, wird mehr und mehr zum verschwommenen Bild. Das Leben im Alter verstärkt diesen Traumzustand.

Was ist wahr? Was nur ersehnt, was phantasiert?

Immer schwerer fällt es mir, das eine vom anderen zu unterscheiden. Dazu kommt, daß mir Geschichten aus Büchern immer schon näher waren als die sogenannte Wirklichkeit. Bereits als kleines Kind, kaum mehr als eine Handvoll Jahre alt, entdeckte ich, daß Welt an Welt liegt und es nur auf das Zauberwort ankommt, um die verschlossenen Türen dazwischen zu öffnen. Damals glaubte ich noch an Einhörner, Nixen und grünschillernde Elfen, die sich von Tautropfen ernähren. Daß ich selber eines Tages zur Todesfee für meinen Liebsten werden würde, hätte ich niemals für möglich gehalten.

Ob ich neugierig war?

Welch törichte Frage! Es gab wohl kein neugierigeres Wesen unter der Sonne als mich.

Wenn ich es recht bedenke, so nahm womöglich darin alles Unheil seinen Anfang – in meiner unbändigen Wißbegierde und natürlich vor allem in meiner unseligen Angewohnheit, mich nächtelang zwischen vergilbten Seiten zu vergraben, wo ich mich in Welten verlor, für die ich weder das Verständnis, geschweige denn die Reife besaß.

Was wußte ich schon? Was hatte ich in meinem kurzen, behüteten Leben überhaupt gesehen?

Ich war so jung, so naiv, so unbedingt!

Und trotzdem war ich kein Kind mehr, das noch nach Großmamas unvergleichlichen Mehlspeisen gierte, als eine Kugel Jeans Schädel zerschmetterte. Und auch schon keines mehr, als er mich in die Scheune befahl und sich mit einem herrischen Nicken vergewisserte, daß ich nackt unter meinem Kleid war, wie er es in seinen hingeworfenen Zeilen gefordert hatte.

Ich schloß die Tür hinter mir, ein Moment, der mir so gegenwärtig ist, als wären nur Minuten vergangen und nicht Jahrzehnte. Drinnen war es dämmrig; Heuflusen tanzten in der aufgeheizten Luft. Der Körper als Erinnerungsgefäß. Gerüche und Düfte beschwören längst vergangene Empfindungen wieder herauf. Es roch nach frisch getrocknetem Gras. Nach Mann. Und nach unterdrückter Lust.

Ich schwitzte. Fühlte mich klebrig und erregt, war pure Unschuld und Femme fatale in einem. Begehren durchflutete mich, vermengt mit Verlegenheit und Angst, eine Mischung, dickflüssig wie heiße Lava.

Da bin ich, wollte ich sagen, in jenem frivolen Ton, den ich für unwiderstehlich hielt. Bobo hat sich hingelegt. Maman und Papa sind zusammen in die Stadt gefahren, und Riri ist mit Friedl beim Angeln unten am Weiher. Weit und breit also keiner, der uns stören könnte. Worauf wartest du noch, Jean? Jetzt kannst du endlich mit mir anstellen, was immer du magst.

Aber ihm so nah brachte ich keine Silbe heraus. Mein Herz hämmerte, und mir war, als stecke ein Klumpen Blei in meiner Kehle. Aus purer Verlegenheit begann ich zu lächeln, so breit und andauernd, daß mein Gesicht langsam ganz taub wurde. Ich konnte nur beten, daß irgendwann auch das kindische Rot auf meinen Wangen verschwinden würde.

Ihn schien es nicht zu stören. Ganz im Gegenteil. Er war schön, wie er da in seinem weißen Leinenanzug am Balken lehnte und mich ansah, ein strahlender, heller Held.

Dann machte er ein paar Schritte auf mich zu. Ich hatte Angst, ohnmächtig zu werden und wie ein Kleiderbündel zu seinen Füßen zusammenzusinken, aber ich hielt stand.

Für ihn war ich geboren. Für ihn allein.

Daran gab es keinen Zweifel. Jetzt erst recht nicht mehr. Denn schon in wenigen Augenblicken würde ich Jean ganz und für immer gehören.

Liebeslang

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