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Vier

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Als Sina ein paar Tage später die Tür zur Kanzlei aufschloß, ertönte erst Knurren, dann lautes Bellen. Und schon warf sich gegen ihr Schienbein ein knöchelhohes, geflecktes Etwas, das sich bei näherer Betrachtung als junger, offenbar ziemlich aufgebrachter Hund entpuppte. Pech, daß sie ausgerechnet heute ihren Wickelrock aus indischer Rohseide anhatte. Entweder schien das Tier die Farbe Himbeerrot nicht leiden zu können oder es mußte sonstige Antipathien gegen Stoff beziehungsweise Trägerin hegen. Auf jeden Fall biß sich der Kleine mit spitzen Zähnchen im Saum fest. Sina gelang es nicht, den Quälgeist abzuschütteln.

»Aus! Pfui! Laß mich doch in Frieden!« Allmählich begann sie, wütend zu werden. »Wo kommt denn auf einmal dieser Köter her?«

»Jacky? Das kann nur Jacky sein! Wo steckst du denn, mein Putzelchen?« flötete Hanne aufgeregt vom anderen Gangende her. »Sei brav und komm zu deiner Mama!«

»Putzelchen« machte keine Anstalten, seine Beute loszulassen. Ganz im Gegenteil. Er schien das teure Kleidungsstück inzwischen als eine Art Schmusedecke eingeordnet zu haben, an der man nach Herzenslust hin und her zerren konnte.

»Bring ihn zur Vernunft, aber schnell, das rate ich dir!« rief Sina Hanne entgegen, die sich ihr ungewöhnlich behende näherte. »Oder du kannst ihn als Ragout für dein Mittagessen wiederfinden!«

»Untersteh dich!« brüllte Hanne. Aber sie schien sich endlich doch auf ihre Pflichten als frischgebackene Hundehalterin zu besinnen. »Aus, Jacky, pfui! Folgst du jetzt endlich? Aus! Ich sage: aus!«

Was nicht das geringste fruchtete. Hanne blieb nichts anderes übrig, als in sein im Verhältnis zur geringen Größe durchaus beeindruckendes Gebiß zu fassen, was er mit einem empörten Schnapper quittierte. Dann aber war er friedlich, ließ los, blieb selbstbewußt breitbeinig stehen und bellte plötzlich schwanzwedelnd zu Sina empor.

»Das hat er nur getan, weil du ihn aus irgend einem Grund halb zu Tode erschreckt haben mußt.« Hanne rieb sich die schmerzende Hand, die bereits mehrere Blessuren zeigte. »Eigentlich ist er lammfromm. Und die Gutmütigkeit in Person. Ein süßer kleiner Schatz. Ich könnte ihn den ganzen Tag lang durchknuddeln.«

»Etwa hier?«

»Natürlich hier. Wo denn sonst? Schließlich ist Jacky noch ein halbes Baby. Und Babys brauchen eben viel Zuwendung.«

»Von wegen! Und eine Menagerie in der Kanzlei hat uns zu allem gerade noch gefehlt.«

Zum Glück war der Schaden unbedeutend. Ein paar Fäden, die sich wieder festnähen ließen, sonst war nichts Schlimmes passiert Zumindest, was den Rock betraf. Anderes wog schwerer. Auch wenn es durchaus eigennützig sein mochte, hatte Sina sofort umrissen, welche Änderungen der kleine, schwarzweiß gefleckte Geselle nicht nur für Hannes Leben mit sich brachte. Ein Jagdhund! Erfahrungsgemäß gab es leider keinen Jagdhund, der sich freiwillig mit Katzen arrangiert hätte. Demzufolge hatte Taifun mit einem Schlag seinen wichtigsten Pensionsplatz verloren und Sina ein ernstzunehmendes Problem mehr, wenn sie ihren Liebsten für ein paar Tage in Berlin besuchen wollte.

»Komisch, daß ausgerechnet für mich immer andere Regeln gelten sollen«, maulte Hanne. »Denk nur mal an das Tamtam, das du seit Jahren mit deinem Kater aufführst: Taifun vorn, Taifun hinten! Von Ankes dicker, alter Paula einmal ganz zu schweigen, die mit deinem stillschweigenden Einverständnis schon unseren halben Flurteppich aufgefressen hat. Und anderes, das ich lieber nicht erwähne. Das mit dem ›Köter‹ habe ich übrigens großzügig überhört. Mein Kleiner ist ein waschechter Jack Russell. Mit ellenlangem Stammbaum.«

»Der unsere Klienten anfällt, bevor sie auch nur einen Piep gesagt haben? Außerdem ist Paula eine weise buddhistische Seele, die nicht nur seit einer halben Ewigkeit zur Familie gehört, sondern in früheren Leben mindestens einmal erleuchtet war. Und Taifun wartet brav in meiner Wohnung und belästigt außer ein paar frechen Tauben auf der Dachterrasse nichts und niemanden.«

Ihre Mißstimmung war so schnell verflogen, wie sie gekommen war. Vielleicht wohnten Taifun und sie ja ohnehin bald bei Laszlo in Berlin. Dann war es dort notwendig, sich um neue Katzensitter zu kümmern.

Hanne schien sie gar nicht zu hören.

»Man muß ihn eben richtig erziehen«, sagte sie. »Das ist alles. Dann klappt es garantiert reibungslos. Konsequent, aber liebevoll.« Sie vergrub ihre Nase in Jackys Nacken, was er zu mögen schien. Jedenfalls gab er keinen Muckser von sich, sondern hing reglos in ihrem Arm. Mittlerweile hatten sich Tilly Malorny und Marina König als Auditorium vor dem Sekretariat aufgebaut, offenbar entschlossen, nicht ein Wort der bühnenreifen Auseinandersetzung zu versäumen. »Bill«, fuhr Hanne fort, »meint auch, der Kleine braucht lediglich ein bißchen Schliff, und dann kann …«

»Bill, wer auch sonst!« Sina machte es inzwischen richtig Spaß weiterzusticheln. Hannes Exillette bot ja auch jeden nur denkbaren Anlaß dazu. Was hatte er nicht schon alles angeschleppt! »Hätte ich mir ja gleich denken können! Hat er ihn von einem Boß der Russenmafia? Warte, warte, sag bloß nichts! Ich krieg die ganze Geschichte gleich zusammen.« Sie mußte sich auf die Lippen beißen, um angesichts Hannes fassungsloser Miene nicht loszuprusten. »Der hat ihn teuer erstanden und wollte ihn zunächst eigentlich als Kampfhund im Rotlichtmilieu einsetzen. Aber leider stellte sich bei näherer Betrachtung heraus, daß Jacky als wandelnde Weißwurst weitaus größeren Erfolg haben würde. Was passierte also? Der Hund wurde zum Entsorgen an Bill gegeben, der wiederum nichts Eiligeres zu tun hatte, als ihn an dich abzuschieben.« Sie konnte froh sein, daß kein Schuh flog, aber Hanne war auch so wütend genug.

»Du bist echt unmöglich! Glaub mir, Sina T., ich kann sehr gut ohne dich zurechtkommen.«

Hocherhobenen Hauptes zogen Sozia und Hund in Hannes Büro ab. Die Tür flog ins Schloß.

»Nun, ich nicht, Frau Bromberger«, rief Sina ihr hinterher. »Ohne dich würde mir hier in diesem Affenstall alles garantiert nur halb soviel Spaß machen.«

Noch immer erheitert, nahm sie am Schreibtisch Platz. Ein paar routinierte Handgriffe genügten, dann war das Aktenchaos soweit gelichtet, daß sie den heutigen Ablauf planen konnte. Einer der »Hammertage«, wie Bürovorsteherin Tilly Malorny sich auszudrücken pflegte, die es trotz aller gegenteiligen Anweisungen nicht lassen konnte, ihrer Chefin Termine und Mandantenbesuche im Halbstundentakt aufzubrummen. Es blieb ihr gerade noch Zeit, sich einen Kaffee aus der Thermoskanne auf dem Besuchertischchen einzugießen, die Marina ihr jeden Morgen bereitstellte, und schnell Laszlos Foto zuzunicken, das sie seit einigen Monaten ganz offen im Regal stehen hatte.


Die neue Mandantin, die gerade ihr Büro betrat, kam auf Empfehlung von Rita Russow, die seit Jahren ein florierendes Unternehmen mit ausnahmslos weiblichen Bodyguards betrieb. Ihre beste Freundin, wie sie gleich bei der Begrüßung betonte. Allerdings hätten die beiden Frauen unterschiedlicher kaum sein können. Die rote Rita, die ihren Spitznamen der lockigen Mähne verdankte, zog mit ihren üppigen, durchtrainierten Formen jeden Männerblick auf sich; Dr. Antonia Frisch dagegen gehörte eher zur Kategorie der unscheinbaren Mäuse.

»Und was kann ich für Sie tun?«

Die zierliche Brünette legte die Stirn in Falten. »Hätten Sie gedacht, Frau Teufel, daß alte Menschen so gemein sein können?«

Ihr Rehblick ließ sie naiver aussehen, als sie vermutlich war. Dazu kam ihr offenkundiger Hang zu altbackener Kleidung, die wirkte, als stamme sie direkt vom Flohmarkt oder aus dem Schrank einer jüngst verstorbenen Erbtante. »Ich weiß nicht, ob es ausgerechnet das Alter ist, das den Charakter verdirbt«, entgegnete Sina, der noch immer lebhaft der erbitterte Kampf vor Augen stand, den sich Fürst senior und junior beim Nachlaßrichter geliefert hatten. Ottfried und Lotte hatten sich für den Fall des Ablebens eines Ehepartners gegenseitig zum gesetzlichen Alleinerben eingesetzt, was im Klartext bedeutete, daß dem Sohn nur der Pflichtteil zustand. Leander war während der Testamentseröffnung nur mit Mühe davon abzuhalten gewesen, sich auf seinen betagten Vater zu stürzen, der ihm allerdings in seinem fast schon alttestamentarischen Ingrimm kaum nachgestanden hatte. Dabei war es zu wüsten Beschimpfungen gekommen, mit dem Ergebnis, daß Nachlaßrichter Elmar Hagedorn sehr deutlich geworden war und der Alte wieder zu seinem Nitrospray greifen mußte. Nicht der Ansatz einer Versöhnung. Ganz im Gegenteil. Noch jetzt wurde Sina richtig mulmig, wenn sie an den Kammersänger dachte.

»Lassen Sie es mich einmal so sagen: Vor Dummheit schützt das Alter schon mal garantiert nicht. Wieso dann eigentlich vor Gemeinheit?«

Antonia Frisch rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. Mit ihren zusammengezwirbelten Löckchen im Nacken, den gestrickten Strümpfen bei frühsommerlichen Temperaturen und dem beigefarbenen Spitzenkragen über klösterlichem Dunkelgrau hätte sie ohne weiteres einem Stift für junge Damen um die Jahrhundertwende entsprungen sein können.

»Ich muß ein bißchen ausholen«, sagte sie entschuldigend. Kleine Schweißperlen standen auf ihrer hohen, blassen Stirn. »Damit klar wird, worauf ich mich eingelassen habe. Außerdem fühle ich mich ziemlich elend. Wissen Sie, ich habe vor lauter Ärger seit ein paar Nächten kaum mehr geschlafen. Daß ausgerechnet mir so etwas passieren muß!« »Fangen Sie einfach von vorn an! Gemeinsam kriegen wir dann schon Struktur in die Angelegenheit.« Jetzt hätte Sina ein halbes Königreich für eine Zigarette gegeben! Sie kniff die Lippen zusammen. Sie würde durchhalten. Aber es konnte nicht schaden, die neue Mandantin ein bißchen aufzumuntern. »Wissen Sie, es ist alles andere als eine Schande hinzufallen. Nur zu lange liegen zu bleiben, sollte man sich besser verkneifen. Besonders heutzutage. Und erst recht als Frau. Also: Kaffee?«

Ein Lächeln verschönte das Gesicht der jungen Besucherin. Sie nahm dankend an und begann zu erzählen, langsam, auf die exakte, umständliche Art, mit der sie offenbar auch ihren Beruf ausübte, den sie als echte Berufung verstand. Wenn man ihr glauben konnte, und Sina hatte keine Veranlassung, das nicht zu tun, gehörte Antonia Frisch nicht zu der Sorte Mediziner, die es auf die schnelle Mark abgesehen hatten. Dazu lag ihr das Wohl ihrer Patienten zu sehr am Herzen. Nach einer Assistenzzeit an der Pathologie und einigen Jahren Tätigkeit auf der internistischen Station des Dachauer Krankenhauses hatte sie ihre Selbständigkeit lange erwogen und ebenso sorgfältig geplant. Dr. Leonhard Fallenstein, wie er selber sagte, auf dem direkten Weg in den Ruhestand, hatte ihr für zweihunderttausend Mark seine Praxis in Haidhausen zum Verkauf angeboten. Inbegriffen Möbel und medizinische Gerätschaften, darunter auch ein mit knapp fünfzigtausend bewerteter, beinahe schon antiker Röntgenapparat, der seit Jahren vom Gewerbeaufsichtsamt gesperrt war, da die vorgeschriebenen Strahlenschutzprüfungen nicht mehr durchgeführt worden waren.

»Was den geschätzten Kollegen keineswegs gehindert hat, ihn fröhlich weiterzubenutzen. Können Sie sich vorstellen, was das für seine Patienten bedeutet? Die hat er damit einem Strahlenrisiko ausgesetzt, das heute niemand mehr verantworten darf. Ich konnte es nicht fassen, als ich darauf gestoßen bin. Und stellen Sie sich vor: Er hat es nicht einmal abgestritten! Dabei rede ich gar nicht von den unzähligen abgelaufenen Pharmaproben, die ich erst einmal mühsam entsorgen muß. Auf meine Kosten, versteht sich.« »Wissen Sie was? Sie ziehen den Stecker raus und wir ihn zur Verantwortung.« Sina hatte sich bereits Notizen gemacht. »Es könnte sich um unerlaubtes Betreiben von genehmigungsbedürftigen Anlagen handeln, laut Paragraph …« Sie blätterte in der Gesetzessammlung. »Da haben wir ihn ja, 327 StGB, was allerdings noch zu prüfen ist Mit Sicherheit liegt aber eine vorsätzliche Körperverletzung vor. Darüber hinaus können wir Betrug geltend machen.«

Antonia Frischs Augenbrauen schnellten fragend nach oben.

»Ganz einfach: Weil er für ein in Wahrheit wertloses Röntgengerät einen Zeitwert von stolzen fünfzigtausend angesetzt hat. Juristisch gesehen, hat er Sie damit über den Wert des Gerätes getäuscht und durch eben diese Täuschung veranlaßt, den überhöhten Betrag zu bezahlen.« Sina blätterte weiter. »Damit kommt er aber nicht durch, der neunmalschlaue Doktor Fallenstein! Ich nehme an, Sie haben sich bereits erkundigt, wie hoch die Reparaturkosten liegen, um das Ding nach heutigem Standard funktionsfähig zu machen?«

Die Ärztin nickte. »Mindestens vierzigtausend«, sagte sie. »Und es bleibt trotz allem noch hoffnungslos veraltet Ich habe nicht vor, diesen Betrag zu investieren, denn obwohl ich traditionell ausgebildete Internistin bin, arbeite ich vorwiegend mit sanften Methoden. Seit vielen Jahren habe ich mich in klassischer chinesischer Medizin weitergebildet. Ich war sogar ein halbes Jahr in Schanghai, um vor Ort Erfahrungen zu sammeln. Außerdem kann ich bei Bedarf meine Patienten zum Radiologen um die Ecke schicken.« Sie schluckte mehrmals. »Falls ich in absehbarer Zeit überhaupt zu eigenen Patienten komme.«

Sina ließ den Füller sinken.

»Fallenstein hat mir sehr wohl seine Schrottpraxis verkauft, nicht aber seine Kassenzulassung. Als ich vorgestern mit dem Praktizieren beginnen wollte, hat er mich geradezu überschwenglich als seine Assistentin begrüßt. In Wahrheit denkt er nämlich nicht ans Aufhören. Er hat nur eine gutwillige Idiotin wie mich gesucht, die ihn entlastet und in der Zwischenzeit sein Ruhestandskonto kräftig auspolstert.« Ihre Stimme war sehr leise geworden. »Ich hab mich erst einmal im Klo eingeschlossen und eine Runde geheult, dann Rita angerufen – und heute sitze ich hier bei Ihnen.«

Sina musterte sie freundlich, aber nicht ohne Strenge.

»Keine Minute zu früh, wie ich mal behaupten möchte. Als erstes brauche ich eine Kopie des Praxisübernahmevertrags, mit dem ich mich eingehend beschäftigen werde.«

Antonia Frisch reichte das Dokument, sorgsam in eine Klarsichthülle eingeschlagen, über den Tisch.

»Ich kann doch wohl davon ausgehen, daß Sie noch nicht die ganze Summe bezahlt haben? Kleiner Tip für die Zukunft: Bei Verhandlungen dieser Größenordnung empfiehlt es sich, anwaltliche Hilfe schon im Vorfeld in Anspruch zu nehmen, und nicht erst, wenn das Kind bereits im Graben liegt.«

»Sie haben natürlich recht«, erwiderte die Mandantin niedergeschlagen. »Ich hätte selber auf die Idee kommen müssen. Vielleicht habe ich es versäumt, weil ich unbedingt meine Selbständigkeit beweisen wollte. Unbewältigter Vaterkonflikt, so meine Eigendiagnose. Weil er mich niemals richtig ernstnehmen wollte. Bis heute nicht. Und alles, was ich beruflich anstelle, erst recht nicht. Für ihn ist chinesische Medizin nichts als modischer Firlefanz, ganz egal, welche Heilungserfolge ich damit habe. Sogar meine harten Jahre in der Pathologie hat er einfach mit einem Schulterzucken abgetan. Ich sollte endlich damit aufhören, ihm irgend etwas beweisen zu wollen. Ich weiß auch nicht, welcher Teufel mich da noch immer …«

Sie verstummte. Zarte Röte überflutete ihr Gesicht, das auf einmal hübsch und sehr verletzlich aussah. Auf einmal wußte Sina, an wen die Besucherin sie schon die ganze Zeit erinnerte: an die junge Audrey Hepburn. Mit der richtigen Frisur hätte sie ein aparter, ganz und gar ungewöhnlicher Typ sein können, der bestens ankam, aber sie schien sich aus unerfindlichen Gründen nicht allzuviel um ihr Aussehen zu scheren.

»Pardon! Ich wollte Sie natürlich nicht …«

Sina winkte ab. »Damit schlage ich mich schon so ziemlich mein ganzes Leben herum.« Sie zeigte ihr frechstes Grinsen. »Außerdem bin ich gern eine Teufelin – aus vollstem Herzen! Also, wieviel haben Sie dem alten Doc schon gegeben?«

»Hunderttausend bei Vertragsunterzeichnung. Den Rest sollte er nach meiner ersten Praxiswoche bekommen, das heißt nächsten Mittwoch.«

»Das werden Sie schön bleiben lassen!«

»Und was statt dessen tun?«

»Mit Bitten und Betteln kommen wir bei einem wie dem kaum weiter. Deshalb klagen wir auf Feststellung, daß Herr Doktor Leonhard Fallenstein mit sofortiger Wirkung auf seine Kassenzulassung zugunsten von Frau Doktor Antonia Frisch verzichtet. Denn schließlich geht es Ihnen ja um seinen Patientenstamm.«

»Und ob! Ohne die Kassenzulassung ist die ganze Praxis nichts wert.«

Sina erhob sich, streckte Antonia Frisch die Hand entgegen. »Wenn ich eins nicht leiden kann, dann Leute, die andere absichtlich über den Tisch ziehen – ganz egal, wie alt sie auch sein mögen. Betrachten Sie mich als eine Art Einzelkämpferin gegen die große Gleichgültigkeit So jedenfalls verstehe ich meinen Beruf. Keine Angst, ich weiß, daß Sie es eilig haben.«

»Und in der Zwischenzeit?«

»In der Zwischenzeit vergessen Sie mal Ihre gute Kinderstube und sind richtig eklig zu dem alten Herrn. Skrupel?« Sie lachte, als sie Antonia Frischs entgeisterte Miene sah. »Brauchen Sie nicht zu haben! Ist aber typisch weiblich, würde ich mal behaupten. Mobbing vom Feinsten, verstehen Sie? So, wie es sich sonst nur Männer am Arbeitsplatz leisten. Damit er sich schon mal dran gewöhnen kann, was alles an Unannehmlichkeiten in Bälde auf ihn zukommen wird.«


Es wurde Nachmittag, bis Hanne wieder den Kopf in Sinas Büro steckte. »Noch sauer?«

»Ach wo! War doch alles nur Spaß! Und du?«

Sinas Sozia machte eine unbestimmte Handbewegung. Ihr Kopf war leicht eingezogen, und sie ließ die Schultern hängen. Außerdem kam sie Sina blasser vor als gewöhnlich, was die rötlichen Sommersprossen, mit denen ihr Gesicht gesprenkelt war, buchstäblich zum Explodieren brachte.

»Jacky hat gerade zum drittenmal in mein Zimmer gepinkelt«, sagte sie. »Und natürlich mitten auf meinen wunderschönen alten Gabbeh. Aber ich behalte ihn trotzdem. Willst du auch wissen, weshalb? Einfach so. Ich hab nämlich, verdammt noch mal, keine Lust, ständig widerlich erwachsen und vernünftig zu sein.«

Sie klang trotzig wie ein Kind.

»Wozu eigentlich das Ganze? Auf einmal schaust du dich um und stellst fest, daß dein Leben schon so gut wie vorüber ist. Den schäbigen Rest, der dir noch bleibt, kannst du dann prima dazu verwenden, all die Dinge zu bedauern, die du nicht getan hast. Denn das ist es doch, worum wir letztlich weinen: die ganzen Abenteuer, zu denen uns der Mut gefehlt hat.«

»Ungelebtes Leben«, murmelte Sina gedankenverloren, »an dem man sterben kann.« Den Satz kannte sie von Lotte Fürst. Eine ihrer Maximen, gegen die Ottfrieds Gattin allerdings sehr erfolgreich angelebt hatte.

»Was hast du eben gesagt?«

»Nichts«, erwiderte Sina schnell. »Nur ein bißchen Rilke zitiert.« Für alle Fälle goß sie schon einmal in zwei Gläser fingerbreit Calvados. »Ärger mit Bill?« Sie formulierte bewußt vorsichtig, während sie die Flasche beiseite schob. »Die gute, alte Liebesfalle? Oder was hat er sonst wieder angestellt?«

Von draußen kam empörtes Bellen, aber jetzt kümmerte sich keine von beiden darum.

»Ach, Liebe!« erwiderte Hanne mit überraschender Bitterkeit und nahm einen tüchtigen Schluck. Sie wirkte aufgelöst, und die rötlichen Haare standen ihr wie elektrisiert zu Berge. »Bild dir bloß nicht ein, daß du auf einmal eine Expertin bist, nur weil du es zufällig einmal zwölf Monate mit ein und demselben Mann ausgehalten hast!«

»Was ist es dann?«

»Kapierst du nicht, Sina?«

Hanne war aufgestanden und mit ungeduldigen Schritten hinüber ans Fenster gegangen. Sie mußte in letzter Zeit einiges abgenommen haben. In der hellen Leinenhose mit dem breiten Ledergürtel wirkte ihre Taille fast zerbrechlich.

»Daß alles plötzlich so schnell geht. Nächste Woche werde ich fünfundvierzig. Fünfundvierzig – das mußt du dir mal auf der Zunge zergehen lassen! Noch vor wenigen Jahren habe ich es nicht einmal für möglich gehalten, daß ich überhaupt jemals so alt werden würde. Und wie sieht mein Leben aus? Keine Kinder, kein Ehemann, aber einen Chaoten als Lebensgefährten, den ich besser nicht allzu lange aus den Augen lassen sollte, tonnenweise graue Haare und was sonst? Akten, nichts als Akten!«

Sie kam dem Stapel auf Sinas Schreibtisch gefährlich nahe. »Das kann doch nicht alles gewesen sein, oder, Sina?«

»Was ist wirklich los, Hanne?« Sina begann, sich ernstlich Sorgen zu machen. Hannes Augen glänzten wie im Fieber, und da war ein neuer, bitterer Zug um den Mund, der ihr gar nicht gefiel. Irgend etwas war ganz und gar nicht in Ordnung, das spürte sie. Aus der früheren beruflichen Gemeinsamkeit war längst tiefe Freundschaft geworden, die die beiden so unterschiedlichen Frauen verband. »Du hast doch keine Geheimnisse vor mir?«

»Natürlich habe ich Geheimnisse vor dir!« trumpfte Hanne auf. »Und zwar jede beliebige Menge!«

Sina berührte sanft den Arm der Freundin, und im gleichen Moment zerfiel Hannes Gesicht.

»Ein Knoten«, sagte sie leise. »Ich hab einen Knoten gefunden. In meiner linken Brust.«

Liebeslang

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