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Drei

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Das Familiengrab der Fürsts lag im Waldfriedhof, der ausgedehnten Begräbnisstätte im Westen Münchens. Sina hatte sich für die gängige Route über die Fürstenriederstraße entschieden, was sich allerdings bald als Fehler herausstellte. An diesem milden Montagmorgen schien die halbe Stadt unterwegs zu sein; nur noch Schrittempo, sonst ging gar nichts mehr. Eingeklemmt im Berufsverkehr, umringt von mißmutigen Gesichtern, die offenbar nicht einmal der strahlende Sonnenschein aufzuheitern vermochte, tat es ihr beinahe leid, daß sie den alten Kammersänger nicht doch dazu ermutigt hatte, eine Grabstelle auf dem kleinen, exklusiven Bogenhausener Friedhof zu beanspruchen. Lotte Fürst hätte sicherlich ihren Spaß daran gehabt, zwischen berühmten Dichtern, Musikern und Schauspielern zu liegen, von denen so mancher zu Lebzeiten so erfrischend renitent gewesen war wie sie.

Eine Gabe, die ihrem Ottl seit jeher gefehlt hatte.

Sie war die treibende Kraft in dieser Ehe gewesen, eine intelligente, mutige Frau, die die eigene Karriere als Schauspielerin hintangestellt hatte, um in den Nachkriegsjahren beherzt die des jungen, vielversprechenden Bassisten in ihre Hände zu nehmen und über Jahrzehnte zu betreuen. Flexibel, nüchtern und realitätsnah, wie sie war, besaß sie wenig Geduld mit Menschen, die sich bemitleideten, mit der Gegenwart haderten oder gar ihre Vergangenheit vergoldeten. Hinter ihrer äußerlich so ebenmäßigen Fassade, die viele zur Bewunderung hinriß, verbarg sich ein eigenwilliger Geist, der nichts von Konventionen hielt, was in manchen Gesten unwillkürlich zum Ausdruck kam: einem Schulterzucken, wenn sie sich langweilte, was schnell der Fall sein konnte, einem Augenrollen oder verächtlichen Blick, wenn sie etwas mitanhören mußte, was ihr mißfiel. Nicht einmal die zunehmende Erblindung hatte lange Zeit ihr Interesse an der Musik, ihre Klugheit in künstlerischen Entscheidungen beeinträchtigen können.

»Immer nur gucken ist doch wirklich auch nicht alles«, sagte sie einmal zu Sina, als sie kaum noch ohne fremde Hilfe zurechtkommen konnte, weil das unheilbare Rheuma inzwischen jede Bewegung zur Qual machte. »Glauben Sie mir, Frau Teufel, wie sich die Leute auf ihre Augen konzentrieren, ist in Wirklichkeit beinahe so etwas wie eine Behinderung, verstehen Sie?«

Sina nickte und versuchte, sie sich als junge Frau vorzustellen. Lotte Fürst war selbst im Alter noch immer schön, mit silbernem Haar und blasser, reiner Haut, einem Fächer feiner Fältchen um die fast nutzlos gewordenen Augen, der wie zarte Narben vom Lachen und Weinen aussah, einem vollen, großzügig geschwungenen Mund, der nichts Verbittertes oder Verkniffenes hatte. Nur ihre schmale, beinahe aristokratisch anmutende Nase war aufgeschürft, weil sie nachts nicht zum erstenmal aus dem Bett gefallen war.

»Dabei gibt es doch noch so viele andere Sinne: fühlen, tasten, riechen – und natürlich hören! Vielleicht muß man sogar erst sein Augenlicht verlieren, damit man richtig zu hören lernt. Das, was wir Schicksal nennen, weil uns nichts Besseres dazu einfällt, denkt sich manchmal solche Lektionen für uns aus. Damit wir das Dankbarsein nicht vollständig vergessen. Denn ohne Musik wäre das ganze Leben ein einziger Irrtum.«

Unwillkürlich mußte Sina an diese Szene denken, als sie die Aussegnungshalle betrat. Fürst war schon da und blinzelte ihr kurzsichtig entgegen. Einst ein Hüne von barocken Ausmaßen, hatte er seit seinem Herzinfarkt zunächst mühsam abgenommen und war dann während der langen Krankheit seiner Frau immer gebeugter geworden, gleichsam auf seltsame Weise in seinen Kleidern geschrumpft Kartoffelbrei aus der Tüte war offenbar über Wochen seine hauptsächliche Nahrung gewesen, während er am Bett seiner Frau ausharrte und darauf wartete, daß sie sich wie durch ein Wunder wieder in die Lotte zurückverwandeln würde, die er einmal geliebt hatte. Heute kam er ihr wieder stattlicher vor, vielleicht, weil er inzwischen zu anderen Speisen zurückgefunden hatte. Vielleicht aber auch, weil er sorgfältig rasiert war, sich aufrecht hielt, einen gestärkten weißen Kragen trug und einen eleganten schwarzen Hut.

»Es ist viel geschehen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, Herr Kammersänger«, begrüßte ihn Sina, die wußte, wie viel ihm der Titel bedeutete, den ihm das bayerische Kultusministerium viel zu spät verliehen hatte. »Sie wissen ja, wie gern ich Ihre Frau gehabt habe. Ich bin sehr froh, daß ich wenigstens heute hier bei Ihnen sein kann.«

»Zu viel«, murmelte er und drückte ihr fest die Hand. In seinem weiten dunklen Lodenmantel erinnerte er sie vage an einen österreichischen Baron, und tatsächlich waren es ja die adeligen Operettenrollen gewesen, mit denen er in seinen späten Berufsjahren auf der Bühne und vor den Fernsehkameras brilliert hatte. »Es ist so seltsam ohne sie. Zu jeder einzelnen Stunde des Tages. Und besonders nachts, wenn alles so still ist.« Er hielt inne. »Meinen Sie, sie kann uns hören?«

»Gut möglich«, sagte Sina sanft. Es war schwierig, sich gegen die Schwermut des alten Sängers zu wehren. Sie suchte nach den richtigen Worten, die ihm ein wenig Trost geben konnten. »Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher. Soweit man sich in diesen letzten Dingen überhaupt jemals sicher sein kann. Andere Kulturen, andere Sitten! Ich habe mir schon mehr als einmal gedacht, daß sie irgendwie besser damit zurechtkommen als wir in unserem hochgeschätzten Abendland. ›No beginning, no end. ‹ Schön, nicht? Das hat vor vielen Jahren einmal eine alte buddhistische Nonne auf Bali zu mir gesagt. Dort ist die Leichenverbrennung das höchste aller Feste, auf das das ganze Dorf hinfiebert, bis endlich genug Geld zusammen ist, um es nach überlieferter Tradition zu zelebrieren. ›Hört endlich auf zu weinen! Es gibt keinen Anfang, kein Ende. Nur eure Illusionen. Nichts ist jemals fertig. Vor jedem Beginn liegt ein weiterer, auf jedes Ende folgt ein neues.‹«

»Kann schon sein, daß sie recht haben«, murmelte Fürst »Aber ich bin zu traurig und zu müde, um das rauszufinden.«

»Frau Doktor Teufel?«

Sie nickte und wußte im gleichen Moment, wen sie vor sich hatte – den Sohn. Ein glatter Seehundkopf mit hellbraunem, zurückgekämmtem Haar, fahler Gesichtshaut, schmalen, wachsamen Augen. Geplatzte Äderchen und eine knollige, unnatürlich gerötete Nase verrieten seine Neigung zu Hochprozentigem.

»Sie müssen Leander Fürst sein«, erwiderte sie nicht übermäßig freundlich.

Der Mann war, wie sie wußte, etwas über vierzig, hätte jedoch für gut zehn Jahre älter durchgehen können. Ähnlichkeit mit seinen Eltern konnte sie nicht entdecken, zumindest nicht auf den ersten Blick. Ihm fehlte sowohl die Grazie der Mutter als auch die väterliche Kraft und Robustheit; er hatte magere Glieder, die von einer unsichtbaren Last schon müde geworden waren, und einen spitzen Trinkerbauch, hielt sich schlecht und zog ständig den Kopf ein, als fürchte er Schläge oder Zurückweisungen.

Dabei hätte sein Start ins Leben besser nicht sein können. Ein lang ersehntes, spätgeborenes Kind, der Augenstern seiner Mutter, wie Sina aus Lottes schwärmerischen Erzählungen wußte, verwöhnt, verhätschelt – und leider zum Nichtsnutz erzogen. Schulabbruch, Hinauswurf aus diversen Lehrstellen, Spieler, Gelegenheitsarbeiter. Irgendwann hatte es ihn schließlich auf die Kanarischen Inseln verschlagen, wo er sich nun mit undurchsichtigen Immobilientransaktionen mehr schlecht denn recht über Wasser hielt. Seit mehreren Jahren jedenfalls hatte sich der Kontakt zu seinen Eltern vorwiegend auf Bettelbriefe und zunehmend unverschämtere Geldforderungen beschränkt, die ihn aus angeblich stets neuen Zwangslagen befreien sollten. Ständig auf der Suche nach dem ganz großen Coup, mit dem er das Ruder herumreißen und endlich zu den Gewinnern gehören würde, hatte er in Wirklichkeit eine Reihe kostspieliger Bauchlandungen produziert, für die nach seinen Aussagen natürlich immer andere verantwortlich gewesen waren.

Leander war nicht die Ursache für Lottes Verfall gewesen, sein rücksichtsloses Verhalten jedoch hatte entscheidend dazu beigetragen, daß sie den Lebenswillen mehr und mehr verloren hatte. Keiner ihrer flehentlichen Bitten, er möge nach München zurückkehren, war er gefolgt. Seinetwegen hatte nun sogar ihre Einäscherung um Wochen verschoben werden müssen, vorgeblich, weil er »drüben« beruflich unabkömmlich gewesen sei.

»In der Tat.« Er ließ eine kleine Pause folgen und fühlte sich bemüßigt, ihren abschätzigen Blick zu kommentieren. »So gar nichts Blaublütiges, wie Sie unschwer sehen können.« Beim Lächeln sah man seine spitzen, gelblichen Zähne. »Na ja, mit diesem Namen kann man eigentlich sowieso nur Rennfahrer werden. Oder Säufer.« Exakt die Sorte Mann, die sich selber umwerfend schlagfertig fand, in Wirklichkeit aber genau das Gegenteil war, dachte Sina. »Was soll ich sagen? Das Tier im Menschen ist eben nicht so einfach auszurotten!«

»Sind das alle?« Sina ließ ihn einfach stehen und wandte sich wieder Ottfried Fürst zu. Der starrte seinen Sohn an wie ein gefährliches Reptil, das im nächsten Augenblick zuschnappen kann. Ein kleines Häuflein Dunkelgekleideter hatte sich in der gegenüberliegenden Ecke zusammengeschart. Etwas entfernt standen zwei junge Frauen in dezent-feierlicher Aufmachung, die Sina an verstaubte Konfirmationsmode erinnerte. »Haben Sie und Lotte denn im Domizil keine Freunde gefunden?«

»Keinen«, erwiderte er schnell. Dabei fiel ihr auf, daß sie etwas vermißte. Plötzlich wußte sie, was es war. Er mußte erst kürzlich beim Zahnarzt gewesen sein – das vertraute Klicken seines Gebisses war verschwunden. »Nicht einen einzigen.«

Das konnte nicht ganz stimmen, denn zwei alte Männer in schwarzen, schon ziemlich abgetragenen Anzügen grüßten überfreundlich herüber. Sie stammten beide eindeutig aus dem Oskar-Maria-Graf-Domizil für betagte Münchner Künstler, in das Lotte und Ottfried Fürst auf Sinas Drängen vor zwei Jahren gezogen waren. Einer groß, knochig und weißhaarig, eine dürre, leicht gebeugte Gestalt wie der Mann von la Mancha; der andere rund und klein, um den Hals trotz des warmen Wetters einen auffallenden Brokatschal. Beide kannte sie sogar persönlich: Für den Dürren hatte sie vor einiger Zeit ein kleines Mandat übernommen, weshalb sie wußte, daß er den Fürsts nahestand, der andere war sein Freund und Schatten, der nach Möglichkeit niemals von seiner Seite wich.

Außerdem war natürlich die Leiterin des Domizils da, Maria Schnell, eine mittelgroße, vollbusige Frau Anfang Fünfzig, die sich für diese Gelegenheit zu stark gepudert und sogar ein bläuliches Rouge aufgelegt hatte.

»Und Ihre Fangemeinde? Eigentlich habe ich heute mit einem regelrechten Ansturm gerechnet.«

Fürsts einst berühmter Baß wurde grollend: »Die vergessen schnell, was denken Sie denn? Jetzt erstrahlen ganz andere Sterne am Opernhimmel als ein ausgemusterter Bassist. Und außerdem ist ja Lotte tot. Nicht ich.«

Das klang so ungewohnt bitter, daß sie verwundert seinen Blick suchte, aber der Kammersänger stierte zu Boden. Sein breiter Rücken bebte. Vermutlich ertrug er das Alleinsein nur schwer, was schon zu ihren Lebzeiten Lottes größte Sorge gewesen war.

»Der ißt doch nicht einmal richtig, wenn man sich nicht von morgens bis abends um ihn kümmert«, hatte sie zu Sina gesagt, als sie die beiden in ihrem neuen Heim am Biederstein besuchte und es ihr bereits sehr schlecht ging. Lotte trug einen alten Morgenmantel mit verblaßtem Paisley-Muster und war zum erstenmal, seitdem Sina sie kannte, nachlässig gekämmt. »Und seine Tabletten nimmt er auch nicht regelmäßig, wenn ich ihn nicht ständig daran erinnere. Trotz der Bypass-Operation und dem Zetern unseres alten Hausarztes, der sich jedesmal furchtbar aufregt wenn er es erfährt. Was soll ich Ihnen sagen, Frau Teufel? Uns Frauen bleibt doch gar nichts anderes übrig, als rasch erwachsen zu werden. Männer dagegen können es sich leisten, bis zum Lebensende Kinder zu bleiben.«

»Auf jeden Fall gibt es eine ganze Menge, die endlos in der Pubertät verharren. Was ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann.«

»›Eine Frau liebt in einem fort‹«. Lotte Fürst lächelte unbestimmt. »Kennen Sie das? ›Ein Mann hat dazwischen zu tun.‹ Das stammt meines Wissens von Jean Paul. Und selbst wenn nicht, so hat der, der es gesagt hat, mehr als recht damit gehabt.«

Die Tür der Aussegnungshalle schloß sich. Ein untersetzter Friedhofswärter erschien mit der Urne, einem erstaunlich geschmacklosen Bronzegefäß, das er auf einem kleinen Pult abstellte.

»Wir haben uns heute hier versammelt, um Abschied von Charlotte Fürst zu nehmen«, begann er routiniert herunterzuleiern. »Die verehrte Tote ist …«

»… geliebt, beweint und unvergessen«, fiel ihm Leander Fürst mit Falsettstimme ins Wort. »Das wäre doch sicherlich als nächstes gekommen, oder? Bla, bla, bla … lauter dreiste Lügen. Nicht ein einziges ernstgemeintes Wort darunter.«

»Das reicht, Leander«, unterbrach ihn sein Vater scharf. »Und etwas Anstand, ja, wenn ich bitten darf! Das zumindest bist du deiner Mutter schuldig. Im übrigen bestimme ich, was hier gesagt wird und was nicht.«

Er wandte sich halb zur kleinen Trauergemeinde und hob die Hand wie ein Dirigent, der seinem Orchester den Einsatz gibt. Dabei glitzerten die doppelt um das Zifferblatt gesetzten Diamanten seiner Armbanduhr, die er niemals ablegte. Die beiden herausgeputzten jungen Frauen hatten sich in Positur gestellt. Zwei Absolventinnen der Musikhochschule, wie Fürst Sina zugeraunt hatte. Meisterklasse. Beide äußerst vielversprechend. Agenten würden binnen kurzem Schlange stehen.

Ein reiner, süßer Sopran und ein warmer Alt mischten sich zu einem der wohl schönsten Liebesduette der Opernmusik:

»Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein, Daß wir zwei beieinander sein, Beieinand für alle Zeit Und Ewigkeit.«

»Den ›Rosenkavalier‹ hat sie mehr als alles andere geliebt«, sagte Ottfried Fürst später, als er neben Sina den schier endlosen Kiesweg entlang zum Grab ging. Über ihnen rauschten die Wipfel der alten Bäume. Irgendwo ganz in der Nähe war eine Amsel zu hören. Nirgendwo nasse, leicht faulige Blätterhaufen, keine Krähen, die wie schwarze Todesboten in den Zweigen saßen: nicht ein Zeichen von Vergänglichkeit oder Verwesung. Vielmehr ein heiterer, sommerlicher Park, beinahe wie auf einem liebevoll gepinselten Aquarell, wären da nicht die Grabsteine und Kreuze gewesen, zwischen dem gepflegten Rasen, den Büschen und Bäumen. Die laute, verkehrsreiche Straße, die sie vorhin überquert hatten, erschien Sina nun wie der Grenzfluß Styx, der die Stadt der Toten strikt von der der Lebenden trennte.

»Der ›Rosenkavalier‹, ich weiß«, erwiderte Sina leise, die sich inmitten der friedvollen Stille nur mühsam gegen den Strom der Erinnerung wehren konnte. Am tiefsten saßen die Bilder vom Begräbnis ihrer Mutter. Der Schmerz hatte sich im Lauf der Jahre verändert, war dumpfer geworden und vertrauter, nicht mehr so schneidend wie die Rasierklinge, die so lange in ihr gewütet hatte, aber er war noch immer da. Damals hatte sie es nicht fassen können, daß man ihre Mutter, die das Licht so geliebt hatte, einfach in der dunklen, feuchten Erde begrub. Und bis zum heutigen Tag bereitete ihr diese Vorstellung starkes Unbehagen.

Wenigstens, dachte sie und bemühte sich, sich auf das Gleichmaß ihrer Schritte zu konzentrieren, um wieder ruhiger zu werden, liegt Friederikes Asche auf dem Grund des Starnberger Sees. Nicht ganz legal, aber immerhin genauso, wie ihre beste Freundin es sich immer gewünscht hat. Gefährliche Erinnerungen, trotz allem. Obwohl inzwischen der dritte Sommer seit dem Freitod Friederikes angebrochen war, erschien ihr dieser noch immer wie eine Flucht oder sinnlose Verschwendung und machte sie mal wütend, dann wieder hilflos oder bedrückt. Aber das war ihre ganz persönliche Angelegenheit, die keinen etwas anging.

Betont lebhaft wandte sie sich deshalb wieder dem Kammersänger zu: »Und ich weiß auch, weshalb. Es hat auf Europas Opernbühnen niemals einen besseren Ochs von Lerchenau gegeben. Bis zum heutigen Tage nicht. Der betagte Strauss hat schon gewußt, weshalb er Ihnen und keinem anderen kurz vor seinem Tod die Partitur geschenkt hat.« »Ja, ja, die guten alten Geschichten«, mischte sich Leander Fürst unaufgefordert ein, der dabei einen strengen Blick von der Heimleiterin kassierte. »Vorausgesetzt allerdings, man gibt sich damit zufrieden, sein ganzes Leben die Rollen alter Dummköpfe oder gefoppter Tölpel zu verkörpern. Bassistenschicksal? Nicht jedermanns Sache, würde ich sagen, aber wenn es halt als Sänger zu nichts anderem reicht …«

Plötzlich begann er leise zu singen, nicht unmelodisch, für einen Mann jedoch erstaunlich hoch:

»Ja, das alles, auf Ehr, Das kann ich und noch mehr, Wenn man’s kann ungefähr, Ist’s nicht schwer – ist’s nicht schwer!«

Er hielt inne. »Ach, jetzt hätte ich mich doch beinahe vertan! Das ist natürlich eine Siegerarie und gehört damit selbstredend dem Tenor. Für den dummen, dicken Bassisten des Stücks sind in der Regel Schweine gerade gut genug.« Er imitierte freches Schweinegrunzen, verstummte dann abrupt und blieb wieder ein Stück zurück, als habe er für den Augenblick genug.

Allerdings hatte er die Rechnung ohne Sina gemacht, der nicht entgangen war, wie der Kammersänger bei dieser Verunglimpfung des »Zigeunerbarons« – und damit einer seiner weiteren umjubelten Paraderollen – schmerzlich zusammengezuckt war.

»War das wirklich nötig?« fragte sie schärfer, als zunächst beabsichtigt. Am liebsten hätte sie ihn durchgeschüttelt, aber damit kam sie vermutlich ein paar Jahrzehnte zu spät. »Sie sehen doch, wie Sie ihm zusetzen! Es bricht ihm das Herz, wenn Sie so daherreden.«

Er zuckte die Achseln. Sein Ton wurde blasiert. »So ein bißchen Abschied bringt den alten Bullen nicht um. Und was sein Herz betrifft, so ist es kalt, ganz und gar aus Stein, Sie wissen schon, wie in dem berühmten Märchen von Hauff, mit dem er mich immer traktiert hat. Großer Gott, wie habe ich mich als Kind beim Vorlesen dabei gefürchtet!«

Wenigstens hielt er nun für eine Weile den Mund. Sina wollte möglichst schnell weitergehen, da hörte sie ihn plötzlich etwas murmeln.

»Sie hat die Frommen immer ganz besonders beneidet. Charlotte, meine ich. Ich kann mich erinnern, daß sie es schon gesagt hat, als ich noch ganz klein war. Damals ist sie am liebsten mit mir zum Spielen auf Friedhöfe gegangen. Dort hat sie mir erzählt, daß man auch ohne Tränen weinen kann. Sogar wenn es dann ganz besonders weh tut. Seit heute weiß ich, wie recht sie damit gehabt hat.« Ein seltsames Knurren, als sei ihm plötzlich etwas in den Hals gekommen.

»Die Frommen? Weshalb?« wollte Sina überrascht wissen. Besonders religiös war ihr Lotte Fürst niemals erschienen. Humorvoll, kritisch, das ja, und lebensklug dazu. Eine wohldosierte Balance aus Spott, Liebenswürdigkeit und Selbstironie. Aber gläubig? Und diese angebliche Vorliebe für Friedhöfe kam ihr auch äußerst merkwürdig vor. Aber wer konnte schon mit Bestimmtheit sagen, was tief in den Seelen der Menschen schlummerte? Nachdem auf einmal sogar dieser Klotz von Sohn einen Hauch von Gefühl zeigte.

»Weil die wenigstens wissen, wohin sie gehören.«

»Und das wußte Ihre Mutter nicht?«

»Hätte sie sonst diesen Mann geheiratet?«

Ein Frösteln überkam sie, als hätte sie das Ohr an das Schlüsselloch einer fremden Wohnung gedrückt und dabei Dinge erfahren, die sie nichts angingen und die sie lieber gar nicht gewußt hätte.

Der Kammersänger blieb stehen und der kleine Trauerzug mit ihm. In der zweiten Reihe vor ihnen lag ein exakt geschaufeltes Urnengrab. Sie gruppierten sich um die frisch aufgeworfene Erde. Der Friedhofswärter – wohl wegen der vorherigen Unterbrechung noch immer verschnupft – senkte die Urne stumm hinab. Ottfried Fürst trat ganz nah heran und schluckte mehrmals, als falle ihm auf einmal das Sprechen schwer. Dann ließ er behutsam eine langstielige weiße Rose auf die Urne fallen.

Und kam zu Sinas Erstaunen auf ihre Worte von vorhin zurück: »Da unten liegt sie nicht wirklich, meine Lotte.« Er kniff die Augen zusammen, als sei das Sonnenlicht zu grell für ihn. »Auch wenn wir nicht genau ausmachen können, wo sie jetzt ist. In der Luft, die uns umweht? Im Regen? Oder im Wind? Aber eines weiß ich: in meinem Herzen – immerdar. Was auch geschehen mag. Denn das Leben geht weiter. Ja, Lotte, das Leben muß doch weitergehen!« Er breitete die Arme aus, dann ließ er sie langsam wieder sinken, als sei nun alles gesagt.

»Nichts als schwülstiger Operettenkitsch«, zischte Leander Fürst ebenso bösartig wie unüberhörbar, »und zwar aus der alleruntersten Schublade. Damit hat er sie fertiggemacht. Ein Leben lang. Und nicht einmal hier und heute schreckt er davor zurück, sie zu …«

Das war mehr als genug. Kurz entschlossen bohrte ihm Sina ihren spitzen Absatz in den Rist. Er schrie halblaut auf, quiekend, voller Empörung. Nicht übermäßig eilig zog sie ihr Marterwerkzeug zurück und setzte eine unbeteiligte Miene auf.

»Es gibt Menschen, die sind wie Krankheiten«, sagte sie wie zu sich selber.

Er fuhr zu ihr herum, überraschend geschmeidig für seine körperliche Verfassung. Sein Mund hatte sich verzerrt, als sei er im Begriff, eine neue Gemeinheit auszuspucken, dann aber schien er sich anders zu besinnen.

»Dann wären ihre Mörder Ärzte? Wollten Sie vielleicht etwas in dieser Richtung andeuten?« Sein dünnes Lächeln war alles andere als freundlich. »Wissen Sie, eigentlich gefallen mir solche Kratzbürsten wie Sie.« Er betonte jedes einzelne Wort. »Besonders im Bett. Zorra, so sagt man dazu bei uns auf den Kanaren. Mal sehen, ob Sie als Anwältin auch soviel drauf haben. Sie wissen ja, Anwälte sind die Sorte Menschen, die fett vom Elend anderer werden.« Ein hohles Kichern, das rasch erstarb. »Der Alte kann sich jedenfalls schon mal warm anziehen. Denn ich fordere ein, was mir zusteht, darauf können Sie sich verlassen. Und zwar jeden einzelnen verdammten Pfennig meines Erbes.« Ottfried Fürst, der zugehört hatte, machte eine Bewegung, als wolle er sich auf ihn stürzen. Die beiden alten Herren hielten ihn gerade noch zurück, während Maria Schnell ein Gesicht zog, als habe sie gerade eine Kröte verschluckt. Schwer atmend starrte er seinen Sohn an.

»Du ekelst mich an«, schrie er. »Daß du dich nicht schämst, nach allem, was sie für dich getan hat!«

»Nimm dich lieber selber an der Nase!« belferte Leander zurück. »Wer hat sie denn zum Verzicht auf eine eigene Karriere genötigt, um sie anschließend über Jahrzehnte mit seinen Weibergeschichten krankzumachen? Aber jetzt hast du sie ja endlich unter die Erde gebracht und kannst ungehindert herumhuren, soviel du willst – Gratulation!« »Was bildest du dir ein, du … du Ungeheuer!«

Fürst taumelte leicht und faßte sich an die Brust. Seine Rechte tastete nach dem Nitrospray, das er für Notfälle stets in der Manteltasche mit sich führte. Er betätigte den Drücker hastig, atmete gierig den ersten Stoß ein. Sina kam besorgt näher, aber er fuhr, kaum ging es ihm nur eine Spur besser, unbeirrt in seinem Zornesausbruch fort. »So einen wie dich hätte man schon bei der Geburt ersäufen sollen!« stieß er hervor. Sein Gesicht war blaurot angelaufen. »Ohne Skrupel hast du uns ausgenommen. Aber jetzt ist Schluß damit! Nicht einen roten Heller kriegst du mehr von mir. Das schwöre ich dir, hier am Grab deiner Mutter!«

»Wahrscheinlich hast du sogar recht«, kam es zynisch zurück. »Aber leider warst du schon damals ein verdammter Feigling, und nun wird dich diese kleine Unterlassungssünde eine stolze Stange kosten. Ich ziehe dich aus, werter Herr Papa. Darauf kannst du dich verlassen! Bis zum letzten Hemd.«

Wie zwei Kampfhähne starrten sie sich an. Dann drehte sich Leander Fürst abrupt um und stakste davon. Leicht betreten zerstreuten sich die wenigen Trauergäste. Die beiden alten Männer, die unterschiedlicher kaum hätten sein können, gingen allerdings nicht fort, ohne sich mehrmals besorgt umzudrehen.

»Kommen Sie denn allein mit ihm zurecht, Frau Teufel?« fragte Maria Schnell besorgt. »Er kann ja so eigen sein, seitdem seine liebe Frau …«

»Aber ja. Ich bringe ihn wohlbehalten ins Domizil zurück.« Sina fühlte sich auf einmal erschöpft. Schon jetzt konnte sie sich vorstellen, wie es weitergehen würde. Nicht der erste Fall, bei dem sich Vater und Sohn am liebsten bei lebendigem Leib zerfleischt hätten. Auch wenn es sich, bei Licht betrachtet, gar nicht lohnte. Schließlich wußte niemand besser Bescheid als sie, wie es um Fürsts finanzielle Lage stand.

»Geht es wieder?« wandte sie sich an den Kammersänger. »Sie dürfen sich nicht so aufregen, Herr Fürst! Das tut Ihnen nicht gut und Ihrem Herzen schon gar nicht Außerdem wäre Ihre Frau mit Sicherheit sehr traurig darüber.« Ein wütendes Schnauben. Aber er schien ruhiger zu werden, und der ungesunde Teint verblaßte langsam. »Besser gar keinen Sohn als diesen!«

»Ich denke, er blufft«, sagte sie. »Viel mehr bleibt ihm nicht Und was die Testamentseröffnung betrifft …«

»Keinen Pfennig für Leander – nur über meine Leiche! Und selbst dann nicht wenn ich es irgendwie verhindern kann. Sie müssen mir helfen, Frau Teufel! Lieber lasse ich alles noch vorher in die Isar werfen. Verteile es an irgendwelche Fremden. Oder vermache es dem hiesigen Tierschutzverein. Sogar eine Stiftung zugunsten von wem auch immer wäre denkbar. Alles immer noch besser als mein leiblicher Sohn! Das ist mein letztes Wort.«

Resigniert schwieg sie. Familiendramen gehörten zum Unerfreulichsten, was ihr Beruf zu bieten hatte. Sie wußte schon, weshalb sie sich seit Beginn ihrer juristischen Laufbahn strikt geweigert hatte, Scheidungsmandate zu übernehmen, und seien sie noch so lukrativ. Eine instinktive Abneigung. Sie resultierte nicht nur aus den Erfahrungen ihrer eigenen gescheiterten Ehe, die sie mit gerade mal zwanzig und unzähligen Illusionen eingegangen war. Sie hatte Jahre gebraucht, um ihr vielfach gebrochenes Herz wieder einigermaßen zusammenzuflicken, und manchmal war sie sich bis heute nicht sicher, ob es ihr wirklich gelungen war.

Inzwischen war es unangenehm heiß geworden. Die Sonne brannte regelrecht herunter, weshalb viele der frisch gepflanzten Blümchen bereits durstig die Köpfe hängen ließen. Sina schaute sich leicht genervt um und wünschte sich schnellstens an ihren Schreibtisch zurück. Schon eine ganze Weile war ihr aufgefallen, daß sich eine Frau ein paar Gräber weiter zu schaffen machte, obwohl es dort eigentlich nichts zu tun gab. Bunte, makellose Blumenrabatten, ein wuchtiger, dunkler Marmorstein mit goldenen Versalien, nicht ein störendes Blättchen auf dem frisch gemähten Rasenstreifen. Offenbar nahm die Frau die Grabpflege äußerst genau. Und vermutlich hatte sie die lautstarke Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn gefesselt. Selbst jetzt unternahm sie keinerlei Anstalten, sich zu entfernen. Das Gesicht konnte Sina auf die Entfernung nicht genau erkennen, aber optisch paßte die Aufmachung zum peinlich ordentlichen Arrangement der Grabstelle. Die Frau war mittelgroß und üppig, aber gut proportioniert. Sie versteckte ihren Körper nicht, wie es viele Frauen in ihrem Alter taten, als seien sie mit Beginn der Wechseljahre in eine geheimnisvolle Wahrnehmungsfalle geraten, die sie plötzlich unsichtbar für die Umwelt machte. Nein, diese Frau präsentierte ihren Körper selbstbewußt in einem knapp sitzenden, cremefarbenen Chanel-Kostüm. Dazu trug sie einen flotten kleinen Hut, unter dem blondiertes Haar hervorblitzte, reichlich Goldschmuck, helle Wildlederpumps und schwarze Nylons, die ihrer sonst eher damenhaften Aufmachung etwas überraschend Verruchtes verliehen. Offensichtlich neugierig, lugte sie immer wieder verstohlen herüber.

Und plötzlich schien es Sina einen Augenblick lang, als habe der Kammersänger der Unbekannten ein kleines Zeichen gegeben.

Der Moment war vorüber, bevor sie es recht gesehen hatte. Wahrscheinlich war sie ohnehin einer Täuschung erlegen. Und wenn nicht, dann ging es sie auf alle Fälle nichts an. Sina schüttelte den Kopf. Jetzt begann sie schon am frühen Morgen herumzuphantasieren, vermutlich nicht zuletzt, weil die neuen Schuhe scheußlich zu drücken begonnen hatten. Allerhöchste Zeit, sie so schnell wie möglich loszuwerden, sich wieder hinter ihre Akten zu klemmen und endlich etwas Effektives zu leisten.

»Kommen Sie, Herr Fürst!« Sie bot ihm ihren Arm. »Ich bringe Sie jetzt nach Hause. Und unterwegs erzähle ich Ihnen noch einmal, was Sie übermorgen beim Nachlaßgericht erwartet. Damit Sie sich ganz sicher fühlen und von Leander nicht unnötig provozieren lassen.«

Er folgte ihr gehorsam. Doch plötzlich blieb er stehen und drehte sich langsam um.

Sina tat es ihm nach.

Die Frau war verschwunden.

Hinter ihnen war nichts mehr als die hellen, gepflegten Kieswege, die Gräber mit ihren Steinen oder Kreuzen und das laute, fast schon aufdringlich fröhliche Zwitschern der Vögel hoch über ihren Köpfen.

Liebeslang

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