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Kapitel 2

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Es klopft.

Mein Zimmer gleicht unzähligen Zimmern, die ich in Österreich kennen gelernt habe. Rechts Spiegel plus Waschbecken mit hellblauem Kunststoffbecher für die Zahnpflege, zwei hart gewaschene Handtüchern und eine Steckdose für den Rasierer. Dann das Bett mit dreigeteilter Matratze und kleinem Kissen, ein Nachtschränkchen mit aufquellender Pressspanplatte samt Aschenbecher mit roter Aquavitwerbung und ein Schrank, dessen Bügelsortiment aus mindestens zehn verschiedenen Kaufhäusern und Reinigungen zusammengesucht worden war.

Vis-à-vis der Tür lag das Fenster zum Hof. „Toiletten befinden sich am Ende des Ganges, auch die Dusche für alle“, hatte Sofia noch gesagt. Wer die anderen sechs Zimmer der Flurflucht bewohnte, war nicht klar. Sie trugen keine Nummern und waren sicher auch nicht für Touristen gedacht. Vielleicht wohnte dort das Personal: der Österreicher mit der strengen Stimme und das Mädchen mit den großen braunen...

Es klopft wieder.

Ich hatte die Hose ausgezogen, im Koffer passablen Ersatz für meine Beinkleider gefunden und mich auf das Bett gelegt. Ich starrte an die Decke. In einem geschwungenen Bogen ging sie in die Wand über, die zehn Zentimeter noch in der Deckenfarbe gestrichen war. In unregelmäßigen Abständen hingen gerahmte Kalenderblätter auf der billigen Strukturtapete: Domplatz Salzburg, St. Wolfgang, das Riesenrad im Wiener Prater, der Gardasee.

Alles schwarz weiß.

Der Gardasee!

Gardasee?

Der liegt doch in Italien.

Egal. Seit der Suche nach dem populärsten Deutschen war auch Mozart kein Österreicher mehr und da kommt es auf den Lago di Garda auch nicht mehr an – heim ins Reich und gut.

An der Decke flitzte die Mietzimmerfliege hin und her. Ich dachte über Heiligenkreuz und fünfeinhalbe leere Magazinseiten nach. Wie in die Story einsteigen? Ein Zitat, ein Bonmot?

Aber eigentlich dachte ich an Lena und an Wien, an damals, das schöne Hotel und eine Unterlassung, die ich noch heute bereue. Warum war ich nicht mit ihr duschen gegangen, als sie sich ihre weiche Haut mit diesem duftenden, schwersüßen Duschgel einrieb? Ach, wie klein sind doch die Unterlassungen der Jugend gegen die heutigen!?

Jetzt klopft es nicht mehr.

Jetzt hämmert irgendwer gegen die Holztür meines Zimmers, so dass der Rahmen bereits klapperte.

„Fertig?“

Kai hielt es in seinem Fremdenzimmer wohl nicht mehr aus. Es war gerade acht Uhr am Vormittag vorbei – acht Uhr früh! Kai stand im Zimmer.

„Auf zum Friedhof.“

Ich mühte meinen Körper – mindestens fünf Kilo tatsächliches und zehn Kilo gefühltes Übergewicht – in die Höhe. „Bist du immer noch nicht müde?“

In der Zwischenzeit hatte er sich rasiert, denn ausnahmsweise sprossen keine grauen Haare rund um Mund und Kinn. Nebenbei: auch das war ganz schön lang...

Nein, Kai war nicht müde.

Der Weg zum Friedhof stieg langsam aber stetig an. Von der nahen Autobahn hörten wir den frühen Berufsverkehr Richtung Wien. Der erste Touristenbus stand bereits auf dem Stiftshof. Wir gingen schnellen Schrittes über den Kalvarienberg. Die von geweißelten steinernen Heiligen gesäumte Allee führte an frisch renovierten Kreuzwegstationen vorbei. Der Weg war steinig und voller Pfützen. Durch die frischen grünen Äste der Kastanien strahlte die Morgensonne.

„Wird doch noch ein schöner Tag.“

Ich quittierte mit einem stummen Nicken und genoss den Weg zum Ziel.

Wir querten die Straße und folgten dem Hinweisschild „Friedhof“ einen weiteren Hügel hinauf. Linden säumten den Weg bis zu einem unbefestigten Parkplatz unterhalb der Autobahn. Ich hatte mehr als 50 Bäume auf jeder Seite gezählt.

Unterhalb öffneten sich die Täler des Wienerwaldes, der von der Nachkriegs-Autobahn mit mächtigen Brücken und einem aufgeschütteten Damm geteilt wurde. Hätte der Führer die Bahn noch bauen können, hätte sie auch das Kloster geteilt. Das erfuhr ich aber auch erst später.

Wir kamen zur mannshohen Mauer des Friedhofes von Heiligenkreuz. In der Mitte der sparsam verputzten Einfriedungsmauer war ein verziertes Eisentor. Kai öffnete unter protestierendem Quietschen den rechten Flügel.

„Bei Nebel `n schönes Motiv.“

„Hm, für den Hörfunk."

Kollege Kaiser blickte sich um. Dem Tor mit seiner fast unleserlich hinein geschmiedeten Jahreszahl gegenüber erhob sich eine neuromanische Kapelle, auf der Hälfte des Weges ein hölzernes Kreuz. Links und rechts des Weges reihten sich an schmalen Kiesgängen die Gräber wie Perlen auf. Zur Rechten stand eine alte Hütte - vielleicht der Schuppen des Gärtners? Noch davor, an der Mauer zum Eingangstor, aufgeschüttete Erde und eine Tafel mit ausländischen Namen. Ein Kriegsrelikt und laut Baedecker gefallene russische Soldaten. Nach unserem Abenteuer in Österreich hatte ich der Reiseführerredaktion geschrieben, dass es sich um typhustote Kriegsgefangene handelt, die man fern der damaligen Heimat in Bessarabien hier verscharrt hatte. Gedankt hat mir die Information bisher niemand - und das, obwohl Lena doch eine Ur-, Urur- oder Urururirgendwas von den Baedeckers war.

„Da oben.“

Ich kannte den Friedhof noch vom Besuch mit Lena. Links vom Hauptweg standen zwischen den Gräbern sieben oder acht hohe Bäume und dort, fast an der Friedhofsmauer, lag diese auffällige Gruft: Während alle Gräber parallel zum Hauptweg angeordnet waren, hatte man das Kreuz dieser Grabstätte nach Norden ausgerichtet.

Kai las die Inschrift: „Mary Freiin von Vetsera. Geboren 19. März 1871, gestorben 30. Jänner 1889. Wie eine Blume sprosst der Mensch auf und wird gebrochen.“

Die erhöhte Gruft war von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben. Auf dem Grab lagen drei Steinplatten, jede mit zwei eisernen Ringen. Rundherum wuchs Efeu. Unterhalb des braunen Steinkreuzes, auf dessen Sockel die Inschrift angebracht war, flackerte ein batteriebetriebenes Grablicht. Der Maiwind strich durch die Föhren neben dem fast drei Meter hohen Kreuz.

„Alt isse nicht geworden.“

Ich nickte.

„Sie war die Geliebte des österreichischen Thronfolgers. Er hat sie in seinem Schloss drüben in Mayerling erschossen und sich dann selbst abgeknallt. Sagt man zumindest.“

Kais Blick zeigte mir, dass er sich für die Mordgeschichte nicht interessierte. Aber er wusste wieder zu verblüffen: „Jau, habe ich mal im Film gesehen. Mit Dr. Schiwago.“

„Stimmt, “ pfiff ich anerkennend, „1968 hat Omar Scharif den Kronprinzen Rudolf gespielt und Catherine Deneuve die Vetsera.“

„Ne, neulich mal, da hat der einen Maler gespielt. In so einem Fernsehfilm.“

Ob die Tote etwas mit unserem Kloster zu tun hatte, wollte Kai dann auch noch wissen.

„Irgendwie schon.“

Ich erzählte Kai von der Beerdigung des jungen Dings: „Das tote Mädchen hat man sitzend in einer Kutsche zum Friedhof gebracht, in einen Sarg gelegt und im Morgengrauen unten an der Friedhofsmauer beerdigt. Da, wo jetzt die Tafel für die toten Soldaten hängt.“

Ich zeigte zum Eingang und dem Gemeinschaftsgrab aus Weltkriegstagen.

„Im Mai hat man die Vetsera wieder ausgegraben und hier in dieser Gruft bestattet. Und als zum Ende des zweiten Weltkrieges der Krieg in Heiligenkreuz tobte, haben sie die größeren Gräber aufgehebelt und nach Schmuck gesucht – die Russen, oder die Nazis, oder die Heiligenkreuzer selbst. Auch Marys Gruft wurde geplündert und die Gebeine erst 1959 wieder beigesetzt. Seither ist die Gruft ein wahrer Pilgerort.“

„Für wen?“

„Romantiker.“

Kai sah skeptisch zu mir rüber.

„Mary hat den verheirateten Kronprinzen heiß und innig geliebt und ist mit ihm in den Tot gegangen. Das fasziniert die Menschen auch heute noch.“

Er nickte. „Wenn du meinst. Und was hat das mit deinen Mönchen zu tun?“

Wir machten uns langsam auf den Rückweg eben zu diesen.

„Der Kronprinz hat die Vetsera getötet und sich selbst erschossen, heißt es. Für die katholische Kirche war das schon problematisch, dem Selbstmörder ein kirchliches Begräbnis zu gestatten - immerhin war er der Sohn des weltlichen Gott-Stellvertreters. Also hat man den 30-jährigen für geisteskrank erklärt. Und die Leiche der Vetsera wurde verschwiegen, weil der Thronfolger mit einer belgischen Prinzessin verheiratet war. So wurde das Mädchen in einer Nacht und Nebelaktion hier her geschafft, von einem Geistlichen eingesegnet und verscharrt. Die ganze Aktion war sicher nicht im Sinne der Mönche. Die haben nur zustimmten, weil der Kaiser es forderte. Der Mutter von Mary haben sie zwar erlaubt, die kleine Kapelle hinter uns zu bauen, aber nach dem zweiten Weltkrieg war man dann nicht mehr so barmherzig. Erst 14 Jahre nach der Grabplünderung hat die Vetsera wieder einen Sarg erhalten. Na ja, und außerdem hält das Stift noch immer Dokumente zurück, die mit dem Fall zusammenhängen.“

Kai blieb stehen und kramte nach Rauchzeug.

„War das also Mord plus Selbstmord!?“

Ich nickte.

Wir waren wieder an der Bezirksstraße angekommen und wählten statt des Weges über den Kalvarienberg nun den Bürgersteig. „Gerade weil man versucht hat, den Tod des Mädchens zu verschweigen und zunächst beim Kronprinzen von Herzattacke, dann von Schlaganfall und erst später vom Pistolenschuss sprach und weil so viele Unterlagen verschwunden sind, vermutet man noch immer andere Gründe.“

„Beispiele?“

„Na, Österreichs letzte Kaiserin zum Beispiel meinte vor ihrem Tode, die Franzosen hätten den Kronprinzen ermorden lassen. Ein Arzt hier aus der Gegen wollte beweisen, dass Mary an einer Abtreibung starb. Andere behaupten, der Erzherzog habe eine hübsche Försterin gepimpert und sei von ihrem Mann erschlagen worden, vom Onkel der Baroness Vetsera erschossen oder gar nicht tot, sondern nach Polen oder wahlweise Amerika ausgewandert. Außerdem wird erzählt, dass Rudolfs Tod von Freimaurern oder vielleicht auch von seinem Vater in Auftrag gegeben wurde und die Vetsera nur ein Betriebsunfall war. Es gibt so viele Sterbeversionen und noch mehr Bücher und Artikel.“

Zurück im Stift gingen wir auf ein zweistöckiges, gestrecktes Gebäude gegenüber der Klosterpforte zu. Links lag der schon lange nicht mehr bewirtschaftete Klosterkeller, davor ein verwilderter Gastgarten. Die alte Leuchtreklame hing gefährlich schräg über dem Eingang. Heute gab es wohl nur noch im Stiftsgasthof gegenüber Unterkunft und Verpflegung.

Neben der leer stehenden Gaststätte lang ein gelbgrün getünchtes Gebäude – die weltliche Verwaltung des Stiftes. „In einer halben Stunde sind wir mit dem Kämmerer verabredet. Ich setze mich da drüben beim Gasthof hin und schreib schon mal ein paar Eindrücke auf, kann ja nicht schaden.“

Kai nickte. „Okay, ich bin oben im Zimmer.“

Wir trennten uns vor dem Biergarten. Kai verschwand im Gasthaus, ich setze mich auf die Mauer und nahm Notizbuch und Kugelschreiber zur Hand.

„Hlg+, Donnerstag. Friedhof, Vetsera-Grab. Gasthof bescheiden, Zimmer saumäßig. Touri-Busse, Japaner/Chinesen. Pforte offen, Massen strömen. Stift soll viele Kunstschätze haben, sie aber nicht ausstellen. Stoff für die Geschichte? Hope so.“ Die letzten Worte unterstrich ich.

Doppelt.

„Wenn das hier mal alles gut geht“, murmelte ich und blickte, in schönere Gedanken versunken, Richtung Stift.

Das Heiligenkreuz-Komplott

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