Читать книгу Mit der Wut des Überlebens - Lars Gelting - Страница 6
1. Teil Das Vermächtnis des Söldners
ОглавлениеMit einem Ruck wurde die Eingangsplane zurückgeschlagen, wurde die Stille zerrissen, die sich für einen Augenblick im Zeltinneren ausgebreitet hatte. Zerzaust und triefend erschien die rote Mähne in der Eingangsöffnung, schob sich Mikola vorgebeugt herein. In der Hand den aufgeweichten Hut, ließ er den klammen Filz von der Schulter rutschen.
„So, jetzt haben wir den Pocher erst mal fest angepflockt.“
„Hoffentlich acht Fuß über dem Boden und mit dem Kopf nach unten! Dieser Mistbock!“ Zita, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in beiden Händen abgestützt, sagte das leidenschaftslos, überzeugt davon, dass das Problem „Pocher“ damit erledigt war.
Er nickte vor sich hin, grinste dabei sein schräges, von der Narbe abgebremstes Grinsen. Hakte den nassen Hut und den schweren Filz auf einen der vorstehenden Astzapfen, die aus den Ständern rings um das Feuer absichtsvoll hervorragten.
„Ist aber schon ein zäher Bursche, wirklich!“ Er ging vor dem Feuer in die Hocke und rieb die Hände gegeneinander. „Wäre uns fast noch entwischt, der alte Schinder!“ Übers Feuer hinweg sah er zu Franz, „Wirklich! Den darfst du nicht aus den Augen lassen!“ Von der Seite angelte er sich zwei dünnere Holzscheite und legte sie so in die Glut, dass gleich die Flammen an ihnen hochzüngelten.
„Der kleine Hermann hatte wohl einen Augenblick nicht aufgepasst,“ zu Zita gewandt, „hinten, an der schmalen Stelle, wo wir vom Lager zum Platz rübergehen, zwischen den Bäumen.“ Er sah wieder zu Franz, der ihm mit zusammengekniffenen Augen folgte, „Mit einem mal schrie der Kleine auf. Als wir uns umdrehten, war der Kerl schon weg. Wie eine Katze!“
„Ihr wart doch zu viert oder fünft?“
„Ja, Ja. Aber zwischen den Bäumen ist der Weg schmaler. Die beiden sind hinterher gegangen, und da hat er dem Kleinen so kräftig gegen das Bein getreten, dass er ihm gleich das Knie zerlegt hat.“
Therese, die Arme immer noch um die Knie geschlungen, schob ihm fragend den Kopf entgegen.
„Wirklich! Das ist so einer, der gibt erst dann auf, wenn er endlich am Strick hängt!“ Sein Gesicht nahm einen schelmischen, amüsierten Ausdruck an, „Aber, ich glaube, der Dallinger hat nur auf so eine Gelegenheit gewartet. Der war sofort hinter ihm her, hat ihn aus dem Busch gezogen, ihn eigenhändig bis auf den Platz geschleppt und ihm dann seine Knotenschnur umgelegt.“
Therese stöhnte auf, verzog schmerzhaft das Gesicht. Mikola grinste noch schräger als sonst, erhob sich aus der Hocke, „Mädchen, das hättest du dir angucken sollen. Du wärest jetzt zufrieden.“
„Was ist eine ´Knotenschnur´?“
Mikola hielt sich an einem der Ständer fest, sah grinsend zu Stefan hinunter, „Du kannst sie dir ja morgen mal vom Dallinger umlegen lassen, dann weißt du es. …Und du vergisst es nie mehr!“ Einen Augenblick sah er Stefan lächelnd an, schüttelte dann den Kopf, „Nein! Tu´s lieber nicht!“
Er löste sich vom Balken, „Das ist eine kräftige Schnur, auf der, immer im Abstand von zwei Fingern,“ er zeigte den Abstand mit dem Zeige- und dem Mittelfinger, „feste Knoten gezogen wurden. Wohl dreißig Stück auf der ganzen Schnur. Diese Schnur legt er hier über die Stirn,“ er fuhr mit beiden Zeigefingern von der Nasenwurzel über die Augenbrauen, am Kopf entlang über die Ohren bis zum Hinterkopf, „bis hier hinten hin. Du hast dann Knoten an Knoten am Kopf anliegen. Am Hinterkopf dreht er dann die Schnur mit einem Knebel langsam immer enger.“ Er machte eine Pause, sah Stefan vielsagend an, „Wenn dir noch nie der Schädel brummte, dann tut er es – falls dir Dallinger nicht den Schädel sprengt. Es ist ziemlich gemein!“
„Wer ist jetzt bei ihm?“ Zita hatte ihre Haltung nicht verändert, sah nur mäßig interessiert zu ihm herüber.
„Josche!“ Er drehte sich und kam um das Feuer herum zu seinem Platz neben Zita, „Der wird ihn nicht aus den Augen lassen! Aber ich könnte jetzt einen heißen Tee oder einen Becher heißes Honigwasser gebrauchen.“ Er sah fragend von Zita zu Margret. Und während Zita weiterhin sinnend geradeaus sah, als hätte sie gar nichts gehört, erhob sich Margret, schwenkte den Kessel über das Feuer, legte noch zwei Scheite auf, goss Wasser aus einem Krug in den Kessel und setzte sich ruhig wieder auf ihren Platz.
„Dieses verdammte Magdeburg! Jetzt hat es uns wieder!“ Zita warf einen kurzen Blick zur Seite, wo sich Mikola wieder eingerichtet hatte und sie mit gerunzelter Stirn ansah, „Wir sprachen gerade darüber, als du reinkamst.“
Vom hellen, flackernden Feuerschein beleuchtet, sah Franz ihr Gesicht dicht vor sich, sah an den Hautverwerfungen, den Faltungen und Knotungen entlang, bis sich ihre Augen begegneten, einen Atemzug lang ineinander verhakten. „Das war auch in Magdeburg?“
Sie nickte vor sich hin, sah ihn jetzt sinnend an, „Ich habe den gleichen Fehler gemacht wie dein Vater! Und mich hat es genauso erwischt – oder fast genauso!“
„Hast du deinen Vater eigentlich noch gekannt?“ Mikola sah über Zita hinweg, die sich wieder nach vorn beugte, ihre Knie umschlang.
„Als mein Vater mir versprach, bald wieder zurückzukommen, war ich zehn.“
Mikola nickte versonnen vor sich hin, „Zwei Jahre waren wir, glaube ich, zusammen unterwegs. Zuerst in Wolgast. Hätte nicht viel gefehlt, dann wäre er damals zusammen mit Gregor und Chrischan zurückgegangen.“ Er bückte sich weit vor, griff einen kurzen Holzspan auf, der vor seinen Füßen auf dem Boden lag. „Aber so ist der Krieg: Du verfluchst ihn jeden Tag, aber du entkommst ihm nicht. Immer wieder gibt man dir das Gefühl, dass da noch etwas erledigt werden muss, dass du diese eine Sache noch für deine Leute ausfechten musst! Irgendwann ist das hier dein Leben. Du kannst dir nicht mehr vorstellen, in einer Stadt zu leben, immer das Gleiche zu tun, dich ständig nur noch an einem Ort aufzuhalten. Vielleicht dauert der Krieg auch deshalb so lange.“
Von seinem Span aufsehend, „Bei deinem Vater war es anders. Er war ein guter Kamerad, wirklich! Ein wirklich guter Kamerad! Aber er wollte zurück zu seiner Familie. Das war ein richtiger Familienmensch. Aber er sah den Krieg als Möglichkeit, als Zeit der Neuverteilung von Besitz und Reichtümern. Er wollte vermögend aus dem Krieg zurückkehren. Deshalb ist er damals auch nicht mit Gregor zurückgekehrt.“
Franz zog die Augenbrauen hoch, zweifelnd.
„Lass mal Junge!“ Mit seinem Span pickte er in gleichmäßigen, kurzen Abständen zu ihm hinüber, „Bei einigen hat das geklappt. Und ich glaube, er hätte das auch geschafft. Wirklich!“
„Er hat es geschafft! Oder besser: Er hätte es geschafft, wenn er zurück gekommen wäre.“ Therese, den Ellenbogen auf den angezogenen Knien, den Kopf in der Hand abgestützt, sagte es einfach so in den Raum. „Die Grundlage für all das, was wir in den letzten Tagen verhandelt haben, hat er geschaffen, nicht ich!“
„Und der Schlüssel dazu war das Kreuz, das du ihm abgenommen hast?“ Margret erhob sich und kramte mehrere Holzbecher aus einer Kiste, die direkt hinter ihr stand.
„Das habe ich aber nicht geahnt. Ich habe es monatelang mit mir herumgetragen, einfach so.“ Sie richtete sich auf, verschränkte die Arme über den Knien, „Es war etwas von ihm, und das wollte ich bei mir haben. Mosche hat mich dann wieder darauf gebracht.“
„Hört sich jüdisch an: Moshe!“ Franz war aufgestanden, stand jetzt auf der anderen Seite des Feuers vor dem Kessel und damit Margret gegenüber.
Sie sah zu ihm auf, „Ich habe doch von den beiden Juden erzählt, die im Wald vor Nürnberg in die Falle gegangen waren, Vater und Sohn.“ Er nickte, sich erinnernd, sah zu ihr herüber. „Moshe war der, der sich fast erhängt hätte. Er hat mich aus Magdeburg herausgeholt.“ Sie hielt ihm einen leeren Becher hin, „Hätte er mich nicht in die Gruft gezogen, ich wäre niemals da herausgekommen.“
Irgendwo in der Ferne grummelte es, rollte der Donner lang ausrollend von ihnen fort.
„In eine Gruft?“ Er gab ihr den dampfenden Becher wieder, sah sie mit gerunzelter Stirn an und nahm nacheinander die Becher von Stefan, Zita und Mikola.
„An dem Tag war sie wohl einer der sichersten Orte in Magdeburg. Sogar die Johanniskirche über der Gruft ist vollständig ausgebrannt.“
Er schöpfte das heiße Wasser, nickte vor sich hin, „Das scheint mir typisch für Juden zu sein.“ Vorsichtig gab er die gefüllten Becher zurück und ging dann zu seinem Platz hinüber. „Wenn alle anderen draufgehen, sie kennen die Schlupflöcher und kommen durch.“
Sie antwortete ihm nicht sogleich, sah zu, wie er sich hinsetzte, wartete, bis ihre Augen sich begegneten, „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du hier in Ingolstadt viele Juden kennst. Und dafür bist du ziemlich hochmütig!“
„Man hört das halt, wenn über Juden geredet wird: Sie sollen immer ihren Vorteil im Auge haben und so besser über die Runden kommen als der Christenmensch.“ Er sah hinüber zu Mikola, der ihn mit nachdenklich zusammengekniffenen Augen musterte.
„Er musste mich nicht durch die Trümmer schleppen, ich war ihm eher eine Last. Und er musste mich auch nicht in Leipzig in seinem Hause aufnehmen, mich ernähren. Noch dazu als Christin, die ich wochenlang mit einem Kreuz um den Hals herumlief. Und vermutlich ganz entgegen der allgemeinen Vorstellung hat er mich auch nicht um das gebracht, was dein Vater mir und dir hinterlassen hat. Ohne ihn und seinen Vater wäre ich jetzt gar nicht hier.“ Sie wandte sich ab, sah ruhig zu Margret hinüber, die einen Topf mit Honig herangeholt hatte und nun darin herumpulte.
„Ich habe bisher nichts mit Juden zu tun gehabt, aber man erzählt sich halt so allerhand.“ Sich verteidigend zog er die Schultern hoch, sah ohne sich umzuwenden zu ihr herüber.
„Eben!“ Sie wandte sich ihm wieder zu, „Man erzählt auch viel über Hexen! Ehe man sich dann versieht, werden Menschen gefoltert und umgebracht. Du solltest gewarnt sein! Alles was ich kann, bin und habe geht auf deinen Vater und die Goldbergs zurück, und sie haben nichts dafür verlangt!“
„Diese Juden, lebten die in Leipzig?“ Mikola runzelte die Stirn, sah vorgebeugt zu ihr hinüber, „Gerade in den großen Städten wie Magdeburg und Leipzig ist es denen damals schlecht ergangen. Die mussten doch überall verschwinden!“
„Das stimmt! Aber die Goldbergs waren nicht irgendwelche Juden und das wusste man auch. Sie wurden halt geduldet wie ein Huhn, das bei Bedarf goldene Eier legt. Die Stadt konnte sich bei ihnen bedienen, ohne Widerstand erwarten zu müssen. Ob Belagerung oder Pest: Goldbergs mussten immer besonders bluten und hohe Summen zahlen.“
„Und, warst du bei diesem Einsiedler?“ Margret ließ den Honig vom Holzspatel ins heiße Wasser schmelzen und reichte den Honigtopf an Therese weiter. Draußen rauschte es um das Zelt herum, hob die Plane, als würde das Zelt einatmen, und ließ sie dann schlaff wieder zusammenfallen.
„Moshe ist mit mir hingefahren.“ Sie klemmte den bauchigen Tontopf zwischen ihre Knie, hob mit dem Spatel einen kleinen Klumpen von der cremigen Masse ab und gab den Topf an Franz weiter. „Im Herbst zweiunddreißig. Ich dachte damals überhaupt nicht daran, diesen Rupert aufzusuchen. Ich hatte abgeschlossen. Mir reichte das Kreuz und die Erinnerung.“
„Aber dein Mann hat dir doch aufgetragen, unbedingt diesen Einsiedler aufsuchen!“
„Für wen oder was sollte ich das tun?“ Sie rührte in ihrem Krug, sah kurz hinüber zu Margret. „Zurück nach Eichstätt konnte ich nicht. Ich dachte, ich würde es nie mehr können. Und bei den Goldbergs war ich zuerst mal eine Fremde.“ Sie nahm vorsichtig einen Schluck aus dem Becher, rührte wieder. „Die Juden sind von der Stadtgemeinschaft ausgeschlossen, sind immer nur für sich. Wer zu ihnen kommt, will Geschäfte machen, andere Kontakte gibt es kaum. Verstehst du: Ich fühlte mich abgeschoben aus der Welt und ziemlich überflüssig.“
Wieder jagte der Wind um das Zelt, blähten sich leise flappernd die Planen.
„Moshe hat dann immer wieder gedrängt, hat mir vor Augen geführt, dass auch dem Eremiten mal was passieren könnte. Und irgendwann war er es wohl leid.“ Sie nahm ruhig einen Schluck, sah sinnend ins Feuer, „Ganz in der Frühe, hatte er schon das Pferd vor den kleinen Wagen gespannt, ist einfach mit mir losgefahren. …
In Saalfeld brauchten sie nicht lange fragen: Der „fromme Mann“, der „im Bruch hinterm Berg lebt,“ war hier bekannt. Sie ließen sich den Weg durch den Wald erklären, stellten Pferd und Wagen bei einem Bauern ein und machten sich zu Fuß auf.
Und der Einsiedler meinte es bitter ernst mit der Abkehr von den Menschen: Zügig ausschreitend kämpften sie sich den halben Tag durch dichten Fichtenwald. Waren jedes Mal erleichtert, wenn sich vor ihnen bunter und lichter Buchenwald den Hang hinauf zog und ärgerten sich anschließend, wenn undurchdringliches Beerengestrüpp sie dort zu größeren Umwegen zwang. Sie quälten sich nicht einen Berg, sondern immer noch einen hinauf und auf der andern Seite wieder herunter.
Die Sonne hatte den Zenit schon überschritten, als sie, den Rückweg bedenkend, bereit waren, aufzugeben. Noch den einen Hang hinauf! Und wenn dann nichts von ihm zu sehen ist, kehren wir wieder um!
Entschlossen kletterten sie den Abhang zwischen Steinen und Buschwerk hinauf, verharrten dann keuchend und schnaufend auf der Höhe und waren ebenso enttäuscht, wie schon einige Male zuvor: Umgeben von hohen Bäumen hatten sie keinerlei Ausblick, Buschwerk und Geröll verleideten ihnen den weiteren Abstieg. – Sie mussten zurück!
Enttäuscht und schweigend ließen sie sich auf einen der Baumstämme nieder, die, vom Wind gefällt und dicht bemoost, auf der Anhöhe lagen, schnauften und stierten vor sich hin.
„Wie weit muss man laufen, um sich in dieser Zeit des Raubens und Totschlagens für einen Augenblick im Paradies zu fühlen.“ Moshe ließ seinen Blick langsam in die Runde gehen, nahm mit allen Sinnen auf, was sich ihm mitteilte. Den leichten Geruch nach Harz, der sich in der letzten Wärme des Jahres verbreitete, die tiefe Stille, bereichert durch das Summen der Insekten, den Ruf einzelner Vögel, der zu ihnen hallte, als säßen sie in einem großen Raum und – da war noch etwas. Sein Blick blieb bei ihr hängen, starr und aufmerksam. Er konzentrierte sich auf etwas. „Hört ihr das?“ Er flüsterte fast, wies mit seinem Zeigefinger über die liegenden Baumriesen hinweg zum Abhang, dorthin, wo sie nicht mehr hinunter laufen wollten. Sie hörte nichts, was für einen Wald nicht typisch gewesen wäre, eben die Insekten, die Vögel und irgendwo murmelte ein Bach.
„Das ist kein Bach!“ Er flüsterte wieder, „Hört einmal genau hin!“ Sie konzentrierte sich, horchte und hörte gar nichts mehr! Der Bach hatte aufgehört zu fließen!
„Kommt! Das ist er!“ Moshe war schon auf, kletterte über den nächsten Baum hinweg, erreichte die erste Baumreihe und blieb abwartend stehen. Kinn und Augen wiesen nach vorn, so als läge etwas Wichtiges vor seinen Füßen.
Vorsichtig kam sie näher, reckte den Hals, sah zuerst, dass hinter der Baumreihe der Hang steil abfiel, und dann sah sie ihn. Er war nur eine Baumhöhe unter und etwas seitwärts von ihnen, dort, wo der Steilhang in einem Halbrund von ihnen weglief.
Groß und hager, in ein naturfarbenes, streng an ihm herabfallendes Gewand gekleidet, stand er dort. Stand wie ein ärmliches Abbild desjenigen, dem er nachzueifern trachtete. Der Sonne zugewandt und mit dem Rücken zu ihnen, hielt er die Hände seitwärts in Schulterhöhe und begann nun wieder mit seinem eintönigen Gemurmel.
Als sie sich ihm näherten, unterbrach er sein Gemurmel nicht, erhob vielmehr seine Stimme, als wolle er ihnen drohen, und zwang sie so, zu warten, bis er nach einer ganzen Weile die Arme herunter nahm. Schweigend verharrte er noch einen Augenblick mit gesenktem Haupt und geschlossenen Augen, wandte sich ihnen dann zu, hoch aufgerichtet, abweisend eher und mürrisch.
„Seid ihr Rupert, der Einsiedler?“
„Was wollt ihr?“ Er veränderte seine Haltung nicht, stand vor ihnen in seinem einfachen, langen Gewand, welches seine Arme übermäßig lang und seine Hände besonders groß erscheinen ließ.
„Ich bin Therese Driesner, die Frau von Johannes Driesner, und ich brauche eure Hilfe.“
„Und wer ist das?“ Seine Augen wiesen kurz zu Moshe hinüber, der einige Schritt hinter ihr stehen geblieben war.
„Er hat mich aus Magdeburg herausgeholt und steht mir jetzt bei!“
Einen Augenblick ruhten seine großen, hellen Augen forschend auf ihrem Gesicht, „Was meint ihr mit: „aus Magdeburg herausgeholt“?“
„Magdeburg ist im Mai letzten Jahres von den Kaiserlichen gestürmt worden. Es ist fast vollständig niedergebrannt.“
„Magdeburg auch!“ Er stieß es hervor, fassungslos, und für einen Augenblick verschwand der Mund vollkommen in seinem Bart. „Und Johannes?“
Noch ehe sie antworten konnte, drohten ihre Augen überzulaufen, „Johannes ist in Magdeburg umgekommen.“
Er sah sie unverwandt an, sah dann herunter auf das Kreuz mit dem groben Lederband, dass sie ihm zögernd entgegenhielt. Die schmalen Lippen fest aufeinander gepresst, verschwand sein Mund wieder vollkommen im wüsten, grauen Bartgestrüpp, nickte er einen Atemzug lang sinnend vor sich hin.
Unversehens wechselte sein Blick zu Moshe, der ruhig hinter ihr stand, „Ihr seid Jude!“
„Vor Gott bin ich zuerst ein Mensch, wie ihr auch!“ Ruhig und bestimmt kam die Antwort, fand ihre Bestätigung im nachdenklichen Nicken des anderen.
Sein Blick kam zu ihr zurück, „Wie sollte ich euch helfen? Ich besitze nichts, und ich kenne niemanden, der euch statt meiner helfen könnte!“
Er war sicher einen ganzen Kopf größer als sie, und sie musste aufschauen, um in das lederne, von hellgrauem Haar und Bart umrahmte Gesicht schauen zu können.
„Johannes wollte, dass ich mit dem Kreuz zu euch gehe!“ sie hielt ihm das Kreuz wieder ein kleines Stück entgegen. Und wieder sah er mit zusammengepressten Lippen nur kurz darauf und dann zurück zu ihr.
„Er hat es mir auferlegt, während er starb!“ Ihre Augen liefen über, „Weil sonst alles umsonst gewesen sei, hat er mir gesagt. Ich weiß nicht, was er damit meinte.“
Alle Strenge war aus seinem schmalen Gesicht gewichen. Nachdenklich wechselte er aus ihrem Gesicht zum Kreuz, verharrte dort einen langen Augenblick, streckte dann seine große Hand aus, bittend. Behutsam nahm er ihr das Kreuz aus der geöffneten Hand, hielt es so am Lederriemen, als wolle er ihr etwas erklären.
„Johannes trug das Kreuz immer, es sollte ihn mahnen!“ Er sah sie an, aufmerksam, erklärend, „Das Kreuz hat eine Geschichte. Sie hat unser Leben absolut verändert.“ Er hob das Kreuz nahezu in Augenhöhe, betrachtete es sinnend, „Jetzt holt mich diese Geschichte wieder ein!“ Das Kreuz vorsichtig hochhaltend, als wäre es von unerhörtem Wert und leicht zu beschädigen, wandte er sich um, „Kommt!“
Er ging vor ihnen her, ging die wenigen Schritte auf die Felswand zu, oberhalb derer sie zuvor gestanden hatten. Von der warmen Nachmittagssonne beschienen, erhob sie sich vor ihnen in mehreren Abbrüchen und immer wieder von Gräsern und kleinen Sträuchern überwachsen. Am Fuß der Wand ein dicker Baumstamm, auf dem sie nebeneinander und mit der Wand im Rücken gut sitzen konnten. Direkt davor, breit und nicht höher als der Baumstamm, ein kantiger Felsbrocken. Die im Gegensatz zur Oberfläche bemoosten Seiten ließen darauf schließen, dass er schon vor langer Zeit aus der Wand gebrochen und nach unten gestürzt war. Eine Zeitlang saßen sie nur da, der eine vorgebeugt, die Arme auf dem Stein abgestützt, das Kreuz vor Augen, die anderen angelehnt, abwartend.
Wenige Schritte seitwärts von ihnen, umgeben von hohen Büschen und Beerenranken und angelehnt an die Wand, erkannte sie die einfache Behausung aus dickeren Stämmen, dazwischen geflochtenen Zweigen, Lehm, Moos und Blattwerk.
„Ihr wisst nicht, was es mit dem Kreuz auf sich hat?“ Unvermittelt durchbrach er die Stille, hielt das Kreuz etwas vor, so dass sie es gut sehen konnte.
„Nein, ich weiß gar nichts! Ich weiß nur das, was ich sehe!“
„Johannes hat die Mahnung des Kreuzes beherzigt, er hat nur noch gefochten, wenn es um seinen Kopf ging.“ In seiner Haltung musste er sich weit umwenden, um sie anzusehen, „Um Ostern war er noch hier.“ Er drehte sich noch ein Stück weiter zu ihr herum, saß jetzt seitwärts zu ihr, „Wisst ihr, dass er ein tüchtiger Marketender und Organisator war? Es gab kaum etwas, was er nicht besorgen konnte, auf anständige Weise!“ Er wandte sich wieder ab, sah einen Augenblick sinnend geradeaus, während seine Finger am glattgewetzten Holz des Kreuzes entlangfuhren. „Aber er verstand den Krieg als große Gelegenheit, als eine Zeit, in der die Karten neu gemischt würden. Und an dem Punkt waren wir verschiedener Meinung.“ Er drehte sich ein wenig zu ihr herum, so dass er sie gerade ansehen konnte, „Für mich war auch das Diebstahl, wenn man an sich nahm, was die zuvor umgekommenen oder geflohenen Besitzer zurückgelassen hatten. Für ihn bereinigte der Krieg so nebenbei nur das Unrecht, das andere zuvor begangen hatten! Er wollte jedenfalls als freier Mann zurückkommen.“
Er richtete sich auf, drehte sich ganz zu ihr herum, hielt ihr das Kreuz auf der geöffnete Hand entgegen: „Das Kreuz ist der Schlüssel zu allem, was er in den Jahren zusammengetragen hat. Ihr solltet diesen Schlüssel nur mit größter Vorsicht benutzen!“ Starr und zugleich vielsagend sah er sie an, und sie verstand.
„Er hat mich aus Magdeburg gerettet, und ich lebe seit bald zwei Jahren frei in seiner Familie, ohne dass diese Forderungen an mich gestellt hat. Ich vertraue ihm!“
„Johannes vertraute in dieser Sache niemandem! Es ist zu viel Geld, und es ist nicht die Zeit, um zu vertrauen!“
„Johannes konnte sich das leisten, ich bin aber eine Frau! Ich habe niemanden sonst, außer ihm und seiner Familie, und ich vertraue ihm wirklich!“
Er sah an ihr vorbei, sah hinüber zu Moshe, lange, ergründend und wandte sich dann entschlossen dem Kruzifix zu.
Behutsam angreifend drehte er das „INRI“, bis es dem senkrechten Holz folgte, hob dann Kreuz und Gekreuzigten so aus dem Metallrahmen, dass man endlich einen Dukaten zwischen Rahmen und Kreuz hindurch schieben konnte. Vorsichtig drehte er nun das Kreuz, bis der Querbalken parallel zum senkrechten Rahmenteil stand, wendete es ganz sachte und schob langsam die zuvor verriegelte Rückwand des Kreuzes zur Seite.
Atemlos hatte sie der Verwandlung zugesehen, reckte sich jetzt leicht vor, um in den sichtbar gewordenen Hohlraum sehen zu können.
Er sah auf, lächelte zum ersten Mal und hielt ihr das geöffnete Kreuz auf der Hand entgegen, „Ein Meisterstück! Es enthielt eine Reliquie.“ Er zog die Hand zurück, sah kurz in den Hohlraum hinein und blickte sich dann suchend um, bückte sich und klaubte einen dünnen Holzspan vom Boden. Mit diesem fuhr er in den Hohlraum, hob vorsichtig ein feines Pergamentröllchen heraus und legte es ihr ebenso vorsichtig auf die geöffnete Hand, „Nur festhalten! Noch nicht aufrollen!“ Sehr behutsam, geradezu ehrfürchtig legte er das Kreuz auf die rohe Steinplatte und nahm das Pergamentröllchen mit spitzen Fingern wieder an sich.
„Wisst ihr, wem das Kruzifix gehörte?“ Sie beobachtete, wie er das Röllchen vor den Mund hielt, so als wollte er hindurch pusten, und wie er seinen warmen, feuchten Atem dagegen hauchte.
„Ja!“ Er hauchte wieder. „Es gehörte dem Abt eines Klosters bei Stettin!“ Hauchen, „Das Kloster war überfallen und zerstört worden. Wir kamen damals zu spät.“ Er hauchte besonders lange. „Wenn wir es sofort aufmachen, wird es zerbrechen.“ Er hauchte noch einmal, rollte das Pergament behutsam auseinander und hielt es dann gegen das Licht: – 3. Lucia – Benedicta 1525 –
Sie konnte nicht lesen, erkannte aber die klar und deutlich geschriebenen Zahlen und Buchstaben. „Hat Johannes das geschrieben?“
„Ja! Das hat Johannes geschrieben!“ Der Anflug eines erkennenden Lächelns überzog sein Gesicht, „Könnt ihr lesen?“ Er schaute auf, wies dann mit dem Kinn auf das Geschriebene, „Die „3.“ kann ich mir noch nicht erklären, aber wir werden sehen. Lucia – Benedicta ist der Name eines Menschen, der 1525 gestorben ist!“
Ihr zugewandt, und nach einem schnellen Blick auf Moshe: „Johannes hat alles, was er im Laufe der Zeit zusammengetragen hat, auf dem Friedhof derer von Blankenburg in Sicherheit gebracht. Ein altes Rittergeschlecht. Haben hier ganz in der Nähe gehaust.“
„Auf einem Friedhof?“ Ungläubig sah sie zuerst auf das Pergament, dann zu ihm.
„Könnt ihr euch einen sichereren Ort vorstellen?“ Wissend, mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie an, sah zu Moshe.
„Wir sollten uns aufmachen, bevor es zu spät ist! Es ist nicht weit!“ Er schaute noch einmal auf das Pergament, rollte es und legte es vorsichtig zurück in den Hohlraum, fügte das Kruzifix wieder zusammen und gab es ihr zurück.
„Gehen wir!“ Geschmeidig stand er auf, ging einfach los. Folgte zielstrebig einem im hüfthohen Farn nicht erkennbaren Pfad am Grund der Senke, stieg dann, ohne den Schritt zu verlangsamen, einen Hügel hinauf und blieb endlich stehen. Keuchend und schwitzend stiegen sie auf ihn zu, folgten seinem ausgestreckten Arm, der den Hügel hinauf wies.
„Es ist gleich dort oben! Wartet hier noch einen Augenblick. Manchmal lagert dort Gesindel, und dem solltet ihr nicht unbedingt vor die Füße laufen.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten wandte er sich um, stieg weiter hügelan und war unversehens verschwunden.
Moshe warf ihr einen kurzen Blick zu, mit krauser Stirn, aus den Augenwinkeln, blickte dann sofort wieder zu der Stelle, wo der andere soeben verschwunden war, misstrauisch! „Mir traute er gar nicht, aber wir haben ihm alles anvertraut! Hoffentlich war das auch der richtige Rupert!“ Und einen Moment später: „Kommt, lasst uns mal langsam weiter nach oben steigen. Wir sind ja gewarnt und können selber aufpassen, aber ich möchte nicht dumm hereingelegt werden.“
Beunruhigt stieg sie hinter ihm her, keuchend: „Wenn ich noch nicht einmal einem Einsiedler vertrauen kann! Außerdem hat Johannes ihm ja auch vertraut!“
„Scheinbar ja nicht so ganz!“ Er blieb stehen, konzentrierte sich mit zusammengekniffenen Augen auf einen Bereich, der nur etwas höher und wenige Schritte vor ihnen lag. „Immerhin hat er ihm die genaue Lage des Verstecks nicht anvertraut.“ Er wies mit dem Kinn voraus, „Da vorn ist es!“
Seinem Blick folgend konnte sie zwischen Bäumen und Gesträuch grobes Mauerwerk erkennen, grün bemoost, teilweise wild überwuchert. „Da ist er verschwunden und noch nicht wieder aufgetaucht.“ Und schon nach einem kurzen Augenblick: „Ich gehe da jetzt rein und sehe nach ihm! Bleibt noch ein wenig und haltet Augen und Ohren auf.“ Die ganze Zeit über hatte er konzentriert zum Gemäuer hinüber gesehen, wandte seinen Blick auch jetzt nicht ab, sah sie nicht an, ging einfach entschieden los.
Einen Moment blieb sie verschnaufend stehen, sah hinter ihm her, sah hinüber zur Mauer, sah ihn entschlossen darauf zustapfen und setzte sich ebenso entschlossen in Bewegung: Zu allererst war es ihre Sache! Außerdem war ihr unbemerkt ein neuer Nerv gewachsen, dessen Empfindlichkeit sich jetzt zum ersten Mal bemerkbar machte: das Misstrauen! „Johannes vertraute in dieser Sache niemandem!“ Sie würde es zukünftig ebenso machen!
Vor ihr verschwand Moshe zwischen den Mauerresten, hatte sich nicht einmal umgedreht, hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihm dichtauf gefolgt war. Sie beeilte sich, wollte ihn nicht aus den Augen verlieren. Stieg direkt hinter dem Fragment einer Mauerecke mit beiden Armen balancierend über die bemoosten Reste der einstigen Burgmauer und sah ihn wieder vor sich. Ohne Hast bewegte er sich jetzt vorbei am eingestürzten Speicher und zwischen den überall herumliegenden Gesteinsbrocken auf das ehemalige Herrenhaus zu. Ein mächtiges, hohles Gemäuer, dessen nicht mehr ganz spitz zulaufenden Giebelwände auf die übrigen Mauerreste hinabschauten und in dessen tiefen Fensterhöhlungen sich gelber Löwenzahn, Stechpalmen und Kiefernschösslinge nach der Sonne reckten. Und vor dieser Ruine stand groß und hager, mit verschränkten Armen der Einsiedler, stand dort in einer Aura, als wäre er der Herr dieses morbiden Ortes.
Sie beeilte sich, Moshe noch einzuholen, kam nur wenige Schritte nach ihm an und hörte ihn fragen: „Nun?“
Der andere wartete einen Moment, bis sie ganz herangekommen war, sah mit einem angedeuteten Lächeln mehr zu ihr: „So hatte ich mir das gedacht, und das ist gut so!“ Mit einer andeutenden, flüchtigen Handbewegung wies er irgendwo und nirgends hin: „Wir haben das Gemäuer für uns allein! Machen wir uns an die Suche!“
Er wandte sich um, ging zielstrebig los. Mosche rührte sich einen Atemzug lang nicht von der Stelle, sah hinter ihm her, kopfschüttelnd, das Gesicht zornig knitternd.
Sie brauchten nicht lange zu suchen. Zwischen den wirr herumliegenden, von Gras überwachsenen Gesteinsbrocken war die planmäßige Anordnung der sieben Erhebungen leicht zu erkennen. Überwuchert von dichtem Efeu, von Holunder- und Faulbeersträuchern reihten sie sich entlang der Mauer, nur wenige Schritte seitwärts vom Herrenhaus.
Erwartungsvoll zwängten sie sich durchs Gesträuch, räumten Trümmer von der steinernen, flachen Oberfläche der Gräber, zerrten das Gras mitsamt den Wurzeln hoch, um endlich die Inschriften zu entziffern.
Da war im ersten Grab ein >Maximilian von Blankenburg< begraben worden, der Name verwittert, nur schwer zu entziffern, das Ritterwappen nur noch als mal vorhanden zu erkennen.
Im Grab daneben ruhte die >Frau Margarta<. Sie brauchten einige Zeit, bis sie den Namen mehr geraten als entziffert hatten, anderes war nicht zu erkennen.
Mühsam legten sie so Grabplatte für Grabplatte frei, und wussten endlich, das gesuchte Grab war an dieser Stelle nicht zu finden.
Noch einmal gingen sie um das Haus herum, suchten entlang der Mauer, entlang von Speicher und Stallungen, nichts!
„Seid ihr sicher, dass es ein Grab hier an der Burg ist?“
„Wo sollte es sonst sein?“
„Vielleicht auf einem Friedhof in der Nähe. Jedes Dorf braucht einen Friedhof.“ Moshe wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht, blickte fragend zum Einsiedler.
„Die Dörfer hier oben sind Friedhöfe, da lebt heute keiner mehr, aber Johannes ist hier an der Burg geblieben. Ich bin mir sicher!“ Er wandte sich um, betrachtete aufmerksam die nähere Umgebung außerhalb des Burgbereichs.
„Er hat immer gesagt „Ich gehe hoch zur Burg, muss was begraben!“ und war dann auch immer bald wieder zurück. Es ist hier! Aber vielleicht suchen wir an der falschen Stelle.“ und wie in Gedanken und an jemanden anders gerichtet: „Es wäre ja auch zu einfach!“
Sie folgten seinem Blick nach außen, sahen über die mit niedrigem Buschwerk und Gesträuch zugewachsene Fläche vor der Burg hinweg. Dahinter, gut hundert Schritte von ihnen entfernt, der Wald.
„Außerhalb?“
Er nickte ruhig, ging voran, stieg mit seinen bloßen Füßen über die bemoosten Steinquader hinweg, und hielt sich sogleich zielstrebig nach links, auf das Herrenhaus zu.
Moshe blieb unschlüssig stehen, sah über das vor ihm liegende Gelände hinweg, „Ihr scheint eine bestimmte Vorstellung zu haben!“
Der andere blieb stehen, drehte sich zu ihm herum, „Nur eine Vorstellung: Wenn wir die kurze Nachricht richtig verstanden haben, waren es nur drei Gräber. Man wird sie vom Haus aus sehen können. Hier am Burgtor würde ich sie nicht suchen!“ Er wandte sich um und ging entschlossen ausschreitend weiter.
Und während zu ihrer Linken die Mauer mit jedem Schritt in die Höhe wuchs, bald über Mannshöhe, fiel das Gelände auf der anderen Seite rasch ab. Schon nach wenigen Schritten versanken die Bäume unter ihnen, und sie konnten ins Land hinaussehen. Sahen unter sich im warmen Licht des späten Nachmittags den Wald und, in einiger Entfernung, mehrere Häuser und eine Kirche, klein wie Spielzeug. Auf schmalem, wohl nur noch drei Schritt breitem Weg näherten sie sich dem Haus, und Therese spürte deutlich, wie hinter ihr mit jedem Schritt der Widerwille und der Zorn Moshes anwuchs.
„Da vorn, das könnte es sein!“ Der Einsiedler sah sich zu ihnen um, wies weitergehend mit ausgestrecktem Arm wohl fünfzig Schritt voraus. Dorthin, wo die von Efeu überwucherte Mauer vor blauem Himmel endete. Ein schmaler Vorsprung schob sich dort ins Nichts. Schob sich wie eine von der Sonne warm beschienene Halbinsel aus blankem Fels ein ganzes Stück aus dem Abbruch hinaus. Im vorderen Teil des nur mit kniehohem Buschwerk bewachsenen Vorsprungs eine mächtige Kiefer. Zäh und tief hatte sie sich im Stein festgekrallt, hielt ihn vermutlich in gleichem Maße, wie er sie, und reckte ihre gebogenen Arme weit über den Abgrund hinaus.
Zunächst interessiert, betrachtete Moshe den Vorsprung mit jedem Schritt skeptischer, „Sieht eher aus, wie eine ideale Hinrichtungsstätte, wie ein Galgenort.“
Die schroffen Abbruchkanten des Vorsprungs musternd, registrierte Therese die Nähe zum Haus, „Wer will schon einen Halunken vor seinem Fenster baumeln sehen? Gräber könnten dort schon einen Sinn ergeben.“
Und offensichtlich gab es einen Sinn: Deutlich, und noch bevor sie den Vorsprung erreichten, konnten sie die drei gleichen Erhebungen erkennen. Dicht nebeneinander lagen sie im flachen Kraut und Gras direkt unter der Kiefer, vom Haus aus gut einzusehen.
Verdutzt standen sie dann einen Moment vor den kleinen Vierecken. Keine zwei Schritte lang und weniger als einen Schritt breit wirkten sie, wie verschlossene Kisten. Vergessen, in den Boden eingesunken und nur eine handbreit herausschauend.
„Kindergräber!“ Therese musterte die grauen Steinplatten, die jedes Grab bedeckten und deren Inschrift noch gut zu lesen war. „Alle drei Kinder sind im Jahr des Herrn 1525, im Mai gestorben!“ Sie sah auf, „Vielleicht war da auch Krieg.“ „Sieht mir eher nach Pest aus!“ Moshe wies mit dem Kopf über die Schulter zurück zur Burg. „Warum sollte man sie sonst hier draußen begraben?“
„Hier außen ist das Grab!“
Der Einsiedler beugte sich über das Grab auf der rechten Seite, wischte sorgfältig mit der flachen Hand über die Grabplatte, „LUCIA–BENEDICTA“, so hieß das arme Kind.“ Lächelnd sah er auf, vermied es Moshe anzusehen, „Wir haben es gefunden! Ein gutes Versteck!“
Er beugte sich wieder vor, tastete mit den Fingern unter dem Überstand der Steinplatte entlang nach einer Stelle, an der er gut angreifen konnte. Mit einiger Anstrengung hob er die Steinplatte an, löste sie ungehindert vom Untergrund und schob sie ein Stück zur Seite. Ein starker Geruch nach Pech entströmte der kleinen dreieckigen Öffnung. Der Einsiedler kniete nieder, versuchte unter der Öffnung etwas zu erkennen.
„Ich sehe nur schwarzen Grund, sieht wie Bretter aus!“ Aufstehend zu Moshe: „Lasst uns die Platte ganz abheben und aufs andere Grab hinüber schieben.“
Es waren tatsächlich Bretter. Roh und pechgetränkt lagen sie dicht nebeneinander, füllten den Innenraum des kleinen Vierecks aus, erinnerten an eine sorgfältig gefertigte Luke, unter der eine Holztreppe in die Tiefe führen könnte.
Der Einsiedler zog im Niederknien ein Messer aus seinem Gewandt, schob es zwischen Holz und Außenwand, hebelte so eines der ersten Bretter heraus, hob danach die nächsten Bretter einfach ab und sah vornübergebeugt in die schmale Öffnung, zunächst interessiert, dann ungläubig, reglos. Langsam, so als stemme er dabei ein schweres Gewicht in die Höhe, erhob er sich, sah sie einen Augenblick schweigend an, ernst.
„Wir haben es gefunden, und ich fürchte, da liegt genug, um alles Unheil der Welt auf sich zu ziehen!“
Sie hatte jede seiner Bewegungen mit Spannung verfolgt, sah ihn jetzt an, unsicher, während Moshe neben ihr niederkniete, in die Öffnung hineinlangte und einen prallen, schweren Lederbeutel heraushob. Beide sahen sie zu, wie Moshe den Lederriemen löste, den Beutel ganz öffnete, vorsichtig hineingriff, zwei Münzen heraushob und sie aufmerksam betrachtete.
„Florentiner!“ Ohne den Blick von den Münzen abzuwenden, hob er sie auf der flachen Hand hoch, „Wertvoller geht’s nicht!“ Er sah sie kurz an, sah dann hinunter in die Öffnung, aus der er den Beutel hervorgehoben hatte, ohne die Hand herunter zu nehmen. „Da liegen noch mindestens drei Beutel. Wenn die alle das Gleiche enthalten …!“ Er nahm die Hand herunter, ließ die Geldstücke zurück in den Beutel fallen, verschloss ihn wieder und wandte sich dann erneut der Öffnung zu. Nacheinander hob er ein Brett nach dem anderen ab und setzte sich dann kopfschüttelnd auf seine Fersen zurück.
„Warum hat der Mann nur weiterhin seinen Kopf hingehalten? Das ist mehr, als man in einem Leben erwirtschaften kann!“
Weil er es aussprach, pflichtete sie ihm still bei, sah jedoch schweigend und fassungslos auf drei Tongefäße herunter, die einen Großteil der Öffnung ausfüllten. Tief in den Boden eingelassen, sahen sie nur mit dem gewölbten Rand heraus und waren bis zu diesem mit den Beuteln gefüllt, das heißt, im dritten Gefäß fehlte noch die obere Schicht von drei Beuteln. Sie wandte den Kopf, blickte direkt in das Gesicht des Einsiedlers, der sie offenbar mit fest zusammengepressten Lippen beobachtet hatte, besorgt, ratlos, „Wofür braucht man so viel Geld?“
Was sollte sie antworten? Sie schwieg, nachdenklich. Unsicher dann: „Ihr habt es selbst gesagt, Johannes wollte nicht mehr abhängig sein, wollte frei sein.“
Er zog die Lippen nach unten, geringschätzig, zuckte mit den Schultern, „Ich habe kein Geld, gar nichts! Und ich bin nicht weniger frei, als die Tiere des Waldes. Um frei zu sein braucht man besser kein Geld.“
„Aber es kann auch nicht jeder so leben wie ihr!“ Moshe sagte es bestimmt, mit einem unüberhörbar ärgerlichen Unterton und erhob sich dabei aus seiner knienden Haltung. „Ich denke nur darüber nach, wie wir solch eine Menge hier unauffällig wegtransportieren wollen.“ Er sah zurück zur Burg, überflog rasch die Umgebung.
Der andere neben ihm folgte seinem Blick, nickte ruhig, „Mit solch einer Menge Geld im Rücken wollte ich nicht übers Land fahren. Ich hätte ständig Sorge, es würde die Halunken anlocken wie Schmeißfliegen.“
Moshe sah ihn gerade heraus an, verstand nicht, „Wie sollte es das? Ist doch nichts anderes, als hätte ich Stroh oder Rüben auf dem Wagen, sie wissen es doch nicht, dass ich da irgendwo Geld auf dem Wagen habe!“
„So richtig eingefleischte Halunken können Geld vielleicht riechen, oder sie haben ein Gespür! Ich würde mir das jedenfalls so vorstellen.“
Moshe zog grinsend die Mundwinkel nach unten, schüttelte den Kopf, „Wenn das so wäre, dann brauchten diese armseligen Hungerleider ja nicht immer wieder ihren Kopf für ein paar Groschen riskieren. Sie wären in der Mehrzahl längst reich. Geld ist genug unterwegs! Sie erkennen es eben nicht!“…