Читать книгу Mit der Wut des Überlebens - Lars Gelting - Страница 8

3. Teil Die Geldanlage – keine Geschäfte für Frauen?

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Eigentlich hatte der Tag vielversprechend begonnen. Sie waren zeitig an der Herberge losgekommen, es war ein schöner Frühlingstag, die alte Handelsstraße von Leipzig nach Magdeburg war also trocken und so kamen sie zügig voran.

Überhaupt war alles schneller und einfacher gegangen, als es nach dem Gespräch mit Izaak und später mit Batya anzunehmen war.

Schon zwei Tage später stellte ihr Moshe so ganz nebenbei Ulrich Wandecki vor. Einen vornehmen jungen Mann etwa im Alter von Batya, aber zu ihm musste sie aufschauen, wollte sie ihn beim Reden ansehen. Ulrich Wandecki war groß, stattlich, sein Gesicht war bartlos, eher kantig mit einem ausdrucksstarken Mund, einer kräftigen Nase und einem eckigen Grübchenkinn. Gekleidet war er wie die meisten vornehmen Kaufleute, die sie in diesem Hause gesehen hatte, und die es sich offensichtlich leisten konnten, ihre Kleidung in einem gewünschten Stil passend nähen zu lassen. Obwohl eigentlich noch jung an Jahren, vermittelte er den Eindruck großer innerer Sicherheit und Ruhe.

Ulrich habe ihm dabei geholfen, sie aus Magdeburg heraus zu bringen, er sei der zweite Mann gewesen. Sie konnte sich nicht erinnern, wusste noch, dass es zwei Männer waren, die sie über die Trümmerhaufen zogen und schoben. Alles andere, die stattliche Größe etwa oder diese beruhigende, tiefe Stimme Ulrich Wandeckis, all dies hatte sie gar nicht wahrgenommen.

Ulrichs Vater hat unser Geschäft in Magdeburg geführt, vor dem Brand. Ulrich kennt unsere Kunden dort und soll im Frühjahr hinüberfahren. Vielleicht ergibt sich ja eine Gelegenheit, euer Geld dort sicher anzulegen.“

Überlegend sah sie von einem zum anderen. Ulrich Wandecki war also über das ihr plötzlich zugewachsene Vermögen informiert.

Ihr könnt Ulrich vertrauen! Er hat für uns schon andere Geldsummen sicher verhandelt und transportiert.“ Moshe nickte ihr aufmunternd zu und sie entschloss sich, das Spiel mitzuspielen.

Und so war sie jetzt unterwegs mit Ulrich Wandecki, an den sie keine Erinnerung hatte, der ihr fremd war, dem sie merkwürdigerweise dennoch vertraute.

Aber nun standen sie! Ulrich Wandecki hatte den Wagen unvermittelt angehalten, und zwischen Bäumen und Buschwerk eines kleinen Wäldchens standen sie wie verloren mitten auf der Straße.

Ihr Begleiter wies mit ausgestrecktem Arm voraus: Magdeburg!

Von einer kleinen Anhöhe sahen sie schweigend auf das herab, was Magdeburg hieß und was von der einstigen Perle des Reiches übrig geblieben war: ein nicht zu überschauendes Ruinen- und Trümmerfeld.

An vielen Stellen sah es so aus, als stauten sich hinter der Stadtmauer die Reste der Zerstörung, würden so daran gehindert, in den vorbeifließenden Fluss oder in die Landschaft hinauszurollen. Kein Haus schien mehr ganz, allerorten ragte auch jetzt und immer noch schwarzes, verkohltes Gebälk aus dem Schutt hervor.

Aufgewühlt und ohne es zu bemerken führte sie beide Hände vor das Gesicht, legte sie vor Mund und Nase. Sorgsam Verdrängtes wurde jäh lebendig, alles sah sie wieder vor sich, die Wütenden und die vielen Toten, Feuer, Rauch, zusammenstürzende Häuser, den Staub, die Ausweglosigkeit alleine zwischen den Trümmern, den totwunden Johannes. Weiter links von ihrem Standort erkannte sie die Anhöhe, von der aus sie damals zusammen mit den anderen Frauen zur Stadt hinunter gelaufen war. Erkannte die Brücke, unter der heute wie damals der Fluss dunkel und ruhig dahin strömte. Nur, jetzt herrschte Stille: Totenstille!

Ich glaube, ich kann da nicht rein!“ Ohne die Hände herunter zu nehmen, wandte sie sich um, „Ich habe alles wieder vor Augen!“

Brauchen wir auch nicht!“ Ulrich sah sie an, ruhig, verstehend. „Die Händler kommen zu uns in die Herberge. Das ist so üblich!“

Sie nahm langsam ihre Hände herunter, sah wieder zur Stadt hinüber,

Wie sind wir da nur herausgekommen? Ich kann mich an alles erinnern bis zu dem Punkt, wo ihr mich in einen dunklen Raum geschoben habt. Mehr weiß ich nicht mehr!“

Er beugte sich leicht zu ihr herüber, wies mit dem ausgestreckten Arm voraus, „Dort drüben, die Holzbrücke über dem Fluss, die zum Haupttor der Stadt führt! Rechts von der Brücke seht ihr die größere Kirche mit den zwei Türmen.“ Sie folgte seinem Arm, erkannte das große Gemäuer, dass sich über die niedrigen Trümmerhaufen erhob wie eine riesige Schachtel ohne Deckel. An der ihnen abgewandten Seite ragten zwei Türme wie abgebrochene Zähne über das Gemäuer hinaus.

Das ist die Johanniskirche: ausgebrannt! Auf dieser Seite der Kirche gibt es eine Gruft, in der wir damals gewartet haben, bis der Brand und das Rennen draußen vorbei war. Ihr habt solange geschlafen, zwei Tage lang. Und dann mussten wir euch noch wecken! Nachts sind wir über den Fluss und dann diese Straße entlang gelaufen, einen ganzen Tag und eine Nacht.“

Er stieß die Luft durch die Nase aus, lehnte sich schweigend zurück. „Wir hatten Glück! Die meisten anderen hatten das nicht!“

Die Herberge lag nicht weit von ihrem Weg entfernt direkt am Fluss, war einfach und ordentlich, die Wirtsleute freundlich, aber schweigsam.

Ohne besonderen Hinweis gab ihnen der Wirt zwei Kammern, die klein, zweckmäßig eingerichtet und durch eine Tür miteinander verbunden waren.

Ihr wart schon mal hier?“ Sie fragte ohne aufzusehen, schob ihr Bündel mit dem Fuß in die Kammer.

Nein, aber die Herberge hat einen guten Ruf. Seid unbesorgt!“

Sie schloss die Tür, blieb einen Augenblick stehen und musterte die Kammer. „Immerhin hat er uns ohne nachzufragen diese Kammern mit dem Durchgang überlassen.“

Hm, der Mann hat so seine Erfahrungen und wartet gar nicht mehr darauf, dass man ihn belügt!“ Ulrich stand leicht vorgebeugt im zu niedrigen Türrahmen, beobachtete schmunzelnd wie sie ihr Bündel zwischen Truhe und Tür an die Wand schob.

Vielleicht solltet ihr mir dann lieber helfen, die Truhe vor die Tür zu schieben.“ sie wandte sich ihm zu, die Augenbrauen hochgezogen.

Das Schmunzeln wurde zum schelmischen Lächeln, „Warum sollte ich so etwas tun?“

Ruhig richtete sie sich auf, sah ihn an, ernst, forschend.

Besänftigend hob er beide Hände, „Nein! Ich habe ja gesagt, seid unbesorgt! Ihr habt mein Wort!“ Bestätigend und wie zur Beruhigung nickte er ihr zu, „Könnt ihr schreiben?“

Ein wenig!“

Wir wollen sehen, ob es reicht. Kommt!“ Er drehte sich herum ging in seine Kammer hinüber.

Wozu soll ich schreiben? Ich denke ihr verhandelt!“ Über ihr Bündel gebeugt verharrte sie, die Stirn gerunzelt, wartete auf seine Antwort, sah auf, als er wieder in der Türfüllung erschien, diese komplett ausfüllte.

Anders geht es zunächst auch gar nicht! Die Händler werden nicht mit euch verhandeln!“ Er sah sie ernst an, hielt ihr aufzählend zunächst den kräftigen Daumen hin, „Ihr seid eine Frau, und in diesem Geschäft gibt es keine Frauen – soweit ich weiß! Außerdem:“ er entfaltete seinen wohlgeformten Zeigefinger, „Ihr seid keine Jüdin! Als Christin dürft ihr also, wenn man es genau nimmt, kein Geld gegen Zins verleihen. Wenn sich ein Händler hierauf beruft ...!“ Einen Moment lang sah er sie mit großen Augen an, sah dann wieder zur Hand, um dort den dritten Finger zu entfalten. „Die Händler, mit denen wir es hier vornehmlich zu haben werden, arbeiten, solange ich denken kann, mit meinem Vater zusammen. Sie wissen, woher das Geld kommt und sie kennen mich und werden deshalb mit mir handeln wollen. So ist das!“

So ist das! Seine ruhige, dunkle Stimme schloss das Gesagte ab, als wäre es unumstößlich!

Hm!“ Mit einem Ruck öffnete sie die Verschnürung ihres Bündels, „Wo ist euer Vater jetzt?“

In Dresden! Eigentlich sollte ich dorthin und er sollte seine Kunden in Magdeburg weiter bedienen. Aber dieser Überfall hier hat ihm ganz schön zugesetzt, er wollte nicht mehr!“

Verstehe ich nur zu gut! Und warum soll ich jetzt etwas schreiben, wenn ihr verhandelt?“ Sie richtete sich vollends auf, krauste die Stirn.

Es muss doch einen Grund geben, weshalb ihr bei den Verhandlungen anwesend seid. Wenn um viel Geld verhandelt wird, duldet niemand überflüssige Zeugen! Ich werde also morgen früh zwar verhandeln, aber ich werde nicht schreiben können und benötige deshalb eure Hilfe!“

Verstehe! Schreibe ich jedes Wort mit?“

Nur die Ergebnisse, nicht jedes Wort! Aber das müssen wir heute Abend noch lernen!“

Und sie lernte! Bis spät in die Nacht saßen sie bei Kerzenlicht, übten wieder und wieder die Methode des Aufschreibens. Izaak hatte hierzu ein ganz einfaches graphisches Schema entwickelt, bei dem alle wichtigen Vertragsdaten wie etwa die Namen, die Kreditsumme, der Zinssatz, die Laufzeit und die zurück zu zahlende Summe in einem Dreieckgebilde erfasst wurden.

Das Ganze war übersichtlich und auch für jemanden eindeutig, der nicht besonders gut schreiben konnte und wurde am Ende von den Verhandlungspartnern unterschrieben.

Alles dies und das Schreiben von Zahlen in den unterschiedlichen Bereichen übten sie wieder und wieder und noch einmal mit immer neuen Beispielen.

Irgendwann legte sie die Feder vorsichtig nieder, legte beide Unterarme auf dem Tisch ab und schloss für einen Augenblick die Augen, „Ulrich, ich muss aufhören. Mein Kopf ist voll!“

Es blieb still im Raum.

Und als sie bemerkte, dass er sie ruhig und nachdenklich betrachtete, sah sie ihn direkt an, sah, dass er hellblaue, im Kerzenlicht glänzende Augen hatte, genoss für einen Augenblick diese kribbelnde Stille. Sie wandte sich ab, erhob sich, „Du hast mich geschafft! Ich bin todmüde.“

Er griff nach ihrer Hand, „Bleib noch!“

Es geht nicht, Ulrich! Es geht noch nicht!“ Sie sah ihn nicht an, sah zu Boden, ging in ihre Kammer hinüber und schloss die Tür.

Am nächsten Morgen waren sie früh auf. Ulrich schien wirklich verletzt zu sein, trug seinen rechten Arm in einer Schlinge unter dem Wams, wobei der rechte Ärmel überflüssig und gut sichtbar herabbaumelte.

Sie ließen sich vom Wirt ein deftiges Frühstück bringen, beantworteten dessen Fragen nach der plötzlichen Verletzung ausweichend und schlenderten dann hinunter zum Fluss. Der Fußweg endete direkt am Wasser. Ein Ruderboot lag dort halb auf der Seite, war so weit aufs Land gezogen worden, dass nur noch der hintere Teil ins Wasser ragte. Einen Augenblick standen sie still, sahen hinüber zur Stadt.

Dieser ganze Tag, damals: Bis heute ist er mir unwirklich geblieben. Von allen Seiten donnerte es und krachte es, überall wurde geschossen. Alle um einen herum brüllten, schrien oder jammerten. Vermutlich habe ich auch geschrien; ich weiß es nicht mehr. Und dann das Feuer, das Heulen und Knistern und dann das Krachen, wenn die Häuser zusammenbrachen.“ Sie hatte die Schultern hochgezogen, die Arme vor der Brust her gelegt, zog sich zusammen. „Und jetzt ist es so still, nirgendwo ein Mensch zu hören oder zu sehen.“ Sie blickte hinüber zur Anhöhe, von der aus damals die Kanonen unentwegt in die Stadt schossen.

Einen kurzen Moment sah er sie schweigend von der Seite an, nachdenklich, interessiert, wandte sich dann um, „Kommt! Wir müssen wieder hoch!“

Und dann kam es, wie Ulrich es vorausgesehen hatte: Aufgeräumt und unternehmungslustig traf schon bald nach ihnen der erste Händler in der Herberge ein. Ebenso vornehm gekleidet, etwas kleiner als Ulrich und wohl mit der doppelten Lebenszeit gesegnet, begrüßte er diesen mit offensichtlich echter Freude und zeigte sich dann besorgt über Ulrichs Armverletzung. Immer noch stehend erkundigte er sich nach Ulrichs Vater, nach dessen Ergehen. Hatte Verständnis dafür, dass dieser eher nach Dresden gezogen war, als noch einmal nach Magdeburg zurückzukehren.

Als er sich endlich vorbeugte, um den Sitzhocker unter dem Tisch hervor zu ziehen, fiel sein Blick auf Therese, auf Papier, Feder und Tinte, die arbeitsbereit vor ihr lagen. Alle Heiterkeit verschwand aus seinem eher hageren Gesicht, als würde sie unter die Haut gesogen, würde im Bart um Mund und Kinn versickern. Statt ihrer stellte sich ablehnendes Erstaunen ein.

Er sah über den Tisch zu Ulrich hinüber, ließ den Hocker wo er war, richtete sich auf, „Eine Frau am Verhandlungstisch? Was soll das, Ulrich?“

Sie muss für mich das Schreiben übernehmen und ich bin froh, dass sie mitgekommen ist. Moshe Goldberg hat sie mir empfohlen. Ihr könnt ihr also vertrauen!“

Einer Frau in Gelddingen vertrauen?“ Sein Gesicht bekam einen überheblichen, spöttisch-mitleidigen Ausdruck, „Ulrich, du bist noch sehr naiv!“ Er beugte sich leicht über den Tisch, belehrend: „Dein Vater hätte eher mit den Füßen geschrieben, als dass er einer Frau die Anwesenheit am Tisch erlaubt hätte.“ Er richtete sich ganz auf, „Wenn du mit mir verhandeln willst, komme morgen in mein Haus. Wir finden dort einen Weg, ohne dass sie mitschreibt. Wenn du das nicht möchtest, suche ich mir einen anderen Geldverleiher. Also.“ Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen wandte er sich um und verließ den Raum, so als würde er von einer Bühne abtreten.

Ulrich sah einen Atemzug lang hinter ihm her, blickte dann zu ihr, die Augenbrauen hoch, die Mundwinkel herabgezogen, „Ich habe es geahnt! Der Wolferding weiß, was er wert ist. Das war schon immer ein harter Brocken!“ Er setzte sich auf seinen Hocker, wollte beide Arme auf den Tisch legen und erinnerte sich dann unwillig an seinen festgebundenen Arm.

Wer ist dieser Wolferding?“

Ein Silberschmied und Büchsenmacher hier aus Magdeburg.“ Einen Augenblick sah er sie nachdenklich an, beugte sich dann leicht zu ihr herüber.

Seitdem Krieg herrscht, hat er sich auf die Beschaffung von Waffen spezialisiert und macht riesige Geschäfte. Zur Vorfinanzierung braucht er immer wieder Geld, große Mengen mit Risiko Zuschlägen und kurzen Laufzeiten. Für uns ist er wichtig!“

Das scheint er zu wissen.“

Natürlich! Deshalb kann er auch so auftreten, und deshalb werde ich morgen auch zu ihm müssen. So ist das eben!“ Er hielt inne, legte den Kopf schräg, um so besser in Richtung Tür hören zu können. Durch die geöffnete Tür drangen Geräusche herein, die sonst nicht da waren, Rufen, Johlen, Kindergeschrei, dazwischen das gleichmäßige, dumpfe Schlagen, mit dem Pflöcke in die Erde getrieben werden.

Therese kannte diese Geräusche nur zu genau, wusste, was sie bedeuteten und ging rasch zum Eingang, um hinaus zu sehen.

Oben auf dem breiten Absatz, von dem aus damals die Kanonen Schuss auf Schuss in die Stadt abfeuerten, entfaltete sich buntes Leben scheinbar aus dem Nichts, und das mit rasender Geschwindigkeit. Noch vor wenigen Minuten war der Absatz leer, war es dort still gewesen. Jetzt rollte es wie Wellen von der Seite heran. Planwagen auf Planwagen bezog seinen Platz auf dem Absatz, Kinder sprangen heraus, wuselten schreiend zwischen den Wagen herum, Pferde wurden angepflockt, Zeltplanen aufgespannt. Nur zu gut kannte sie diese Vorgänge, wusste, dass jeden Moment die ersten Rauchsäulen der unvermeidlichen Lagerfeuer aufsteigen würden.

Ihr solltet euer Pferd zu meinem in den Stall stellen. Ist zwar eng, aber es wird schon gehen.“ Sie hatte den Wirt nicht bemerkt, der, die kräftigen Arme vor der Brust verschränkt, jetzt neben ihr stand.

Sie sah ihn von der Seite an, wie er mit finsterer Miene das Treiben auf dem Absatz beobachtete. „Ihr habt eure Erfahrung mit den Leuten gemacht?“

Das sind keine Leute, das ist Gesindel! Wir werden Ärger mit denen bekommen!“ Er nahm die Arme herunter, wandte sich entschlossen ab.

Das ist wirklich schlecht!“ Ulrich stand hinter ihr, sah mit fest zusammengepressten Lippen und hochgezogenen Augenbrauen hinüber. „So lange die dort sind, wird kaum ein Händler zu uns herüber kommen.“

Sie drehte sich um, sah ihn kurz an, nachdenklich, sah wieder nach oben und suchte nach Worten, um Partei für „die da oben“ zu ergreifen und verstand plötzlich: Sie verspürte eine brennende Wehmut, wünschte sich, Zita, Margret und Mikola wiederzusehen. Aber das war es dann auch! Das Leben im Lager war schon damals nicht ihr Leben gewesen. Jetzt war dieses Leben so weit von ihr weg, wie es das gerade war, war Vergangenheit. Sie hatte noch einmal Glück gehabt!

Und dann wagte sich doch ein Händler zu ihnen herüber.

Sie saßen schon eine ganze Weile auf der schmalen Bank vor der Tür, lehnten in der warmen Sonne an der Hauswand, und beobachteten ohne besonderes Interesse das Treiben oben am Wald. Ulrich war gerade drauf und dran, den Arm unter dem warmen Wams loszubinden und ordnungsgemäß durch den Ärmel zu stecken, als er abrupt innehielt, „Ich denke, der will zu uns!“ Er ließ den Arm wie und wo er war, zupfte sein Wams wieder zurecht, setzte sich aufrecht und beobachtete aufmerksam einen dunklen Wagen, der in ruhigem Schritttempo herankam.

Der Wagen fuhr an ihnen vorbei und hielt dann neben dem Haus, wo er im Schatten einiger großer Erlen stehen konnte.

Ah, das kann lustig werden!“ Ulrich sah sie grinsend, mit hoch gezogenen Augenbrauen von der Seite an, während er sich erhob. „Das ist der Eberlein! Ein Energiebündel! Aber der wird uns nicht einfach abhauen, kommt aus Quedlinburg rüber.“

Der Händler Eberlein war ein kleiner Mann, gerade in der zweiten Lebenshälfte, klein und von konsequenter Rundheit. Sein Kopf, im Verhältnis zum Körper eher groß, zeigte die vollende Rundung eines Balles, die nur von einem dunklen, krausen Haarkranz am Hinterkopf unterbrochen wurde. Die Inkonsequenz eines Halses leistete sich Herr Eberlein nicht, dafür ruhte sein Kopf auf einem mächtigen Leib. Selbst die Beine ließen in ihrer Kürze eine logische Weiterführung der obigen Formen vermuten.

Ganz offensichtlich steckte aber in diesem Körper eine unverwüstliche Vitalität: Sie hatten mit wenigen Schritten die Hausecke erreicht, und der Wagen konnte nach stundenlanger, holperiger Fahrt gerade erst angehalten haben, er aber kam ihnen schon mit kurzen, raschen und energischen Schritten entgegen.

Ulrich, mein Lieber! Gut, dass es in diesen Zeiten noch Menschen gibt, auf die man sich verlassen kann! Schön dich zu sehen!“ Damit war er bei ihnen, hatte mit seinen kleinen Schweineaugen die Gesamtsituation schon erfasst. „Was ist mit deinem Arm?“ Er schob das Kinn weisend vor, warf dann einen schelmischen Blick zu ihr, „Hast es wohl zu toll getrieben!“

Ulrich wollte auf den Scherz eingehen, grinste, kam aber gar nicht erst zu Wort.

Deinem Vater geht es doch gut, oder? Ich war sicher, ihn hier zu treffen.“ Bei diesen Worten war er weiter gegangen, steuerte zielstrebig auf den Eingang zu. Und ehe Ulrich die Frage beantworten konnte, stand er schon im Haus, sah sich suchend um, „Wo sitzen wir?“

Ulrich ging wortlos an ihm vorbei, zog den Hocker hervor, der dem quirligen Menschen zugedacht war, ging dann um den Tisch herum zu seinem Platz, während Therese hinter ihren Papieren, hinter Feder und Tinte Platz nahm.

Eberlein sah sie, immer noch stehend, einen Augenblick an, nicht ablehnend, eher interessiert und mit einer Spur Hochmut, „Du übertreibst, Ulrich!“ Er sah Ulrich direkt an, „Alles zu seiner Zeit! An diesem Tisch hat eine Frau jedenfalls nichts zu suchen!“

Ulrich beugte sich vor, stützte sich auf den freien Arm ab, so als wolle er dem anderen etwas anvertrauen, „Würde es euch etwas ausmachen, wenn das Geld für den Kredit, den ihr benötigt, von einer Frau käme?“

Der andere verharrte eine winzigen Augenblick, warf ihr einen schnellen, aber hochkonzentrierten Blick aus den Augenwinkeln zu, „Woher das Geld kommt, ist mir egal! Wichtig sind die Bedingungen,“ und jetzt lehnte er sich, soweit es seine Rundungen zuließen, bedeutungsvoll über den Tisch, „die wir beiden aushandeln! Mit einer Frau werde ich nicht verhandeln!

So sei es!“ Verbindlich, aber ohne jede erkennbare Gefühlsregung ging Ulrich auf die humorvolle Art des anderen ein. Therese wusste um Ulrichs Triumph, hatte soeben die erste Lektion gelernt.

Ulrich sah kurz am Eberlein vorbei, nickte dem Wirt zu, bemerkte dabei, dass jemand den Raum betreten und sich auf der Bank direkt neben der Tür niedergelassen hatte. Sie würden leiser sprechen müssen.

Der weitere Verlauf entsprach deutlich einem eingefahrenen Ritual: Die beiden Männer saßen sich gegenüber, plauderten über dies und das, berichteten sich über Neuigkeiten aus unterschiedlichen Regionen des Reiches. Geschäftliches spielte offenbar keine Rolle. Und die Frau an ihrem Tisch auch nicht. Sie war einfach nicht da!

Das galt dann auch für das vom Wirt aufgetragene Mahl, Sauerfleisch und Brot! Mit wässrigem Mund und wachsender Wut musste sie den beiden beim Essen und Palavern zusehen. Ging es hier nicht um ihr Geld? Sie presste die Lippen zusammen, wandte sich ab, begegnete dem beobachtenden Blick des Fremden neben der Tür und stand auf. Sie musste raus aus diesem Raum.

Und während sie sich rasch vom Tisch entfernte, nahm sie das Innehalten der beiden durchaus wahr, das kurze Aussetzen des genüsslichen Kauens, Schmatzens und miteinander Redens. Sie war wieder aus der ihr zugedachten Rolle ausgebrochen, und die beiden hatten´s gemerkt. Gut so!

Draußen drängte sich ihr übergangslos das lärmende Treiben auf, mit dem sich das Lager oben auf dem Absatz immer noch ausweitete. Sie wandte sich zum Fluss, schlenderte den schmalen Fußweg hinunter, war gallig bis unter die Haarwurzeln. Mit Geld oder ohne Geld: Für diese Kerle zählte sie einfach nicht! Gebrauch nach Bedarf! Ulrichs Bitte gestern Abend: Sie war nahe dran gewesen. Und jetzt das!

Der Fluss zog träge an ihr vorbei, lenkte ihren Blick hinüber zur aufgebrochenen Stadtmauer, ließ sie einen Augenblick sinnen. Jetzt verhandelten diese Männer über ihr Geld, vollkommen ungeniert!

Die Lippen zornig aufeinander gepresst, trat sie gegen einen hochstehenden Grasbüschel, kreuzte die Arme vor der Brust. Geld! Geld für Mann! Ein schlechter Tausch! Sie würde das Geld nie so verwerten können, wie sie es wollte! Die würden sie immer abhängig halten. Sie stierte ins graue, ruhig quirlende Wasser. Wie Ulrich schon sagte, „In diesem Geschäft gibt es keine Frauen!“ Und es war ihr nur zu klar, dass niemand von diesen Männern etwas daran ändern wollte. Nur Männer verhandelten! Sie hob ihre Augen abrupt aus dem Wasser, sah zur Mauer hinüber. Dann brauchte sie eben einen Mann für´s Geld. Ulrich! Ihre Augen verengten sich: Ulrich! Sollte er ruhig verhandeln, aber die Bedingungen würde sie in Zukunft festlegen.

Was hatte dieser eingebildete Eberlein noch gesagt: Woher das Geld kommt, ist mir egal. Die Bedingungen müssen stimmen! Und das hatte sie in der Hand – wenn sie Ulrich in der Hand hatte!

Zufrieden und ein wenig hintergründig lächelnd setzte sie sich auf den Bootsrand. Die beiden waren garantiert noch am Essen, geduldig zusehen würde sie ihnen dabei nicht! Aber es interessierte sie jetzt schon, zu welchen Bedingungen Ulrich ihr Geld verlieh, sicher verlieh!

Sie ließ sich Zeit, folgte sinnend dem gleichmäßigen Strömen des Wassers, vermied es, zur Stadt hinüber zu sehen.

Was waren diese Männer nur borniert! Sie hatte das Geld, aber verhandeln wollten sie nicht mit ihr. Ein Mann musste es sein, der ihnen gegenübersaß! Dass dieser vielleicht in ihrem Auftrag und mit ihrem Geld verhandelte, spielte keine Rolle, wenn nur die Augen, in die sie beim Verhandeln blickten, einem Mann gehörten. Ein spöttisches, leicht hochmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, sie drückte sich vom Bootsrand hoch.

Als sie sich endlich wieder an ihren Platz setzte, nahmen die beiden von ihrer Rückkehr nur insofern Kenntnis, wie man eben auf eine Bewegung reagiert, die sich am Rande des eigenen Sichtfeldes ereignet. Im nächsten Moment aber sah Ulrich noch einmal zu ihr hinüber, ganz kurz nur, interessiert, forschend, nachdenklich. Es hatte sich etwas geändert, und er hatte es bemerkt.

Gleichzeitig bemerkte sie die Veränderung, die sich am Tisch vollzogen hatte. Der Teil des Rituals, in dem Freundlichkeiten ausgetauscht wurden, war deutlich vorbei. In diesem Teil kreuzten die beiden hochwachsam ihre Klingen. Fochten mit allen Mitteln, um dem anderen ihren eigenen Vorteil abzutrotzen.

Eberlein saß wohlgesättigt, mit hochrotem Kopf, leicht nach hinten gelehnt in seinem Stuhl und redete. Er war nicht der Mann, der lange Umwege machte oder um etwas bat. Er forderte kurzerhand die „bescheidene Summe“ von zweitausendsiebenhundert Gulden. Grundlage seiner Rechnung war, dass selbstverständlich die gleichen Kreditbedingungen galten, wie sie bei früheren Krediten zwischen ihm und Ulrichs Vater ausgehandelt worden waren: „Fünf vom Hundert aufs Jahr!“

Ulrich verzog keine Miene, sah ihn nachdenklich an, nickte dann wie zustimmend vor sich hin.

Euer letzter Kredit über viertausendfünfhundert Gulden kostete euch ‚sieben vom Hundert‘ aufs Jahr.“

Ihr verwahrt die Verträge?“ Eberlein legte seinen Kopf leicht schräg, hatte die kleinen Augen in gespielter Empörung weit aufgerissen.

Alle!“

Ulrichs Gelassenheit begann den anderen zu reizen. Einen Moment rutschte er auf seinem Stuhl herum, ruckte dann vor, fuhr ungeduldig mit der Hand durch die Luft:

Das ist ja Schnickschnack! Die Verträge der letzten Jahre hervorzukramen! Wer da gestorben ist, wird auch nicht mehr lebendig. Also macht mir jetzt ein vernünftiges Angebot, so wie euer Vater es gemacht hätte, und wir sind uns einig!“

Mein Vater ist ein vorsichtiger Mann! Er hätte euch zweitausendsiebenhundert Gulden zu ‚sieben vom Hundert‘ angeboten, wenn ihr ...“ Eberleins Kopf ruckte in den Nacken, der Mund öffnete sich wie in drohendem Abwarten, „...für diese Summe ein entsprechendes Pfand leisten könntet.“

Seid ihr noch ganz bei Trost?“ Der kleine, dicke Mann schien beinahe die Fassung zu verlieren, ruckte vor, soweit ihm das sein Bauch genehmigte, fuchtelte mit der Hand über dem Tisch, „Seit Jahren nehme ich Geld von euch und zahle es pünktlich zurück! Ihr habt an mir schon Unsummen verdient. Und jetzt kommst du kaltschnäuzig daher, bietest mir das Geld einer Frau zu einem Zins an, der in diesen Zeiten absoluter Wucher wäre! Und dann willst du noch ein Pfand von mir?“ Er wandte sich ihr zu, die Augen im Zorn zusammengezogen, „Ihr behaltet euer Geld!“ Zurück zu Ulrich, „Und ich werde mich wohl nach einem anderen Verleiher umsehen!“ Schwer ließ er sich in seinen Stuhl zurückfallen, sprang aber nicht auf, wie sie es eigentlich erwartet hätte.

Einen Moment lang war nur das druckvolle Schnauben Eberleins zu hören. Ulrich sah ihn derweil ruhig an, abwartend.

Ulrich!“ Bemüht ruhig legte er seine Unterarme und seine kleinen, aber sehr fleischigen Hände auf den Tisch. „Die Zeiten sind nicht mehr wie vor zwei – drei Jahren. Es gibt nichts mehr zu verpfänden, kein Familiensilber, kein Schmuck. Der Krieg hat alles gefressen.“ Auf dem Tisch griffen seine Hände so fest umeinander, dass der Druck Fleisch und Nägel weiß werden ließ.

Aber wenn die Geschäfte nicht weitergehen ...“ Sein Mund blieb offen, so als dächte er den Satz lieber nicht zu Ende.

Ulrich bewegte sich ruhig an den Tisch, stützte den freien Arm auf, sah den anderen mit leicht vorgerecktem Kopf geradeheraus an, „Herr Eberlein, was soll ich denn machen? Es ist vollkommen ohne Bedeutung, ob das Geld von der Frau kommt oder von Izaak Goldberg. Die Zeiten sind unsicher, das Geld ist teuer oder nichts mehr wert. Ohne Pfand gibt kein Verleiher auch nur einen Gulden aus der Hand.“ Er löste sich von der Tischplatte, lehnte sich ruhig wieder zurück. „Ich bin sicher, ihr habt das alles schon selbst überlegt, bevor ihr hierher kamt. Habt ihr nicht vielleicht doch noch einen letzten Trumpf im Ärmel, der mir die Entscheidung erleichtern könnte?“

Den anderen verließ jetzt endgültig alle Energie, alle Dynamik, die ihn seit seiner Ankunft gekennzeichnet hatte. Seine kleinen Schweineaugen müde auf die jetzt schlaff daliegenden Hände gerichtet, schüttelte er schwach sein rundes Haupt, „Der Eberlein besitzt nichts mehr von all den Werten, die er früher locker anbieten konnte. Mein Wagen, meine Pferde und mein Anwesen sind das Einzige was mir geblieben ist.“ Er lehnte sich langsam zurück, ließ die Fingerspitzen auf der Tischkante liegen, „Und einige gute Aufträge, die du beleihen könntest, die ich aber so lange nicht bedienen kann, wie mir das Geld für den Voreinkauf fehlt.“

Ulrich presste seine vollen Lippen aufeinander, nickte verstehend, ließ seine Augen blicklos aus dem Gesicht des anderen auf dessen Brust und Bauch gleiten.

Therese stand auf, löste sich von ihrem Stuhl, „Ulrich, ich möchte mit dir reden!“

In aller Ruhe wandte er sich ihr zu, erstaunt zunächst, dann abrupt ablehnend: „Über dieses Geschäft gibt es nichts zu reden, absolut nichts!“

Wer sagt denn, dass ich über dieses Geschäft mit dir reden möchte? Aber ich muss dennoch mit dir reden!“ Sie wandte sich um, ging entschlossen zum Ausgang.

Sie war gerade aus dem Haus, als Ulrich sie schon einholte, ihr zornsprühend den Weg verstellte. „Was glaubt ihr, wer ihr seid? Mich in diesem Ton aufzufordern. Lasst euch das nicht noch einmal einfallen! Ich eigne mich nicht zum Laufburschen für Beuteweiber!“

Sie schnappte nach Luft! Wie ein auf Spannung gebrachter Bogen spannte sich ihr Körper, spannte sich jeder noch so kleine Muskel. Dann ließ sie die Schultern sacken. Gerade noch voller Zuversicht, musste sie jetzt schon wieder um Fassung kämpfen.

Das saß, Ulrich! Mach, was du willst!“ Sie ging einfach an ihm vorbei, während er hinter ihr druckvoll die Luft aus der Nase stieß.

Wollt ihr mich nicht wenigstens sagen, worüber ihr hier draußen mit mir reden wolltet?“

Ich habe euch gar nichts mehr zu sagen!“ Sie redete ohne einzuhalten oder sich umzuwenden.

Sie erreichte das Boot, stand eine Zeit lang still mit verschränkten Armen, sah ins Leere, dachte nichts!

Irgendwann überkam sie das Gefühl, unendlich matt zu sein, so als hätte der Fluss ihre Energie mit fortgetragen. Augenblicke später schon lag sie in ihrem Bett, vergaß die Welt.

Mit der Wut des Überlebens

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