Читать книгу Im Kopf eines Teenagers - Lars Halse Kneppe - Страница 6
eins Die schwierigen Jahre Sieben Jahre Schweigen
ОглавлениеAls ich im Jahr 2006 zu Weihnachten nach Hause fuhr, war ich gerade zwanzig geworden. Ich hatte meine Teenagerjahre hinter mir und studierte im ersten Jahr Journalistik. Kurz zuvor hatte ich auf der Uni gelernt, dass es in jedem Haus dunkle Räume gibt, also mindestens ein Zimmer, in dem all das verstaut wird, über das eine Familie nicht redet. Ich konnte das ziemlich gut nachvollziehen, denn ich war in einem Haus aufgewachsen, in dem es im Keller eine Dunkelkammer gab.
Als junger Mann voll jugendlichem Übermut und dem Glauben an meine eigenen Fähigkeiten als Erwachsener hatte ich zum ersten Mal die Zubereitung des Weihnachtsessens übernommen. Es sollte Rippchen geben. Ich war schon ein paar Tage vor den Festtagen zu Hause angekommen, um genug Zeit zum Probekochen zu haben. Ich wollte doch die Kruste der Rippchen und die Apfelsoße perfekt hinbekommen. Im Laufe der knappen Woche, die ich bei meinen Eltern war, bemerkte ich immer wieder die verwunderten Blicke meiner Mutter, als wollte sie sich vergewissern, dass ich wirklich ich war. Sie betrachtete mich meist dann, wenn ich gerade in eine andere Richtung sah, was also bedeutete, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte. Erst viele Jahre und ein abgeschlossenes Psychologiestudium später sollte ich den Grund dafür verstehen.
Sie hatte damals eine Heidenangst, dass dieses Wunder irgendwann vorbei sein könne.
Nachdem die Rippchen verspeist und der Verdauungsschnaps getrunken war, saßen wir schließlich bei Kuchen und Wein, als sich unsere Blicke erneut trafen. Meine Mutter zuckte zusammen, sah weg und wollte erst nicht antworten – weder mit Blicken noch mit Worten. Doch dann rückte sie mit der Sprache heraus. Ich erwartete ein vernichtendes Urteil, stattdessen versetzte sie meiner Teenagerzeit den Todesstoß – doch das verstand ich erst später. Sie sagte:
Es ist nichts. Es ist nur so … schön, dass du wieder so … nett bist. Dass man mit dir reden kann. Ich meine … du hast seit sieben Jahren nicht mehr mit mir gesprochen.
Es sollten weitere sieben Jahre vergehen, bis ich mich wirklich mit dieser Geschichte auseinandersetzte, sieben Jahre, bis sie mehr als nur die amüsante Anekdote war, wie schlimm ich als Jugendlicher gewesen war. Denn als ich sieben Jahre später wieder an Weihnachten nach Hause fuhr, hatte ich mein zweites Studium abgeschlossen. Dieses Mal: Psychologie. Ich hatte eine Ausbildung zum Jugendpsychologen gemacht und darüber hinaus in derselben Einrichtung eine Stelle gefunden, in der auch meine Mutter arbeitete, im Pädagogisch-Psychologischen Dienst. Sie fand das echt witzig, aber sie freute sich auch aufrichtig darüber, weil sie überzeugt davon war, dass ich das wirklich verdient habe. Ich konnte nur eines hoffen – und vermutlich hofften wir das beide: Dass Heranwachsende heutzutage nicht mehr so still und unzugänglich sind, wie ich es damals gewesen war.
Viele Jahre und viele hundert Jugendliche später kann ich erleichtert berichten, dass tatsächlich nicht alle Jugendlichen so sind, wie ich es war. Auf viele aber trifft das immer noch zu. Und auf jeden schweigenden Jugendlichen kommt mindestens ein besorgter Erwachsener wie meine Mutter. Mein Vater hat mir später einmal erzählt, dass er sich viel zu sehr in mir wiedererkannt hat, um sich Sorgen zu machen. Er wusste, dass diese Schweigephase vorübergehen würde. Für ihn wäre es viel beängstigender gewesen, eine Tochter zu haben. Es ist nämlich wesentlich leichter, sich über etwas Sorgen zu machen, das man nicht versteht und mit dem man sich nicht identifizieren kann.
Mittlerweile habe ich viele besorgte Eltern kennengelernt, dennoch schäme ich mich für all die Sorgen, die ich meiner Mutter – wenn auch unbewusst – bereitet habe. Sie hat mir nämlich keinen Grund geliefert, sie derart zu strafen, und ich hatte auch kaum etwas vor ihr zu verstecken. Sie wusste, dass ich mich manchmal betrank, aber nicht wo, das habe ich ihr nie erzählt. Immer, wenn sie wissen wollte, wohin ich gehe, habe ich nur „raus!“ gebrüllt. Ich weiß gar nicht, warum. Sieben lange Jahre habe ich ihr nur dieses eine Wort an den Kopf geworfen – und dabei die Augen verdreht. Warum sollte ich ihr mehr erzählen? Sie verstand mich ja nicht. Niemand verstand mich. Niemand konnte mich verstehen.
Wie idiotisch das Ganze war, begriff ich erst viele Jahre später. Und hätte ich nicht die berufliche Kehrtwendung gemacht, die mich als verständiger und gesprächsbereiter Erwachsener zurück in meine eigene Teenagerzeit katapultierte, hätte ich das alles vermutlich erst mit eigenen, halbwüchsigen Kindern begriffen.
” Denn Erwachsene können Jugendliche verstehen, und Jugendliche können reden, nur eben nicht mit den eigenen Eltern.
Mein Buch soll euch, als Eltern von Teenagern, helfen, eure Kinder besser zu verstehen. Was erzählen eure Sprösslinge euch? Was erzählen sie nicht? Warum erzählen sie es euch nicht? Und nicht zuletzt, was brauchen diese Jugendlichen von ihren Eltern, also von euch?
Bei den Begegnungen mit Jugendlichen überrascht mich dabei immer noch am meisten, wie offen insbesondere die älteren Jugendlichen im Grunde sind. Auch wenn es ihnen schwerfällt, über eigene Erlebnisse zu sprechen, haben viele das dringende Bedürfnis, genau dies zu tun. Sie brauchen ein Publikum, um Erfahrungen zu verarbeiten und ihnen einen Sinn zu geben. Daher öffnen sich viele sehr schnell, wenn man ihnen Aufmerksamkeit und echtes Interesse entgegenbringt. Voraussetzung dafür ist jedoch ein Vertrauensverhältnis, das erst durch eine enge Verbindung aufgebaut werden muss und bei dem es oft wichtiger ist, wie man etwas sagt, als was man sagt.
Besonders wichtig ist bei solchen Gesprächen die Ehrlichkeit. Aufgesetztes Interesse werden die Jugendlichen immer entlarven. Erwachsene müssen sich darüber im Klaren sein, dass alles, was sie sagen, mit der Verbindung zusammenhängt, die sie zu dem jungen Menschen aufgebaut haben, und folglich auch mit Blick auf diese Verbindung interpretiert wird. Oftmals erleben Teenager eine Beziehung anders als Erwachsene, woraus sich zahllose Möglichkeiten für Missverständnisse ergeben. Gleichzeitig sind Jugendliche oft überraschend nachsichtig, solange sie das Gefühl haben, dass eine Beziehung dauerhaft auf ehrlichem Interesse und dem Wunsch zu verstehen basiert. In diesem Rahmen verfügen die Erwachsenen über einen Spielraum, in dem sie auch Fehler machen dürfen. Denn jeder macht im Umgang mit Jugendlichen Fehler. Auch ich mache immer noch jeden Tag Fehler.
Darüber hinaus war ich überrascht, dass die heutigen Jugendlichen ihre eigenen Gedanken und Gefühle sprachlich viel besser ausdrücken können, als dies in meiner Generation der Fall war. Sie haben mehr Erfahrung im Teilen als frühere Generationen, weshalb ihnen dies viel selbstverständlicher erscheint. Überraschenderweise gilt dies auch für Jungen. Sie können und wollen über andere Dinge als Saufen und Fußball sprechen.
Auf die Frage, was die einzelnen Jugendlichen konkret erzählen, was sie uns mitteilen wollen, gehe ich später ausführlicher ein. Im ersten Teil meines Buches werde ich vor allem verdeutlichen, dass die Jugendlichen viel auf dem Herzen und noch mehr in ihren Köpfen haben.
Worüber sie mit mir allerdings nie sprechen, sind ihre sexuellen Erfahrungen. Selbst von unschuldigen Küssen erzählen sie mir nichts. Sogar die coolsten Jungs, die schon mit etlichen Mädchen etwas hatten, schweigen darüber. Dieses Thema ist zu peinlich, zu persönlich, auch wenn es das in Wahrheit eigentlich selten ist. Die Mädchen sprechen allenfalls mit ihrer Frauenärztin darüber, wenn es um Verhütungsmittel oder Geschlechtskrankheiten geht.
Die Eigenart, spezielle Informationen nur mit besonderen Personen zu teilen, ist typisch für Jugendliche. Mit einem Psychologen oder einer Psychologin reden sie über ihre Gedanken und ihre Gefühle, nicht aber über Sex. Mit der Frauenärztin reden sie zwar über Sex, aber nicht notwendigerweise über ihre Gedanken und ihre Gefühle. Mit Lehrkräften sprechen sie über Noten. Und mit den Eltern? Da kann man sich nicht sicher sein, dass sie überhaupt über irgendetwas sprechen. Welche Themen für ein Gespräch zu persönlich sind, hängt von der Rolle des jeweiligen Gesprächspartners ab sowie von den Erwartungen, die die Teens an eben diese Rolle knüpfen. Die Jugendlichen selbst können nur selten eindeutig sagen, warum dies so ist. Meistens erwidern sie dann, dass es sich richtig oder falsch anfühlt.
Oft frage ich die Jugendlichen, warum sie es mir so viel leichter machen, sie zu verstehen, als ihren Eltern. Ihre Antworten variieren – vorausgesetzt, ich bekomme überhaupt eine Antwort. Spontan sagen die meisten: „Keine Ahnung“, oder dass es sich falsch oder peinlich anfühlt, ihren Eltern etwas zu erklären. Als frisch ausgebildeter Psychologe dachte ich lange, dass das nur eine Masche sei, um sich um eine echte Antwort zu drücken. Doch wenn ich an meine eigene Jugendzeit zurückdenke, erkenne ich mich darin wieder. Ich wusste damals auch nicht, warum ich nicht mit meiner Mutter geredet habe. Ich hatte keinen Grund, nicht mit ihr zu sprechen, jedenfalls keinen, der die Sorgen, die ich ihr mit meinem Schweigen bereitet habe, im Nachhinein rechtfertigen könnte. Ich vermute, so ist es bei vielen. Dieses Schweigen muss nicht zwangsläufig eine Ursache haben. Es kommt einfach, und ist es erst einmal da, wird es leicht zur Gewohnheit, bei der durch die gegenseitigen Erwartungen ein schmerzhafter Teufelskreis entsteht, aus dem weder Kinder noch Eltern heraus finden.
Bei anderen Jugendlichen kann so ein Schweigen damit zu tun haben, dass sie das Vertrauen in die Erwachsenen verloren haben oder generell nicht mehr daran glauben, dass andere sie verstehen oder ihnen helfen können. Für Menschen und insbesondere für Teenager, die sich selbst und ihre eigenen Verhaltensweisen verstehen wollen, ist es unglaublich beängstigend, sich dem schmerzhaften Gefühl zu stellen, dass die anderen sie auch nicht verstehen. Denn dieses Gefühl bestätigt die verborgene Furcht, mit all dem Übel vollkommen allein zu sein. Gefühle zu offenbaren empfinden junge Menschen als bedrohlich, weil sie dadurch riskieren, bestätigt zu bekommen, dass die anderen sie wirklich nicht verstehen.
Bei Jugendlichen, die sich abschotten, kann der Drang zu schweigen noch zusätzlich verstärkt werden, weil ihnen eine Sprache fehlt, mit der sie anderen ihre Gedanken, Gefühle und Erlebnisse mitteilen können. Deshalb wissen sie oft weder, was sie sagen sollen, noch, wie sie es sagen sollen, geschweige denn, wie andere auf ihre Gedanken und Gefühle reagieren werden. Für diese Teens ist alles unvorhersehbar und somit bedrohlich. Einem solchen Verlust der Vorhersehbarkeit folgt immer die Angst.
Zudem fürchten viele, von ihren Gefühlen überwältigt zu werden oder dass die Eltern das ihnen Anvertraute falsch auffassen oder nicht ertragen. Denn die wenigsten Teenager wollen eine Belastung für ihre Eltern sein, und einige haben Angst davor, dass alles nur noch schlimmer wird, wenn sie die Dinge, die sie beschäftigen oder beunruhigen, laut aussprechen.
” Jugendliche haben viele Gründe, gegenüber ihren Eltern oder anderen Erwachsenen zu schweigen.
Das bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass etwas nicht mit ihnen stimmt oder sie irgendwelche dunklen Geheimnisse haben, die nicht ans Licht kommen dürfen. Sollten sie Geheimnisse haben, handelt es sich dabei – als Ausnahme von der Regel – meistens um Dinge, die auszusprechen wehtun oder für die sie sich schämen, wie beispielsweise Einsamkeit, Mobbing oder der Bruch einer wichtigen Beziehung.
Wenn ich in meiner psychologischen Praxis nach einigen Vor- und Kennenlerngesprächen eine vertrauensvolle Basis zu den Jugendlichen aufgebaut habe und sie schließlich ein bisschen herausfordern kann, frage ich sie gern, was sie ihren Eltern am liebsten sagen oder verständlich machen würden. Nachdem ich ihre Antworten zusammengefasst habe, schließe ich für gewöhnlich die Frage an, was – nach ihrer Ansicht – wohl die beste Art wäre, ihren Eltern dies zu erzählen. Erst in der nächsten Sitzung frage ich weiter, was sie von ihren Eltern brauchen und wie diese auf all das reagieren sollen, was die Jugendlichen ihnen so gern verständlich machen würden.
Die Antworten hängen natürlich immer davon ab, wer vor mir sitzt, und variieren von Person zu Person und von Gespräch zu Gespräch. Doch einige Bedürfnisse und Wünsche tauchen dabei immer wieder auf, auch wenn sie nur selten laut ausgesprochen werden. Normalerweise bekomme ich erst einmal ausführlich erklärt, was die Jugendlichen alles nicht brauchen. Damit verraten sie mir bereits viel über die Themen und Bedürfnisse, die ihnen wirklich wichtig sind.
” Was Jugendliche nicht brauchen, sind Eltern, die die Probleme ihrer Kinder nicht sehen wollen und bewusst wegschauen oder die wenigen ausgesprochenen Worte nicht ernst nehmen.
Alles, was Teenager sagen, ist für gewöhnlich ernst gemeint, auch wenn es sich nicht so anhört oder einen anderen Eindruck vermittelt als das, was die Worte an sich ganz konkret aussagen. Und was die Jugendlichen absolut nicht brauchen, sind Eltern, die auf irgendeine coole Weise versuchen, Verständnis zu zeigen. Eltern sind nicht cool – nicht, wenn es nach ihren Kinder geht. Nicht einmal der große Held meiner Kindheit, David Beckham, ist für seine Teenagersöhne cool.
Ich sage Eltern immer, dass sie etwas falsch machen, wenn sie cool sind. Teenager brauchen keine coolen Eltern. Viel eher brauchen sie etwas langweilige Eltern, da langweilige Eltern häufig auch verlässliche und vorhersehbare Eltern sind, von denen die Kinder genau wissen, wo sie stehen. Cool zu sein, bedeutet, sich nicht wirklich anzustrengen. Eltern von Jugendlichen müssen sich aber immer wieder anstrengen, auch wenn sie dafür nur Ablehnung ernten. Es ist mit anderen Worten weder cool noch leicht, Vater oder Mutter eines Teenagers zu sein. In vielerlei Hinsicht ist es sicher wesentlich leichter, ihr Psychologe zu sein.