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Das Projekt Jugend

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Die Teenagerjahre sind eine merkwürdige Zeit. In dieser Phase schwanken die Menschen zwischen den Extremen. Mal wollen sie noch Kind sein und dann wieder erwachsen, etwa so wie Britney Spears es in ihrem Song „I’m Not a Girl, Not Yet a Woman“ vor Jahren besungen hat. Damals war ich allerdings noch zu jung, um verstehen zu können, was sie meinte. Heute betrachte ich die Teenagerzeit als eine unscharf abgegrenzte Periode, in der wir bewusst oder unbewusst experimentieren, indem wir zwischen unseren Entwicklungsschritten und Reifegraden hin- und herswitchen, bis wir eines Tages plötzlich erkennen, dass wir erwachsen sind.

Für mich kam dieser Tag erst, als ich wieder mit Jugendlichen sprach. Erst da begriff ich, dass ich nicht mehr wie ein Jugendlicher dachte, und das vermutlich schon seit mehr als acht Jahren. Und da erst erkannte ich auch, dass mir der direkte und persönliche Zugang zu ihrer inneren Logik versperrt war.

Diese Erfahrung können vermutlich viele Eltern bestätigen. Sie machen sie häufig in dem Moment, in dem sie mit Schrecken erkennen, dass sie ihr eigenes Kind nicht mehr verstehen und die Kommunikationskanäle sich immer weiter verschließen. Weil wir keinen Zugang mehr zu unseren eigenen Teenagergefühlen haben, kommen uns die Heranwachsenden mit einem Mal fürchterlich irrational vor. Wir sind einfach nicht mehr in der Lage, sie zu verstehen. Und wenn wir etwas oder jemanden nicht verstehen, bekommen wir selbstverständlich Angst, besonders, wenn es um das eigene Kind geht. Dieses Gefühl aber erschwert es weiter, die Jugendlichen zu verstehen, da Angst den eigenen Fokus einschränkt und damit die Fähigkeit zur Empathie3 begrenzt. Bei den meisten von uns führt das dazu, dass wir automatisch versuchen, in die Rolle des anderen zu schlüpfen. Aber im Umgang mit Jugendlichen ist das für Erwachsene nur selten eine gute Strategie. Auf diese Weise versuchen wir nämlich nur, den Jugendlichen aus unserer Erwachsenen-Perspektive zu verstehen, und greifen dabei auf unsere Fähigkeiten zu organisieren, zu interpretieren und die Welt um uns herum zu analysieren zurück.

Zunächst müsst ihr eins verstehen: Teenager sind noch keine Erwachsenen. Ihre Logik erscheint uns deshalb nicht notwendigerweise als sinnvoll. Das heißt aber nicht, dass Heranwachsende grundsätzlich irrational sind, sondern lediglich, dass ihre Rationalität anderen Gesetzen und Regeln folgt als denen, die wir als Erwachsene anwenden. Als Erwachsene müsst ihr die Teenager besser kennenlernen, um zu verstehen, warum sie auf eine bestimmte Art handeln oder reagieren.

Die Wahrnehmung der Jugendlichen ist ein buntes Chaos.

Um das zu begreifen, müsst ihr erst die Person genauer kennen, die dieses Chaos organisiert und erschafft. Erst dann bietet sich euch die Möglichkeit, eure Teenager und ihr Leben zu verstehen.

Meistens konzentriert sich Letzeres in erster Linie darauf, rein physisch den schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens zu überleben. Meistens geht es den Jugendlichen einfach darum, den Tag mental zu überstehen und dabei die eigene Würde, das eigene Selbstwertgefühl4 gegen Angriffe von außen und vor der Scham zu schützen. Gleichzeitig versuchen sie, ihren Erfahrungen Sinn und Logik zu verleihen. Gerade dieser letzte Punkt fällt ihnen schwer, da sich der eigene Standpunkt ständig verändert.

Die Teenagerzeit ist die Phase im Leben, in der die Jugendlichen die geringste Fähigkeit besitzen, erlebte Gefühle zu regulieren, man nennt diese Fähigkeit Emotionsregulation5.

Der Prozess des Erwachsenwerdens ist also schwierig und schmerzhaft. Und diese Wachstumsschmerzen stecken nicht nur im Körper.

Um die Motivationen, Entscheidungen und das scheinbar irrationale Verhalten der Jugendlichen zu verstehen, müsst ihr zunächst einmal wissen, wie sie sich selbst und ihr Selbstwertgefühl gegen Angriffe von außen schützen. Das Wissen um die Grundpfeiler ihres Selbstwertgefühls ist dafür sehr wichtig. Wenn ich in den verschiedenen Klassen der weiterführenden Schulen die Jugendlichen frage, was für ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstakzeptanz am wichtigsten ist, vermuten sie, dass für andere der eigene Körper und die Schule am wichtigsten sind, für sie selbst ist jedoch das soziale Umfeld wichtiger als ein Six-Pack oder gute Noten. Der soziale Status, die soziale Identität und die Gruppenzugehörigkeit beeinflussen das Verhalten der Jugendlichen am stärksten.

Das heißt allerdings nicht, dass Noten und Aussehen nicht auch für das Selbstwertgefühl von Bedeutung sind. Diese Punkte sollten wir aber eher als Schritte auf dem Weg zu der angestrebten Zugehörigkeit ansehen. Sie fungieren als Türöffner für den Zugang zu verschiedenen Gruppen. Denn um in manche Peergroups hineinzukommen, muss man schön oder klug sein, oder sogar beides.

”Jugendliche definieren ihren Wert über die Menschen in ihrem Umfeld.

Deshalb scheint die Gruppenzugehörigkeit für viele die wichtigste Säule zu sein, auf die sich ihr Selbstwertgefühl stützt. Klug und schön zu sein, kann die Bedingung für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sein, für andere Gruppen muss man beispielsweise böse, „slutty“ (also eine Schlampe), oder rebellisch sein. Wesentlich ist, dass Jugendliche ihr Selbstwertgefühl stärken, indem sie Mitglied in bestimmten sozialen Gruppen werden. Jugendliche sind buchstäblich so wie die, mit denen sie Umgang pflegen.

Damit setzen sich Jugendliche natürlich in hohem Maße einem Gruppenzwang6 aus, auch wenn sie das nur selten direkt aussprechen, weder in den Gruppen selbst noch nach außen. Gemeinsam entwickeln sie eine Gruppenidentität mit klaren Erwartungen an die Mitglieder der Gruppe. Mit jemandem in einer Gruppe zu sein, heißt, wie jemand zu sein. Die Alternative dazu fühlt sich für viele einfach nur an, wie ein Niemand zu sein. So ein Niemand zu sein, ist jedoch die größte Angst vieler Jugendlicher. Damit genau das nicht passiert, opfern sie bereitwillig Noten, persönliche Werte und familiäre Bindungen.

Aus dieser Perspektive betrachtet ist es auf einmal gar nicht mehr so verwunderlich, wenn Jugendliche, die bisher anscheinend keine Probleme hatten, sich plötzlich in einen Bad Boy verwandeln und sich prügeln, nur um Mitglied der richtigen Clique zu werden. Vor allem am Ende der Schulzeit sind diese Cliquen das sichtbarste Zeichen für Zugehörigkeit und sozialen Status. Man ist so wie die anderen in einer Clique, und findet man dort keine Aufnahme, steigt die Furcht, als ein Niemand zu enden. Also baut man lieber Mist, prügelt sich und „erkauft“ sich einen Platz, auch wenn das eigentlich gar nicht zu den eigenen Normen und Erwartungen passt. Alles ist besser, als ein Niemand zu sein. Das dürfen wir Erwachsenen nicht vergessen, sobald wir mit Jugendlichen zu tun haben, die die in sie gestellten Erwartungen nicht erfüllen. Für einige kann es eben keine Alternative sein, an dem Tag, an dem die Freunde zum ersten Mal kiffen, als einziger nicht dabei gewesen zu sein. Und wer will schon mit dem befreundet sein, der die anderen im Stich gelassen hat, als es Streit mit den Idioten aus der anderen Gruppe gab? Wenn ein Mädchen sich nicht als Bitch inszeniert und keine Nacktfotos von sich an ältere Jungs schickt, kann das für sie heißen, dass sie als die „Spaßbremse“ abgestempelt wird und deshalb allein bleibt.

Für Erwachsene ist das unverständlich. Wer zwingt schon seine Freundinnen, es mit einem Jungen zu treiben, um in irgendeiner Gruppe aufgenommen zu werden? Und wer gibt diesem Druck nach, der streng genommen so etwas wie Zwangsprostitution ist? Leider lautet die Antwort in beiden Fällen: Jugendliche. Denn ganz normale Jugendliche fühlen sich bei dem Versuch, ihr eigenes, brüchiges Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, gezwungen, jeden Tag ihre eigene Grenze zu überschreiten. Die Teenager müssen das tun, was die anderen in ihrem Umfeld tun, und leider werden die Normen und Regeln ihrer Clique häufig von deren extremsten Mitgliedern aufgestellt.

Zu welcher Gruppe die Heranwachsenden dazugehören wollen, hängt in hohem Maße davon ab, in welche Gruppe sie hineinkommen können. Aus Angst vor Ablehnung unternehmen viele gar nicht erst den Versuch, in eine Gruppe zu kommen, die ihnen die kalte Schulter zeigen könnte. Folglich suchen sie sich Gruppen, die den eigenen, sozialen oder körperlichen Voraussetzungen entsprechen. Einige Jugendliche sind hübsch, andere klug, wieder andere weder das eine noch das andere.

Selten wird die Welt so hierarchisch erlebt wie in den Teenagerjahren.

Die Heranwachsenden müssen mit den Karten spielen, die sie bekommen haben. Sie müssen sich ihre Identität rund um die eigenen Stärken schaffen.

Aber nichts ist dümmer, als gegen verschlossene Türen anzurennen. Wer sich offensichtlich Mühe gibt, muss auch erfolgreich sein. Alle anderen brauchen eine gute Entschuldigung. Und die beste Entschuldigung von allen ist, dass einem alles egal ist. Besonders ausgeprägt ist diese Einstellung bei Jungs. Sie bringen nur selten die Leistung, die sie schaffen könnten, außer sie sind sich sicher, dass es klappt. Für einen Jungen ist es eine größere Niederlage, mit viel Arbeit eine Drei zu schaffen, als durch Schwänzen eine Fünf zu kriegen. Besser man versucht es gar nicht erst, als mit Mühe nur ein Mittelmaß zu erreichen. Es ist ein Mythos, dass nur Mädchen Angst vor Misserfolg haben. Für ein Mädchen mit Prüfungsangst7 sitzen in jeder Klasse drei megacoole Jungs, die das eigene Lernen bewusst sabotieren aus Furcht, sich zu blamieren. Die coolen Jungs schützen damit ihr Selbstwertgefühl.

Es ist viel cooler, faul als dumm zu sein.

Auch Zorn gibt Jungen viel mehr Sicherheit, als Angst zu haben – aber darauf gehe ich in dem Kapitel über »Die Bad Boys« (s.S.62) noch ausführlich ein.

Jugendliche arbeiten also gleichzeitig daran, ihr Selbstwertgefühl zu schützen und ihren eigenen Erfahrungen Sinn zu verleihen. Dies ist ein dynamischer Prozess, da die Jugendlichen sich ja ständiger weiterentwickeln. Durch die fortwährende Veränderung müssen ihnen aber ihre Erfahrungen immer ziemlich chaotisch vorkommen. Und in diesem Chaos versuchen sie, Sinn und Stabilität zu finden.

Wenn sie diesen Zustand selbst in Worte fassen sollen, sagen die Teens gern, dass alles um sie herum total chaotisch ist oder „brodelt“. Sobald das eigene Umfeld nicht vorhersehbar ist, antworten Gehirn und Körper mit Angst, weshalb die meisten von uns automatisch nach dem Bekannten und Vorhersehbaren streben, um diese Angst zu reduzieren. Jugendliche, für die soziale Beziehungen von Natur aus sehr wichtig sind, provozieren daher vorhersehbare Reaktionen bei anderen.

Das trägt nicht selten unglückliche und anscheinend irrationale Früchte, denn es führt häufig dazu, dass die Jugendlichen negative Bestätigungen suchen, die mit ihren früheren Erfahrungen übereinstimmen. Die Teenager sind es vielleicht gewöhnt, mit Eltern und Lehrkräften in Streit zu geraten. Diese Konflikte werden zwar als negativ erlebt, gleichzeitig sind sie aber vertraut und damit sicher und vorhersehbar. Für einige Jugendliche ist es viel beängstigender, auf positive Bestätigung zu stoßen als auf eine negative Reaktion. Mitunter sind die Heranwachsenden wahre Experten für Konflikte, während ihre anderen sozialen Fähigkeiten nur begrenzt sind. Vielleicht wissen sie nicht, wie sie auf Lob reagieren sollen, vielleicht haben sie Angst davor, mit neuen, unbekannten Erwartungen konfrontiert zu werden. Da ist es einfach sicherer, einen Streit zu provozieren.

Paradoxerweise sind dieselben Mechanismen für extrem unterschiedliches Verhalten verantwortlich. Die Bandbreite reicht von übertrieben ausgelebter Sexualität über Drogen oder auffälliges Verhalten in der Schule bis hin zum direkten Gegenteil, nämlich der zu starken und vollkommen einseitigen Fokussierung auf Schulerfolg oder Sporttraining. Jugendliche schützen ihr Selbstwertgefühl mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, und schaffen daher immer wieder die Situationen, die sie kennen und in denen sie sich sicher fühlen. Auch wenn das häufig zu nicht nachvollziehbaren Reaktionen und Handlungen führt, steckt dahinter fast immer eine unbewusste Logik, auch wenn diese im Gespräch mit Erwachsenen nur selten offenbart wird. Denn dafür ist das Thema viel zu unangenehm und mit Scham belastet.

Jugendliche erleben es als peinlich, verletzlich zu sein und von den Bestätigungen der anderen abzuhängen. Täglich werden sie mit dieser Abhängigkeit konfrontiert, aber was sollen sie dagegen tun? Wenn die Alternative Einsamkeit heißt, gibt es keine freie Entscheidung mehr, denn das einzige, was noch beschämender ist als Einsamkeit, ist der Versuch, etwas daran zu ändern. Ist man einsam, muss man das verbergen, und so tun, als würde man das selbst wollen, und dabei möglichst cool und abweisend wirken. Auf keinen Fall darf man darüber reden, mit niemandem. Das ist zu beklemmend, denn so würde man ja zugeben, dass man auf dem wichtigsten Schlachtfeld – dem sozialen nämlich – ein Loser ist. Am Ende ihrer Teenagerzeit beschrieb ein Mädchen mir einmal das Gefühl, sich die eigene Einsamkeit einzugestehen, sei wie in Scham zu ertrinken. Ihre ganze Teenagerzeit hindurch hat sie gekämpft und sich abgestrampelt, um nicht in dieser Scham unterzugehen.

Auch wenn die wenigsten ihre Teenagerzeit so drastisch beschreiben, erkennen sich doch viele Jugendliche in dem Gefühl wieder, wie verrückt für ihr Überleben kämpfen zu müssen.

Die Teenagerjahre sind in vielerlei Hinsicht ein Kampf.

Die wenigsten von uns kraulen elegant von der Kindheit ins Erwachsenenleben, die meisten strampeln und rudern mit den Armen, um den Kopf über dem dunklen Wasser aus unkontrollierbaren und überwältigenden Gefühlen zu halten und das weit entfernte Ufer nicht aus dem Blick zu verlieren. Und irgendwann sind sie da – ganz plötzlich sind sie erwachsen und stehen auf dem trockenen Land. Denken wir Erwachsene heute daran, dass wir plötzlich festen Boden unter den Füßen hatten, wird klar, dass schon einige Zeit vergangen ist, seit wir das rettende Ufer erreicht haben.

Doch während die Jugendlichen im Wasser strampeln, müssen sie zu sich selbst finden und Entscheidungen fällen, die sie später ans richtige Ufer bringen. Es ist eine Reise voller Fallstricke und Untiefen, und oft denke ich, dass es an ein Wunder grenzt, wenn jemand da gut durchkommt, und dass er irgendwo unterwegs eine Rettungsboje gefunden oder von jemanden eine Schwimmweste bekommen haben muss. Solche Schwimmwesten ziehen Jugendliche aber nur selten freiwillig an. Sie wollen auf ihre ganz eigene Weise zu sich selbst finden, auch wenn sie dabei den meisten Idolen und Idealen mit einer solchen Leidenschaft folgen, zu der sie sich später als Erwachsene nicht mehr bekennen können. Zu diesen Idolen gehören nur selten die Eltern oder andere ihnen nahestehende Menschen. Diese fungieren eher als notwendige Referenzpunkte, zu denen sie Abstand gewinnen wollen. Die eigene Identität entwickelt sich, indem man sich von den Menschen, die einem am nächsten sind, löst. Erst wenn man die 30 überschritten hat, kann man sich eingestehen, dass man der Sohn vom Vater oder die Tochter der Mutter ist. Ab dann brauchen die eigenen Eltern keine Rettungswesten mehr für einen selbst bereitzuhalten.

So habe auch ich lange darauf beharrt, dass ich mich total von meinem Vater unterscheide. Dadurch wollte ich meine eigene Identität unterstreichen. Ich musste erst 29 werden, um mir von meinem Vater erklären zu lassen, wie man die Reifen seines Fahrrads flickt. Bis dahin bin ich lieber mit platten Reifen gefahren.

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