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Wann wurden wir Eltern so dumm?
ОглавлениеEltern von Jugendlichen mutieren oftmals über Nacht von allwissenden Superhelden zu den peinlichsten Wesen der Welt. Die Jugendlichen distanzieren sich mit einem Mal von den Menschen, zu denen sie als Kind aufgesehen und bei denen sie Schutz gesucht haben. Dies geschieht den meisten Eltern, dennoch ist die Erkenntnis, plötzlich abgelehnt und aus dem Leben derjenigen ausgeschlossen zu werden, die man am meisten liebt, nicht weniger schmerzhaft. Automatisch denken Eltern, dass etwas nicht stimmt oder sie etwas falsch gemacht haben. Es muss etwas vorgefallen sein, aber nur selten war es etwas, was sie gesagt oder getan haben. Es ist kein Fehler, dass sie so dumm und engstirnig sind, diese Rolle müssen Eltern einfach irgendwann einnehmen. Früher oder später werden wir in den Augen unserer jugendlichen Kinder alle peinlich. Das gehört zur Wandlung in der Wahrnehmung vom eindimensionalen Superhelden zum ganzen Menschen. Die Alternative wäre, für den Rest unseres Lebens in den reduzierten Rollen als Elternteil oder Kind zu verharren.
Ich bin der Meinung, dass wir uns erst dann richtig kennenlernen können, wenn das enge Band aus gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Eltern und Kindern gelockert wird. Erst dann werden wir für unser Kind zu einem Menschen, und unser Kind für uns selbst zu einem eigenständigen Erwachsenen. Häufig kann dieses Band aber nur langsam, Stück für Stück, gelockert werden, weshalb die Jugendlichen immer wieder mit der Loslösung experimentieren. In den Teenagerjahren neigen viele Jugendliche dazu, übertrieben weit auf Abstand zu gehen, um sich dann später, im Übergang zum Erwachsenenalter, wieder an die Eltern anzunähern.
Der Moment, von dem aus man sich als Menschen richtig kennenlernen kann, ist allerdings immer noch geprägt von ziemlich stereotypen Rollen, in denen eigentlich niemand er oder sie selbst sein kann. Eltern sind in erster Linie Vater oder Mutter ihres Kindes, wie das Kind eben Sohn oder Tochter ist. Die Personen, die ihr bei der Arbeit seid, wo ihr euch mit anderen Erwachsenen umgebt und ihr die Hauptperson eures eigenen Lebens seid, gibt es für eure Kinder oder Jugendlichen nicht. Auch noch für eure Teens bleibt ihr vor allem Mama oder Papa.
Für die Jugendlichen spielen wir nur eine Nebenrolle, wir sind diejenigen, die immer alles regeln.
” Für Teenager haben Erwachsene kein eigenes Leben.
Das ist auch nicht verwunderlich, da wir uns selbst zurücknehmen, um uns um unsere Kinder zu kümmern. Für eine gewisse Zeit sind wir dazu verdonnert, einfach als selbstverständlich hingenommen zu werden. Deshalb kann es für Jugendliche schwierig sein, in ihren Eltern mehr zu sehen als Eltern. Die Berufe der Eltern und auch deren Gefühle sind ihn gleichgültig. Wie könnt ihr denn verliebt sein oder Liebeskummer haben, wenn ihr doch nur für euer eigenes Kind lebt?
Für Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene ist die Erkenntnis, dass Papa oder Mama auch nur Menschen sind, immer angsteinflößend, und normalerweise reagieren sie auf diese Angst mit Aggression, weil das am sichersten ist. Es ist unangenehm, begreifen zu müssen, dass diejenigen, die man für Superhelden gehalten hat, ganz normale Menschen sind, die scheitern, zu kurz kommen oder sogar sterben. Die Welt wird auf einmal viel bedrohlicher, wenn es in ihr niemanden gibt, der einen retten kann.
Kindern kann es Sicherheit geben, einen Papa zu haben, der nie Angst bekommt, oder eine Mutter, die nie traurig ist. Eltern sind die Supermenschen. Zwischen Kindern und Eltern vermitteln diese klaren Rollen über viele Jahre ein Gefühl der Sicherheit, weil sie die Beziehung vorhersehbar machen.
” Auf lange Sicht führen diese Rollen aber zu einer Distanz, die verhindert, dass man sich richtig kennenlernt.
Die Rollen erlauben es weder der einen Seite, noch der anderen, verletzlich zu sein und als ganzer Mensch diese Beziehung zu gestalten.
Glauben deshalb so viele Menschen, dass sie ihren Vater nie richtig gekannt haben, weil er sein Leben hindurch immer nur ihr Vater geblieben ist? Weil er sich nie erlaubt hat, sich in der Beziehung als er selbst zu zeigen, sondern stattdessen in der sicheren Erzieherrolle verharrte?
Die Feststellung, dass das eigene Kind nicht mehr nur Kind ist, kann auch für die Eltern unangenehm sein, denn nun müssen sie einen heranwachsenden Mensch neu kennenlernen. Beide Seiten müssen sich in dieser Phase neu entdecken – und zwar als ganze Menschen. Für alle Beteiligten steckt darin die Angst vor Veränderung, die man auch als eine verborgene Angst vor dem Tod interpretieren kann. Solange alles so bleibt, wie es war, und wir an unseren Rollen festhalten, halten wir die existenziellen Ängste auf Abstand.
Deshalb greifen Jugendliche nur selten die elterlichen Rollen an, außer es geht um Grenzen oder Grenzziehungen. Teenager fühlen sich am sichersten, wenn die Eltern ihren Rollen treu bleiben und sie selbst weiterhin die Hauptrolle in ihrem eigenen Leben spielen dürfen. Denn es dreht sich alles um ihr Leben. Denn ihr Leben steht auf dem Spiel.
” Heranwachsenden fehlt die Fähigkeit zu begreifen, dass die anderen um sie herum auch Menschen sind, mit einem eigenen Leben, eigenen Gedanken und Gefühlen.
Wenn die Jugendlichen die Hauptrolle ihres eigenen Lebens einnehmen, spielen wir anderen folglich nur noch Nebenrollen oder werden sogar zu helfenden Statisten degradiert8. Die Jugendlichen interessieren sich nur selten für unser langweiliges Erwachsenenleben. Wir sind nur für sie da, um sie mal zu frustrieren, mal ihre dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen. Außerhalb ihrer unmittelbaren Erfahrungswelt hören wir auf zu existieren. Das mag sich unsympathisch anhören, aber das war bei fast allen von uns so. Zum Glück können wir uns in späteren Jahren kaum noch daran erinnern. Ebenso schwer fällt uns die Erinnerung, wie wir als Jugendliche die Erwachsenen verstanden haben, dabei ist genau das der Schlüssel zu dem Verständnis, wie unsere Jugendlichen uns heute verstehen.
Und wie verstehen Jugendliche ihre Eltern und uns Erwachsene? Jugendliche sehen die Welt und die Menschen um sie herum auf Basis ihrer eigenen Reflexionsfähigkeit und ihres Erfahrungsschatzes. Sie wissen nicht, wie es ist, erwachsen zu sein und ein Kind zu haben, um das man sich ständig Sorgen macht, oder einen Jugendlichen, der nicht mehr mit einem redet.
Deshalb versuchen sie, sich aus ihrer jugendlichen Sichtweise in unsere Rolle hineinzuversetzen. Sie überlegen, wie sie selbst reagieren oder die entsprechenden Situationen handhaben würden. Mit anderen Worten: Sie begehen exakt denselben Fehler, den auch wir Erwachsenen machen, wenn wir sie verstehen wollen. Wir versetzen uns in die Situation des anderen und gehen davon aus, dass wir uns ähnlicher sind, als es tatsächlich der Fall ist.
Viele Jugendliche verstehen uns von ihrem eigenen, egozentrischen Standpunkt aus, in dem sie selbst der Mittelpunkt, das Zentrum des Sonnensystems sind. Als Erwachsene haben wir aus ihrer Sicht – wie schon gesagt – kein eigenes Leben mehr. Deshalb beziehen die Teens unsere Handlungen auf ihr eigenes Leben, sehen unser Verhalten als das Resultat ihres eigenen Daseins. Wenn wir traurig sind, sind wir das wegen irgendetwas, das sie getan haben. Freuen wir uns, tun wir das, weil wir herausgefunden haben, was sie getan haben. Und sind wir glücklich, so sind wir das nur, weil sie uns stolz gemacht haben. Alles andere, was unser Leben beeinflusst, existiert in der Teenagerwelt nicht. Deshalb sind viele Jugendliche extrem sensibel für die Stimmungen und Launen ihrer Eltern. Wenn ihr müde und fertig von einem langen Tag auf der Arbeit nach Hause kommt, deuten die Jugendlichen das schnell mal als Enttäuschung über sie selbst. Wenn ihr wütend seid, seid ihr in ihren Augen wütend auf sie und nicht auf euren Chef oder eure Kollegen. Für die Jugendlichen geht es immer um sie selbst, außer ihr sagt es ihnen ganz klar – aber das tun längst nicht alle Eltern, weil sie ihre Kinder nicht mit den Problemen ihres eigenen Lebens belasten wollen. Mit der Folge, dass die Jugendlichen sich selbst für das Problem halten.
Das heißt nun aber nicht, dass ihr als Eltern eure Kinder mit all euren Erwachsenenproblemen belasten oder die Jugendlichen gar als Gesprächstherapeuten nutzen sollt. Es kann daher klug sein, die Jugendlichen hin und wieder darauf hinzuweisen, dass nicht sie der Grund für eure Gefühlslage oder euer Verhalten sind. Manchmal reicht es, ihnen zu erzählen, dass ihr auf der Arbeit gerade etwas unter Druck steht, ohne genauer darauf einzugehen. Oder ihr sagt, dass ihr gerade ein Problem wälzt und deshalb vielleicht etwas abwesend oder traurig wirkt. Wichtig ist der klare Hinweis, dass nicht der oder die Jugendliche der Grund für eure Stimmung ist. Für gewöhnlich nehmen Heranwachsende das auch gern an.
Aber die Teenager platzieren nicht nur die Eltern in dieser Erwachsenenrolle. Auch Lehrer und andere Menschen jenseits der 23 reduzieren sie automatisch zu Repräsentanten der Erwachsenenwelt. Ihr seid dann nicht mehr cool, ganz gleich, wie sehr ihr euch auch anstrengt. Das bedruckte T-Shirt oder der Kapuzenpulli bringen dann gar nichts. Kauft euch ruhig euren ersten Pullover mit V-Ausschnitt, die Jugendlichen haben euch ohnehin längst in diese Schublade gepackt.
Ein Mädchen, mit dem ich gearbeitet habe, kam zu mir, nachdem der Vertrauenslehrer sie überredet hatte, doch einmal mit diesem „jungen, coolen Psychologen“ zu reden. In der Woche danach erzählte sie dem Lehrer von unserer ersten Stunde. Ja, es sei alles gut gelaufen und sie wolle auch weiter mit mir reden, aber eine Sache müsse sie allerdings klarstellen: Ich sei nicht sonderlich jung und ganz sicher nicht cool. Außerdem trüge ich so einen Pullover mit V-Ausschnitt. In diesem Moment begriff ich, dass ich wirklich erwachsen geworden war.
Erwachsen zu sein, ist eine ganz eigene Rolle. Sobald ihr in den Augen von Jugendlichen erwachsen seid, seid ihr keine ganzen Menschen mehr, mit einem eigenen Leben und einer eigenen Gefühlswelt. Erst wenn die Teens selbst erwachsen werden, lernen sie, diese Erwachsenenrolle mit eigenen Inhalten zu füllen. Erst dann sehen sie ein, dass man auch nach Abschluss der Teenagerjahre ein Mensch bleibt und auch dann noch das Bedürfnis hat, auf Partys zu gehen, mit anderen Quatsch zu machen oder Blödsinn zu reden. In Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen verhalten wir uns anders, wir reden anders, wir reißen uns zusammen, fluchen weniger und geben nicht mehr so viel dummes Zeug von uns. Deshalb glauben Jugendliche, dass Erwachsene auch dann vernünftig sind, wenn sie unter sich sind. Sie glauben ziemlich lange, dass wir unserer Rolle rund um die Uhr entsprechen. Und diese Rolle unterscheidet sich so radikal von ihrer eigenen Rolle, dass die Heranwachsenden zwangsläufig glauben müssen, dass wir unmöglich verstehen können, wie sie sind und wie sie sich fühlen. Aus ihrer Sicht sind wir engstirnig und dumm.
Damit das Zusammenleben von uns Erwachsenen mit Jugendlichen funktioniert, sollten wir immer bedenken, dass sie uns oft aus eben diesem Rollenverständnis heraus beurteilen. Die Jugendlichen vergessen, dass auch wir eigene Gefühle haben und dass diese Gefühle unser Wohlbefinden beeinflussen. Wir verkraften auch nicht alles. Worte können uns verletzen.
” Wegen dieser strikten Rollenverteilung können die Jugendlichen es als unangenehm oder gar bedrohlich empfinden, wenn wir aus unserer zugewiesenen Rolle ausbrechen und ihre Erwartungen nicht erfüllen.
Ein Beispiel dafür ist, wenn wir Erwachsenen im Beisein der Jugendlichen ironisch werden. Teenager kennen Ironie durchaus und nutzen sie selbst, aber eben nicht dann, wenn wir Erwachsenen sie nutzen. Ironie entspricht nicht den Erwartungen, die sie uns gegenüber haben, sodass sie das Gesagte oft wörtlich nehmen oder als Sarkasmus auffassen. Dies geschieht oftmals in der Schule und führt dann dazu, dass Schüler und Schülerinnen auf die Lehrenden sauer sind oder sich gemobbt fühlen. Als Erwachsene müssen wir mitunter vorsichtig sein, wenn wir mit Jugendlichen Spaß haben wollen. Sie verkraften einfach nicht alles, und von uns Erwachsenen verkraften sie Späße noch weniger als von anderen Jugendlichen. Hierbei spielt die Tagesform eine wichtige Rolle: An manchen Tagen sind die Heranwachsenden unerschütterlich, an anderen höchst sensibel. Manchmal begreifen sie alles. Dann wieder missverstehen sie alles. Manchmal sind sie Kinder, dann schon fast Erwachsene. So ist es, wenn man Teenager ist, und so ist es im Umgang mit Jugendlichen. Mitunter verstehen wir alles, an den meisten Tagen aber verstehen wir schlichtweg gar nichts.