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Teenageramnesie
ОглавлениеVerständnisprobleme zwischen Jugendlichen und Eltern beruhen zumeist auf der Tatsache, dass ihr euch als Erwachsene nicht mehr daran erinnert, wie es war, als ihr selbst jugendlich gewesen seid. In diesem Punkt haben die Jugendlichen durchaus recht. Ihr als Eltern wisst nicht, wie sich eure Kinder fühlen. Die wenigsten Erwachsenen sind sich dieses Umstands allerdings bewusst, da sie sich an die eigene Jugendzeit häufig sehr lebhaft erinnern und sie zu diesen Bildern einen leichten Zugang haben. Unser ganzes Leben hindurch reisen wir in Erinnerungen und Träumen immer wieder in diese Jahre zurück.
In unseren Träumen sind wir allerdings nicht mehr dieselbe Person, von der wir träumen. Wir erinnern uns an unsere Taten und sehen wie in einem Film konkrete Szenen und Geschehnisse vor uns, allerdings gelingt es uns dabei nicht mehr, genau nachzuvollziehen, warum wir getan haben, was wir getan haben. Und somit wissen wir auch nicht mehr, wie wir es erlebt haben. Wir sind nicht mehr dieselbe Person, auch wenn wir es manchmal so empfinden. Diese Ambiguität macht es uns schwer, uns in die Empfindungen der Jugendlichen hineinzuversetzen. Als erfahrene Erwachsene verstehen wir unser jugendliches Selbst nicht mehr.
Der Begriff infantile Amnesie1 beschreibt das Phänomen, dass wir nicht in der Lage sind, uns an die Erlebnisse unserer ersten drei Lebensjahre zu erinnern. Niemand erinnert sich an seine eigene Zeit als Baby oder Kleinkind. Die infantile Amnesie wird häufig damit erklärt, dass das Hirn eines Kleinkindes noch nicht ausgereift genug ist, um Erlebnisse abzuspeichern, weshalb wir als Erwachsene nicht darauf zugreifen können. Eine andere Theorie geht davon aus, dass die Erinnerung daran, wie abhängig und hilflos man einmal war, eine nicht zu bewältigende Menge an Angst und Scham wachruft, vor der sich der eigene Geist durch Verdrängung schützt. Vor einigen Jahren habe ich mich gefragt, ob diese Mechanismen möglicherweise auch für die Jugendzeit gelten, wenn auch in abgeschwächter Form, sodass wir uns als Erwachsene einfach nicht mehr daran erinnern können, wie es war, Teenager zu sein.
Dieser Gedanke traf mich wie ein Schlag. Ich musste tief durchatmen, dann empfand ich plötzlich Scham. In den Augen der Jugendlichen, die wenig später zu mir in die Praxis kamen, spiegelte sich meine eigene Teenagerscham, dieses fürchterliche Gefühl, das ich entweder verdrängt oder einfach vergessen hatte.
Trotz alledem konnte ich diese Scham jedoch nicht richtig verstehen oder sie gar in Worte fassen. Ich konnte mich ganz einfach nicht mit ihr identifizieren. Scham entsteht oftmals durch das Empfinden besonderer Gefühle, die man aber nicht in Worte fassen kann oder will.
So geht es mir, wenn ich einem Jugendlichen zuhöre, der mit all dem kämpft, was ich damals selbst schwierig fand. Ich verstehe es zwar, ich verstehe die Scham darüber, anders zu sein, sich allein zu fühlen, davon überzeugt zu sein, dass niemand einen lieben kann, aber trotzdem gelingt es mir nicht, diese Gefühle so zu empfinden wie dieser Teenager. Möglicherweise ist es mir peinlich, mir eingestehen zu müssen, dass auch ich einmal so unreif und naiv war und gedacht habe, dass niemand mich jemals versteht. Vielleicht ist es mir zudem peinlich, dass einige der prägendsten Erfahrungen und wichtigsten Entscheidungen meines Lebens von einer genauso unfertigen und labilen Person getroffen worden sind.
Der Mensch, der ich geworden bin, und das Leben, das ich führe, sind zu einem gewissen Teil eine Folge der Entscheidungen eines naiven, krankhaft selbstzentrierten Emotionalen. Und genau dieser Junge hat damals die Richtung meiner ersten Schritte ins Erwachsenenleben bestimmt. Wie soll ich heute damit umgehen? Wie komme ich mit diesem Zufall zurecht? Die Antwort lautet: gar nicht. Stattdessen sollte ich anfangen, mich zu verteidigen, und nicht mehr von demjenigen sprechen, der ich war, sondern von dem, der ich bin.
Wenn ich also an meine Jugend zurückdenke, laufe ich daher als relativ selbstbewusster 30-Jähriger in löchrigen Chucks und der zerschlissenen Jeans durch die engen Flure der weiterführenden Schule in Jessheim. Aber eben nicht als der emotional labile Junge, der all seine Noten für einen Blick des Mädchens geopfert hätte, in das er heimlich verliebt war. Oder als der Sonderling, der immer in zu engen T-Shirts herumlief, selbst wenn es im Winter bitterkalt war, und der den heiß geliebten Familienhund gegen eine Party mit den coolen Älteren eingetauscht hätte. Dieser Junge existiert nicht mehr. Das bin ich nicht mehr, nicht einmal in meiner Erinnerung, ja nicht einmal in meinen Träumen.
Das ist vermutlich einer der Gründe, warum es für uns Erwachsene so schwierig ist, Jugendliche zu verstehen.
” Wir können uns nicht mehr in unser Selbst aus einer anderen Zeit hineinversetzen.
Stattdessen versuchen wir, die Jugendlichen aus Sicht unseres erwachsenen Ichs zu verstehen, also aus Sicht eines hoffentlich selbstbewussteren, gefestigteren Menschen.
Zudem tappen wir oft in die Falle, den Teenager über das süße Kind verstehen zu wollen, das sie einmal waren. Das Kind, zu dem wir einen besseren Draht hatten und das wir besser verstanden. Dabei ist die Teenagerzeit nur ein flüchtiger Zustand, der im Grunde nur aus dem ganz eigenen Blickwinkel der Jugend heraus zu verstehen ist. Sie ist ein Balanceakt zwischen Kindheit und Erwachsenenleben, bei dem so widerstrebende Bedürfnisse wie das nach Nähe und das nach Abstand aufeinandertreffen.
Weil wir jedoch solche Schwierigkeiten haben, uns an die Gefühle unserer eigenen Jugend zu erinnern, ist die logische Folge, dass wir nicht in der Lage sind, den Jugendlichen zu erzählen, wie es uns in dieser Zeit selbst ergangen ist, welche Fehler wir gemacht haben und wie wir darüber hinweggekommen sind. Ich frage die Heranwachsenden in meinen Stunden oft, wie sie mit ihren Eltern über das Jungsein sprechen:
Was weißt du darüber, wie es deinen Eltern ging, als sie in deinem Alter waren? Ging es ihnen ähnlich? Hatten sie vielleicht dieselben Probleme und Schwierigkeiten wie du? Glaubst du, dass sie sich in einigem von dem, was dich beschäftigt, wiedererkennen würden?
Für gewöhnlich erwidern die Teens, dass ihre Eltern ziemlich wenig über die eigene Jugend erzählen. Sie reden häufiger über ihre Kindheit und ihr Studium, und wenn doch einmal die Teenagerzeit zur Sprache kommt, reden sie mehr darüber, wie es war, und nicht darüber, wie sie sich gefühlt haben. Sehr wenige der Jungen und Mädchen in meiner Praxis glauben, dass ihre Eltern ihre eigene Jugend als ebenso problematisch empfunden haben wie sie selbst. Das wiederum hat zur Folge, dass sich die Jugendlichen häufig mit ihren Erfahrungen und Fragen allein gelassen fühlen. Sie bekommen keine Antworten auf das, was sie am meisten beschäftigt, nämlich ob und wann diese schwierige Zeit endlich vorbei ist, und was dann geschieht:
Wird das irgendwann besser? Geht das immer so weiter?
Eigentlich sollten alle einen älteren Bruder oder eine ältere Schwester haben, junge Menschen, die einem etwas über die kommende Zeit sagen können. Denn wenn es nicht einmal den Eltern so ergangen ist wie einem selbst, glaubt man schließlich immer weniger daran, dass man bei anderen auf Verständnis stoßen kann. Und das hemmt noch mehr, sich anderen anzuvertrauen. Es tut weh, nicht verstanden zu werden, vor allem, wenn man sich nicht einmal selbst versteht. Die Jugendlichen bleiben mit ihren schwierigen Gedanken und unbeantworteten Fragen allein. Dabei könnten wir diese Fragen ziemlich einfach beantworten:
Ja, es geht vorbei. Es wird nicht immer so weitergehen. Es ist normal, dass man sich als Teenager schlecht fühlt. Es ist, glaub es oder nicht, die Zeit im Leben, in der die meisten Menschen unglücklich sind. Das ist aber nicht gefährlich.
Allerdings kann das, was ihr als Eltern über vergangene Zeiten erzählt, bei den Jugendlichen völlig unbeabsichtigt als Kritik ankommen. Die Teens könnten denken, dass sie keinen Grund für ihre Gefühlslage haben und sich einfach zusammenreißen sollten. Denn früher war ja alles schwieriger, Und gleichzeitig auch viel besser. Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen, aber das versteht man erst, wenn man schon ein paar Jahrzehnte hinter sich hat.
Teenager begreifen das häufig nicht, so wie sie auch nicht glauben, dass ihre Eltern ihr Gefühlschaos verstehen können. Oftmals kommt es dann zu dem Missverständnis, dass die Jugendlichen glauben, ihre Eltern meinten, dass sie nicht das Recht haben, sich schlecht zu fühlen, und sich einfach nur zusammenreißen müssen. Die Jugendlichen verstehen nicht, dass wir manchmal Witze machen, wenn wir sie bitten, doch einfach mal vor die Tür zu gehen und Holz zu hacken. Jugendliche verstehen selten, dass auch Erwachsene ironisch sein können.
Einen ähnlichen, ebenso unbeabsichtigten Effekt kann es haben, wenn Eltern ihre Jugendlichen zu früh mit konkreten Lösungen für die Herausforderungen des Alltags konfrontieren. Aus den vielen Gesprächen mit den Teens habe ich gelernt, dass sie nur selten konkrete Lösungen für konkrete Probleme wollen. Viel größer ist ihr Bedürfnis nach Verständnis und Fürsorge. Sie benötigen eine Bestätigung dafür, dass ihr Gefühlschaos völlig in Ordnung ist und dass immer jemand für sie da ist. Wenn sie in einer solchen Situation nur mit konkreten Lösungsvorschlägen konfrontiert werden, fühlen sich viele nicht ernst genommen. Sie glauben dann, dass wir Erwachsenen ihre Probleme entweder nicht verstehen oder bagatellisieren.
Abgesehen von diesen Missverständnissen deuten einige Jugendliche das elterliche Verhalten so, als würden die Eltern es nicht ertragen, dass ihre Kinder Schwierigkeiten haben, und als ob sie diese Probleme deshalb am liebsten unter den Teppich kehren würden. Was dann wiederum zu dem falschen Schluss führt, dass die Eltern einen nur ertragen, wenn es einem gut geht.
So können Jugendliche Liebe und Fürsorge als etwas erleben, das sie nur bekommen, wenn es ihnen gut geht. Wenn es mir gut geht, sind Mama und Papa zufrieden mit mir. Geht es mir nicht gut, wollen sie mich verändern. Ausgehend von dieser Einstellung ist es nicht mehr weit bis zu der Annahme, dass die Eltern einen nur dann lieb haben, wenn es einem nicht schlecht geht. Sobald ich als Erwachsener daran zurückdenke, kann ich kaum glauben, dass auch ich so empfunden habe. Das Ganze kommt mir schon fast unnatürlich vor. Habe ich wirklich nicht verstanden, dass meine Eltern mich auf jeden Fall geliebt haben?
In den Gesprächen mit den Jugendlichen müssen all diese – möglichen – Fallgruben berücksichtigt werden.
” Die Jugendlichen erleben die Welt anders, als wir dies tun, und wir als selbstbewusste Erwachsene können uns nicht mehr vollständig in ihre Erlebniswelt hineinversetzen.
Das dürfen wir nie vergessen.
Nur über das Wenige, das die Jugendlichen mit uns teilen, bekommen wir einen Zugang zu ihren Gedanken und Gefühlen. Alles andere ist die erwachsene Interpretation einer Erlebniswelt, die alles andere als erwachsen ist. In der Welt der Jugendlichen sind wir dumm. Deshalb brauchen sie ehrliches Interesse und echte Neugier.
Abschließend will ich kurz darauf eingehen, welche Folgen all diese Erkenntnisse für mich als Psychologen in der Begegnung mit Jugendlichen haben. Ich hoffe, daraus einige Gedanken ableiten zu können, wie ihr selbst auf die jungen Leute zugehen könnt. Wenn ich Teenager kennenlerne, ist es für mich wichtig, dass die Erfahrungen, die ihre Eltern mit ihnen gemacht haben, außen vor bleiben. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass mein Beitrag nur auf den Erlebnissen basieren kann, die ich mit den Jugendlichen gemacht habe, durch die Gespräche mit ihnen, ihren Fragen, meinen Antworten, ihren Zusammenfassungen und unseren wilden Deutungen. Genau das teile ich den Jugendlichen auch mit.
” Im Umgang mit Jugendlichen muss man immer ehrlich sein, auch was die eigenen Grenzen angeht.
Ich nutze in meinen Sprechstunden sehr oft das Mittel der Zusammenfassung. Immer wieder resümiere ich, was sie mir erzählt haben, und begründe das damit, dass ich nur so sicher sein kann, dass ich die Situation richtig verstehe und den Faden nicht verliere. Wenn ich etwas zusammenfasse, versuche ich, so oft wie möglich ihre eigenen Worte zu benutzen. Sie sollen ihre Ausdrucksweise wiedererkennen und sicher sein, dass wir die Dinge auf dieselbe Weise benennen und verstehen. Sollte das nicht der Fall sein, müssen sie mich korrigieren. So vermittele ich, dass ich wenigstens versuche, sie zu verstehen, auch wenn kein Erwachsener Jugendliche wirklich verstehen kann.
Nur selten biete ich konkrete Lösungen an, da es den meisten Jugendlichen viel wichtiger ist, Verständnis zu bekommen. Dies mache ich auch bei denen, die anfangs nach Lösungen fragen. Wenn wir uns kennenlernen, ist es wichtig, dass die Jugendlichen mich als jemanden wahrnehmen, mit dem sie reden können. Solange sie sich etwas weniger allein fühlen, kommt es gar nicht mehr auf schnelle Lösungen an. Außerdem ist es für jeden Menschen viel befriedigender, selbst eine Lösung zu finden.
” Es geht viel mehr darum, gute Fragen zu stellen, als gute Antworten zu geben.
Wenn ich Fragen stelle, erkläre ich, warum ich diese Frage stelle, und präzisiere, dass es für mich in Ordnung ist, wenn nicht alle Fragen beantwortet werden. Die Jugendlichen dürfen meine Frage auch unbeantwortet lassen. Sie müssen das Gefühl haben, die Kontrolle2 zu behalten, denn nur so fühlen sie sich sicher. Versuche ich mich an einer meiner wilden Erwachseneninterpretationen, präzisiere ich, dass ich eigentlich nur rate und sie mir sofort sagen sollen, wenn sie sich darin nicht wiedererkennen. Oder nur ein bisschen, aber eben nicht ganz. Im Grunde fordere ich sie damit auf, uneins mit mir zu sein und mir zu widersprechen.
Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen will ich ihnen zeigen, dass Uneinigkeit nicht gefährlich ist. Es ist sehr gut möglich, nicht einer Meinung zu sein, ohne dass das in Streit oder Beschimpfungen ausartet. Das ist ein extrem wichtiger Lernprozess, weil es das Reden und die Ehrlichkeit einfacher macht. Zum anderen ist es entscheidend, dass die Jugendlichen sich nicht bedrängt fühlen und die Definitionsmacht über ihre eigenen Erfahrungen behalten. Es geht ihnen, wie es ihnen geht, und das ist ihr gutes Recht. Sie sind es, die diese Erfahrungen machen, und ich versuche nicht, ihre Wahrnehmung zu verändern, außer sie wünschen das selbst. Es ist nicht schlimm, uneinig zu sein, solange man offen über diese Uneinigkeit sprechen kann.
Um Nähe zu Teenagern aufzubauen, müssen wir als Erwachsene versuchen, den Jugendlichen die Entscheidung zu überlassen, wie weit sie sich nähern wollen, während wir ruhig an unserem Ausgangspunkt stehen bleiben. Wir müssen da sein und echtes Interesse zeigen, auch wenn wir meistens zu starr und verbohrt sind, um irgendetwas richtig zu verstehen. Die Jugendlichen begreifen, dass wir sie nicht verstehen. Und sie verzeihen uns das, solange sie das Gefühl haben, dass wir es trotzdem versuchen und offen sind für die Dinge, die wir nicht verstehen.