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Sylvias Lachen folgte mir den ganzen Weg bis zum Bahnhof. Seine Klangfarbe vermischte sich mit meiner, und beide zusammen bildeten neue, seltsame Muster. Eines von ihnen führte mich zu einer Tür in meinem Unterbewussten. Darüber stand mit unsichtbarer Tinte geschrieben: „Die Tür befindet sich innen.“

Gedanken unbekannter Herkunft strömten aus verborgenen Ecken und Winkeln hervor. Was war das Geheimnis, das, wie Sylvia behauptete, mit meinem Namen verknüpft war und das mich offenbar die tiefere Bedeutung des Lebens verstehen lassen würde?

Ich beschloss, auf den Engel zu vertrauen.

Es war dunkel, als ich am Nörreport-Bahnhof ausstieg und die Kongens Have in Richtung Bredgade entlangging, wo ich bei Freunden übernachten wollte. Der Schnee hatte seinen die Geräusche dämpfenden Teppich über alles ausgebreitet, und die Geister tauchten für einen Augenblick auf, bevor sie wieder in die stille Nacht verschwanden. Nichts kann das Zeitgefühl so außer Kraft setzen wie Schnee und Dunkelheit in einer Welt, in der ein ständiger Fluss von Erinnerungsbildern die Aufmerksamkeit der Leute auf die horizontale Realität lenkt.

Ich meditierte auf das Geräusch des Schnees unter meinen Füßen, als ich plötzlich das Gefühl hatte, nicht allein zu sein. Es klang so, als ginge jemand buchstäblich in meinen Fußstapfen. Ein anderes Paar Schritte, die nur wenige Sekunden nach meinen hörbar waren. Im Lichtkegel einer Straßenlaterne hielt ich kurz inne. Die Schritte hinter mir hörten ebenfalls auf. Langsam drehte ich mich um. Es war niemand zu sehen. Dennoch war ich mir sicher, dass da jemand war.

„Wer bist du? Was willst du?“, hörte ich mich sagen.

Stille.

„Ich weiß, dass du da bist. Sage mir, wer du bist.“

Noch immer keine Antwort.

Ich stand stocksteif und starrte herausfordernd in den Lichtkegel.

Dann schüttelte ich demonstrativ den Kopf und machte kehrt, um meinen Weg fortzusetzen. Doch bevor ich Zeit hatte, zu reagieren, rutschten meine Füße unter mir weg und ich fiel zu Boden. Ein fürchterlicher stechender Schmerz zog sich meine ganze linke Seite hoch.

„Wenn du frei sein willst, musst du die Angst, allein zu gehen, loslassen.“

Die Stimme sprach direkt zu mir.

„Solange du das nicht kannst, kannst du nicht erkennen, wer ich bin.“

Ich wollte nach der Gestalt greifen, von der ich spürte, dass sie über mir stand. Aber ich bekam nichts zu fassen außer kalter Luft.

Irgendwo lachte jemand.

Was geschah mir? Nach der Trennung vom Seher und meiner Begegnung mit Sylvia bewegte ich mich in eine andere Sphäre hinein, in der all meine alten Vorlieben und Fixpunkte, im Grunde meine ganze alte und wohlbekannte Welt, sich allmählich auflösten. Es war, als schwebte ich in einem Raum ohne Wände, Fußboden oder Decke umher. Selbst die Zellstruktur meines Körpers schien lockerer zu sein, genau wie Sylvia es vorausgesagt hatte. Es gab buchstäblich mehr „Kontakt“, mehr Transparenz als zu jeder anderen Zeit. Ich bewegte mich mehr denn je zwischen den Welten und mit viel größerer Gewandtheit. Und ganz gleich, wo ich mich befand, hatte ich das unerklärliche Gefühl, beobachtet und beschützt zu werden. Das machte es jedoch nicht unbedingt einfacher, in der Welt zu sein. Es könnte ziemlich schwer sein, irgendeine Bedeutung im gewöhnlichen menschlichen Leben zu finden. Es war schwer, nicht zu bemerken, dass die von den Leuten gespielten Spiele in der sogenannten sichtbaren Welt so primitiv waren wie eh und je. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie auf kultiviertere Weise als zuvor ausgedrückt wurden. Das war beinahe das Schlimmste.

Es war bitterkalt, als ich Ende März meine Sachen ins Auto packte und gen Süden nach Montségur fuhr.

Jütland war in Frost und kalten Nebel gehüllt. In Hamburg wurde es milder. Zwischen Kassel und Frankfurt kehrte der Frühling ein, und als ich spät nachts in Mülhausen ankam und Frankreich erreichte, überschritt ich die magische Grenze zwischen Niedergeschlagenheit und Melancholie.

Ich fand ein Plätzchen auf einem Rastplatz außerhalb von Dijon, wo ich einige Stunden schlafen konnte. Gegen vier Uhr morgens wachte ich auf und fuhr weiter nach Süden, bevor der dichte Berufsverkehr die Straßen übernahm. Das Licht veränderte sich außerhalb von Nîmes, und in Montpellier konnte ich durch das offene Fenster bereits die salzige Luft des Mittelmeers riechen. In Narbonne hielt ich an einem Straßencafé, um zu Mittag zu essen. Dort war es so warm, dass ich meine Jacke ablegen musste.

Ich hatte es eilig. Ich hatte das Gefühl, mir laufe die Zeit davon. Obwohl es eine alte Zeit war, war dies an sich eine Mahnung, dass es noch etwas gab, das ich zu erledigen hatte. Die Straße der alten Zeit führte direkt zu meinem inneren Ödland, der ultimativen Sackgasse. Es war ein Ort, den ich nur allzu gut kannte. Die immer wiederkehrenden Erinnerungsbilder von lakonisch lächelnden und verzerrten Masken, hinter denen sich aufgestaute und erstarrte Persönlichkeiten verbergen. Persönlichkeiten, die alle alten und fatalen Verknüpfungen repräsentierten. Gefangenheit. Begrenzung. Jeder ist, genau wie ich, das versklavte Ergebnis der täglichen Bombardierungen durch die manipulierenden Archetypen in einer kranken Gesellschaft. Kauf dies, kauf jenes. Es ist nicht gut, wo du gerade bist! Komm hierher! Hier geht die Show ab! Eine Welt voller Perverser. Berühmt für einen Tag. Die völlige Korruption der Werte. Das herzlose Tier: die Industrie und ihre Lobbyisten. Die gesichtslose Elite: der Sinn der Börse für kaltes Geld. Gottes Auserwählte: die Aktionäre, deren Gier nur noch durch die unverzeihliche Dummheit und Ignoranz des Menschen übertroffen wird. Die abgestumpfte Sichtweise des Menschen, die abgestumpfte Gesellschaft. Der totale Burnout der Seelenessenz. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang das ewige Unterhöhlen des wahren menschlichen Seins, des höheren Selbst. Und weshalb? Aus welchem Grund? Angst? Geld? Macht? Kontrolle? Bequemlichkeit? Langeweile? Der vollkommene Albtraum: Absurdität, die als gesunder Menschenverstand und die Freiheit der Wahl verkauft wird.

Plötzlich erkannte ich es. Ich sah es genau dort, in diesem Straßencafé in Narbonne, dass ich selbst einer der Aktionäre war, mit ziemlich vielen Anteilen an Hoffnungslosigkeit.

„Deine Tage sind gezählt.“

Ich drehte mich um. Aber der einzige Mensch, den ich sehen konnte, saß einige Tische weiter und las eine Zeitung.

Die Stimme.

Gut, das Leben dauert nur fünfzehn Minuten. Und du kannst die Inkarnation als Mensch in einem Leben auf der Erde nicht für selbstverständlich nehmen. Das Leben ist ein Geschenk. Ist es dann nicht wichtig, wie wir es gebrauchen?

Es war Zeit, einen anderen Weg zu finden.

Blitzartig sah ich, wie die junge dunkelhaarige Serviererin ihren kurzen Rock zurechtzog, während sie im Schatten der Markise stand. Es war etwas Vertrautes in ihren Bewegungen, als sie sich umdrehte und die Nähte ihrer Netzstrümpfe gerade zog. Kurz darauf trat sie auf ihren High Heels ins Sonnenlicht hinaus. Ich stellte mir vor, wie unbequem es sein musste, auf ihnen zu gehen. Es war wie ein Stummfilm, der nur wenige Sekunden andauerte, aber immer wieder abgespielt wurde. Es war das Zurechtzupfen ihrer Strümpfe und der Augenblick, als sie ins Sonnenlicht trat und sich zu mir umdrehte. Ich versuchte, es zu ignorieren, aber das Bild wollte einfach nicht verschwinden, und so schrieb ich es meinem schwachen und unstetigen Geisteszustand zwischen der körperlichen und der ätherischen Wirklichkeit zu.

Ich schloss die Augen und zog all meine Sinne ins Zentrum zurück. Dort fand ich mich am Ende eines langen Korridors vor einer Tür stehend. Über der Tür hing ein Schild wie ein diabolisches Grinsen aus dem Jenseits, auf dem der wohlbekannte Text „Die Tür befindet sich innen“ stand. Wo immer diese Tür sich befinden mochte, sie stand leicht offen. Ich drückte sie weiter auf und schritt auf einen kleinen Platz in einer anderen Zeit. Ich erkannte sofort, dass dies derselbe Platz war, wo ich einige Minuten zuvor zu Mittag gegessen hatte und von einer jungen und hübschen Frau in High Heels bedient worden war. Ich hielt inne, um mich zu orientieren. Um mich herum bewegten sich Menschen, die fremd, mittelalterlich gekleidet waren. Zögernd trat ich auf den Platz hinaus, wobei ich wegen der grellen Sonne etwas blinzeln musste. Niemand schien Notiz von mir zu nehmen. Dann sah ich, dass sich die Menschen auf etwas anderes konzentrierten. Die Atmosphäre war hektisch, und es sah so aus, als sollte gleich etwas Bedeutsames geschehen. Ich ließ mich von der Menge durch eine enge Gasse auf einen etwas größeren Platz mittragen, auf dem sich bereits Hunderte von Menschen versammelt hatten. In der Mitte des Platzes war ein großer Scheiterhaufen vorbereitet worden, der jedoch noch nicht angezündet worden war. Auf der rechten Seite standen die Kirchenleute mit ihren Kreuzen in ihren pompösen Gewändern. Ich sah ihre aufgesetzte Frömmigkeit, aus der die Dämonen von Angst und Selbstgerechtigkeit in die Luft um sie herum ausschwärmten. Und ich erkannte, dass dies genau die Art von Frömmigkeit ist, der es an jeglicher Art von Freundlichkeit und Mitgefühl mangelt. Das Kirchenoberhaupt saß auf einem Thron. Kalt und ohne ein Zeichen von Sympathie zu zeigen. Ein hörbares Seufzen ging durch die Menge, als ein primitiver Karren, der von einem Pferd gezogen wurde, auf den Platz fuhr. Eine Frauengestalt stand mit gesenktem Kopf auf dem Karren. Sie wurde von dem Mob mit Rufen verhöhnt, die für diejenigen, die sie schrien, entwürdigender waren als für die, auf die sie abzielten. Der Karren hielt vor dem kirchlichen Würdenträger, der zu der Gefangenen sprach:

„Was willst du: Himmel oder Hölle?“

Die Frau antwortete nicht, sie befand sich bereits anderswo.

Jemand warf einen Stein und traf die Frau auf der Rückseite ihres Beines. Der Schlag ließ sie herumfahren und nach ihrer Wade fassen, während die Menge mit heimtückischem Vergnügen jubelte.

Der kirchliche Würdenträger stand jetzt auf und schrie:

„Nun, was soll es sein?“

Ohne auf die Antwort der Frau zu warten, fuhr er fort:

„Möge dein Schweigen das Menetekel des Herrn sein. Damit hast du dich selbst gerichtet.“

An die Wachen gerichtet sagte er zynisch, so als wäre die Frau bereits tot und er spräche von Kehricht:

„Verbrennt sie!“

Der Anblick des großen, dürren Würdenträgers ließ mein Herz gefrieren. Die deutlich hervortretenden Gesichtszüge umrahmten ein kaltes Lächeln, das Ergebnis einer unausgesprochenen Angst und eines leeren Herzens. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich unsere Blicke. Zuerst sah er verwirrt aus, dann sah er jedoch direkt durch mich hindurch, als ob er in eine ferne Zukunft blickte. Ich wollte etwas sagen, doch die Worte blieben mir im Halse stecken.

Während ich zurück zu dem Platz lief, um die Tür wiederzufinden, durch die ich einige Augenblicke zuvor eingetreten war, hörte ich das herzlose Lachen der Menschenmenge, und bevor ich eilig den langen Gang zurückging, konnte ich den Geruch verbrannten menschlichen Fleisches vom Scheiterhaufen der Inquisition wahrnehmen.

Ich öffnete die Augen. Die junge Kellnerin wandte sich nach hinten, um eine Naht am Oberschenkel zu richten. Dann trat sie ins Sonnenlicht hinaus und kam auf mich zu.

„Que souhaites-tu? Le Paradis ou l’Enfer? Was möchtest du: Himmel oder Hölle?“, fragte sie, als sie vor mir stand.

Wie erstarrt saß ich da. Sie gab mir die Speisekarte, lächelte mich an und sagte:

„Du hast die Wahl zwischen unserem himmlischen Joghurt-Brunch mit Ziegenkäse und frischen Früchten oder dem Diablo-Brunch mit gewürztem Käse und Chorizo.“

Ich brachte kein Wort heraus. Ich starrte nur auf die Karte, während sich Schweißperlen auf meiner Oberlippe sammelten.

„Nun, was soll es sein?“

Ungeduldig wedelte sie mir mit der Speisekarte vor dem Gesicht herum, aber ich war noch immer nicht in der Lage, etwas zu sagen.

„Du siehst wie jemand aus, der unseren Diablo mögen wird“, sagte sie, während sie sich umwandte und wegging.

Ich wollte protestieren, aber sie hörte mich nicht.

„Un diablo“, rief sie in die Schatten hinein.

Ich konnte hören, wie mein verborgenes Selbst hinter den Klängen der Welt wie Blut durch meine Adern raste, das Orchester einer vergessenen Sprache, deren einfachste Musik wie der Ozean ist. Nicht der Klang von Wellen der Melancholie gegen ein Ufer – sondern vielmehr der Klang von keinem Ufer, wie es einmal ein alter Derwisch formulierte.

Man kann vor seiner Vergangenheit nicht davonlaufen. Die Vergangenheit ist, genau wie die Zukunft, ständig jetzt präsent. Alles, was du tun kannst, ist lachen und weinen, im Meer schwimmen, erfüllt vom Verlust, Lust und Sehnsucht nach Land, oder auf dem Wasser zu gehen, voller Liebe, ohne jegliche Erwartungen, wohl wissend, dass nur der Tod in deinem Innern sich nach den Traumstränden sehnt.

„Hier bitte“, sagte die junge Kellnerin mit einem Lächeln, während sie den Diablo-Brunch vor mich hinstellte.

„Bon appétit!“

Ich sah ihr nach, als sie zurück in den Schatten ging.

„Ephatah, ephatah, ephatah, ephatah“, betete ich inbrünstig und spürte sofort, wie sich mein Herz weit öffnete und eine silberne Schnur aus ihm hervortrat, die versuchte, sich mit der Frau zu verbinden. Mein Glaube an die Macht war bedingungslos. Dies war ebenfalls eines der Ergebnisse meines Geisteszustandes. Der ganze Platz wurde augenblicklich zu einem heiligen Raum, in dem der gesegnetste und vollkommene Friede herrschte. Ein strahlendes Gesicht tauchte in der Dunkelheit auf. Die junge Frau lächelte mich an. Ihre Augen waren von Versöhnlichkeit erfüllt. Sie sah den, der ich einst war und der ich heute bin. Sie erkannte nicht den kirchlichen Würdenträger, sondern Gott in seiner demütigsten Verkleidung, sie sah mich an und grüßte mich mit dem Besten, was sie hatte: einem offenen Herzen.

Ich stand auf und ging hinein, um an der Bar zu bezahlen. Sie trocknete einige Gläser ab, die sie dann im Regal über der Theke abstellte.

„Es hat nichts mit der Qualität des Essens zu tun, dass ich es nicht angerührt habe“, sagte ich, „aber ich bin Vegetarier.“

Sie sah mich neugierig an, als ob sie herausfinden wollte, wer ich war und woher ich käme. Ich reichte ihr meine Kreditkarte. Sie nahm sie und sah sie an. Dann versuchte sie, meinen Namen auszusprechen, aber natürlich klang er völlig falsch, wenn auch recht charmant mit dem französischen Akzent.

„Las Myll!“

Sie kostete die zwei Silben aus und sah mich fragend an und brach dann in ein ansteckendes Lachen aus.

Sie versuchte meine Aussprache zu imitieren, aber es klang genauso lustig und zauberhaft wie vorher. Sie gab mir meine Kreditkarte zurück.

„Du wirst nicht für etwas bezahlen, was du nicht bestellt hast“, sagte sie mit leiser Stimme.

„Man bekommst nicht immer, was man will, aber immer das, was man braucht. Und dies war genau das, was ich brauchte“, antwortete ich.

Wir standen da, ohne zu versuchen, diesen Augenblick zu beenden, als ob wir beide wüssten, dass darin eine tiefere Bedeutung lag. Ich brach die Stille: „Lass die Bezahlung das Symbol für den Abschluss einer Rechnung sein.“

Sie zögerte, bevor sie die Karte wieder nahm und durch das Lesegerät auf der Theke zog.

„Wohin fährst du?“, fragte sie.

„Montségur“, antwortete ich.

„Wie lange wirst du fort sein?“

„Einige Wochen, nehme ich an. Es gibt viel zu tun.“

Als ich da so stand, kam mir plötzlich in den Sinn:

„Entschuldigung, wie heißt du bitte?“

Sie lächelte. Dann nahm sie eine Visitenkarte und einen Stift und schrieb langsam die Buchstaben auf. Sie reichte mir die Karte. Auf ihr stand „Belo Bar“. Darüber las ich den Namen, den sie in einer spinnenartigen Schrift aufgeschrieben hatte: Marie Périllos.

Ich dankte ihr.

„Vielleicht komme ich auf dem Rückweg vorbei.“

„Vielleicht?“

Dieser Vorfall ereignete sich zu einer Zeit, als ich noch nicht um die Bedeutung unserer Begegnung wusste. Der Vorfall war jedoch Nährboden für neue Gedanken, und auf der Autobahn zwischen Narbonne und Perpignan wurde mir schließlich klar, dass die Existenz, die ich für die letzten fünfzig Jahre für meine gehalten hatte, nichts anderes war als eine Staubflocke im unbegrenzten Universum ohne Anfang und Ende.

Ich begann zu verstehen, dass ein Ich nichts weiter als eine Welle im endlosen Ozean ist und dass dieses Ich nur eine von unzähligen Ausdrucksformen der notwendigen Begrenzungen des Individuums ist. Möglicherweise, weil wir noch nicht reif genug sind, um die erschreckende Wahrheit über unsere eigene grenzenlose Göttlichkeit aufzunehmen. Stell dir die Verantwortung vor. Dies mag der Grund dafür sein, dass der Mensch so geschäftig seine eigene Realität als eine Parallele zur Schöpfung aufbaut. Und sind die meisten Konstruktionen nicht in Wirklichkeit Ablenkungen weg vom nackten Ich?

Könnte der einzige Unterschied zwischen den Konstruktionen des Materialisten und des Mystikers in der Formulierung liegen?

Ich dachte an Sylvias Worte über den monumentalen Wandel, in dessen Mitte der Mensch sich gerade befindet. „Selbst deine körperliche Erscheinung wird sich wandeln“, hatte sie gesagt. Auch dies entsprach der Wahrheit. Wenn ich ab und zu einen Blick in den Spiegel riskierte, war ich erschrocken, dass mich ein Fremder mit genauso einem überraschten und verwirrten Blick ansah wie ich ihn.

Ich bog außerhalb von Perpignan von der Autobahn ab und folgte der D117 in das Land der Katharer, das geliebte Shangri-La meiner weltlichen Seele. In dem Augenblick, als mir bewusst wurde, dass ich zu keinem bestimmten Ort fuhr und nicht zu einer bestimmten Zeit erwartet wurde, ergriff mich ein Gefühl von Freiheit. Mir fiel auf, dass ich zum ersten Mal in sechs Jahren nicht den Seher an diesem Ort treffen würde, der für uns beide eine solche Bedeutung bekommen hatte. Ich war frei zu tun, was ich wollte. Es gab so viele Orte, die ich nicht kannte und niemals besucht hatte.

Ich nahm in diesem Augenblick den Fuß vom Gaspedal, ließ die Zeit los und schwebte in das Gralsland. Draußen zog die Landschaft verlangsamt an mir vorüber. Estagel, Maury, St.-Paul, Lavagnac.

In Quillan schlug ich die übliche Straße Richtung Foix ein. Daran war nichts Ungewöhnliches. Das Auto quälte sich durch eine Haarnadelkurve nach der anderen. Als ich auf der Höhe angekommen war und mich der Straße nach Belcaire näherte, spürte ich eine Kraft, die mich in diese Richtung zog. Eine andere Willenskraft als meine eigene beharrte darauf.

Ein Sonnenstrahl schnitt draußen durch die Fichten und explodierte innen in meinem Auto. Es war beinahe wie in den Kinofilmen, wenn Leute von Außerirdischen besucht werden. Überrascht drehte ich den Kopf zum Beifahrersitz, aber er war leer. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass noch jemand mit mir im Wagen saß.

Estagel, Belcaire, Camurac, Prades. Über den Col de Marmare und Col de Chioula. Ax-les-Thermes.

Die Sonne ging unter. In den Pyrenäen geschieht dies innerhalb weniger Augenblicke.

Der Wagen fuhr weiter gen Süden. Kurz hinter der Stadt hatte ich den Impuls, abzubiegen.

Ein Wegweiser zeigte die Richtung nach Orlu an.

Die Straße führte durch ein Tal. Zu meiner Rechten lag ein ziemlich großer See. In der Dämmerung konnte ich die Spiegelung des Mondes auf der Wasseroberfläche sehen. Nachdem ich fünfzehn Minuten gefahren war, endete die Straße auf einer mit Kies bedeckten Freifläche. Ich parkte zwischen einigen Bäumen und stieg aus. Für einen Augenblick hielt ich inne, um mich zu orientieren, ohne mehr zu wissen, als dass ich mich entschlossen hatte, meiner Intuition zu folgen oder der Kraft, die mir den Weg zeigte. Ein Weg verschwand in der Dunkelheit zwischen den Bäumen. Ich folgte ihm und begann den Aufstieg.

Es war, als würde ich aufwärts getragen. Mein Zeitgefühl war aufgehoben. Eine unerklärliche Kraft durchfuhr mich. Sie ist schwer zu erklären, aber wenn ich einige ihrer Inhalte beschreiben sollte, so könnte ich es nicht besser als mit dem Wort Information. Nicht einfach Information als pragmatisches Wissen, sondern eine Art Gewissheit, die unerklärlich ist. Diese Information kam nicht von einem besonderen Ort. Sie kam aus dem Inneren, war um mich herum und war eine Art von nichtlokalem Hier-dort-und-überall-Zustand des Geistes.

Die unsichtbaren Hände der Kraft schoben mich sanft zwischen den Bäumen hindurch zu einem freien Platz auf einem Plateau, wo mich eine völlig unerwartete Aussicht erwartete. Soweit ich sehen konnte, erstreckte sich vor mir ein merkwürdig aussehendes Wasserreservoir mit seltsamen Ausmaßen. Dieser irreale See sah wie etwas aus, das vom Himmel gefallen sein musste, wenn es nicht der Himmel selbst war. Der Mond lag wie eine reife Frucht aus einem fremden Universum auf der spiegelgleichen Wasseroberfläche, ein Tor zu anderen Realitäten, und ich hatte keinerlei Zweifel, dass es in diesem Moment weit offen stand. Die Stimme sprach zu mir. Aber ich begriff, dass sie immer zugänglich ist – für jene, die Ohren haben zu hören und die in der Lage sind, im universalen Gedächtnis der Menschheit zu lesen.

„Es gibt nur ein Gedächtnis.“

Tausende von Gedanken kamen mir in den Sinn. Ich wusste natürlich um die Wirklichkeit der Akasha. Doch in dem Augenblick, als die Stimme sprach, wurde mir die Begrenztheit meines Wissens schmerzhaft bewusst. Die Akasha-Chronik ist das Gedächtnis der Ewigkeit, die alles enthält, was geschieht und je geschehen ist. Sie ist wie ein fotografischer Film all unserer Wünsche und Erfahrungen hier auf der Erde.

Akasha ist das ätherische Gedächtnis alles Erschaffenen. Hier sind alle Gedanken, die jemals gedacht worden sind, gespeichert. Vom Zeitpunkt der Speicherung an haben jene Gedanken die Möglichkeit, retrospektiv zu reagieren und als archetypisches Material ausgedrückt zu werden, das sich auf den Menschen auswirkt, indem es ihn entweder in seinen alten Vorstellungen gefangen hält oder ihm die Option für neue Möglichkeiten schenkt.

„Gedanken sind formbildende Energie, die auf allen verschiedenen Ebenen Prägungen hinterlässt.“ Die Stimme sprach zu jenem Wissen, das ich zu dieser Zeit besaß, das nun aber einer umfassenderen Einsicht weichen musste.

„Der Mensch ist von kosmischer Information umgeben. Sie ist überall auf der ätherischen Ebene und immer in Reichweite. Hat der Mensch eine brillante Idee oder erfährt er die Nähe einer höheren intuitiven Präsenz, dann ist das kosmische Information, die einen winzigen Tropfen ihres Inhalts auf den Menschen fallen lässt. Wird der Mensch sich dessen nicht bewusst, so wird er in der üblichen betäubten und lärmenden Realität bleiben und sich selbst von jeglicher Art Hilfe aus dem Innern und von oben abschneiden.“

Plötzlich sah ich mich, wie ich versuchte, meinen Garten zu bewässern, während ich gleichzeitig auf dem Schlauch stand. Es war die elementarste Art von Lektion, die ich je bekommen hatte. Meine Selbstgerechtigkeit und Überlegenheitsgefühle waren mit einem einzigen Atemzug wie weggeblasen. Ich konnte tatsächlich spüren, wie die Eigenschaften in mir aus der Dunkelheit herausgezogen wurden. Ich fühlte, wie meine Abwehr zusammenbrach und der Gewissheit um meine wahre Identität Raum gab.

„Das Maß von Chaos in der Welt entspricht proportional der Anzahl chaotischer Gedanken im Geist des Menschen. Alle Universen sind Ergebnisse der Gedankenenergie. Dies zu verstehen, ist eine Voraussetzung für das Verständnis der vier- oder fünfdimensionalen Wirklichkeit. Der Wandel geschieht jetzt. Alles muss dafür vorbereitet werden. Neue Energien befinden sich auf dem Weg, und diese Energien sind vom Menschen abhängig.“

Plötzlich trat Stille ein. In diesem Augenblick begriff ich, dass es der kleine Funke Angst in mir war, der aus dem kollektiven Feuer von Angst entsprang, der die Stimme zum Schweigen gebracht oder mich vielmehr für ihre Präsenz taub gemacht hatte. Etwas in mir begann zu atmen, von den Füßen aufwärts und durch den ganzen Körper.

Unmittelbar kehrte Ruhe ein.

Himmlische Vater-Mutter – Du, Der Du überall bist –, geheiligt werde Dein Name – Dein Reich komme – Dein Wille geschehe – hier und jetzt und immerdar.

Du, Der Du in mir bist.

„Gleichzeitig mit dem Eintreten in die sich ausdehnende ätherische Wirklichkeit wird sich der Mensch auf allen Ebenen wandeln. Die ätherische Wirklichkeit erlaubt es dem Menschen, auf einer höheren Ebene zu denken, was bedeutet, dass die physische Genetik durch die spirituelle Genetik überhöht wird. Das wird eine solche Auswirkung auf die DNA des Menschen haben, dass der Mensch in der Lage sein wird, Nahrung aus dem Licht auf der ätherischen Ebene zu ziehen. Die Erinnerung an den wahren Ursprung muss wiederhergestellt werden.“

Der atemberaubende Anblick war in einen paradiesischen Frieden gebettet.

Ein blasses, durchsichtiges und strahlendes Wesen schwebte über die Wasseroberfläche, wo es allmählich im Widerschein des Mondes verschwand.

„Du, Der Du in mir bist.“

Die Unterweisung war fürs Erste vorüber. Ich drehte mich um und ging zum Wagen zurück. Eine Stunde später war ich wieder in Ax-les-Thermes, wo ich mir ein Zimmer in einem kleinen Hotel am Ortsrand nahm. Es gab kein großes Brimborium, einfach nur Gewissheit.

Trotz der Reise und der außergewöhnlichen Erfahrungen war ich nicht im Mindesten müde. Im Gegenteil, ich war von einer unerklärlichen Vitalität erfüllt. Aber was tut man in einem kleinen Zimmer mit nur einem kleinen Tisch, einem unbequemen Stuhl und einem verlockend weichen Doppelbett? Man legt sich hin und versucht zu schlafen.

Dann bemerkte ich, dass dieses Wesen noch immer bei mir war. Ich stand auf, schaltete das Licht ein und sah mich um. Niemand da. Dann schlüpfte ich zurück ins Bett, knipste das Licht aus und spürte, wie jemand meine Hand nahm und mich auf ein klares Licht am Horizont zuführte.

„Du, Der Du in mir bist.“

Der Gral

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