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ОглавлениеDer blaue Engel stand in der Tür, verkleidet als eine ältere Dame in ihren Achtzigern.
Eine Aura umgab sie, strahlend wie Sonnen und Monde in unendlichen Milchstraßen; die klaren und herzlichen Augen eines jungen Mädchens, das mich anlachte, erfüllt von Wärme, Fürsorge und Liebe, blickten mich durch die Augen der älteren Frau an, die nicht von dieser Welt war.
„Wieso hast du so lange gebraucht?“, lachte sie. „Doch besser spät als nie. Schön, dich zu sehen. Komm doch herein.“
Ihre Worte rollten sich wie ein roter Teppich aus, und als ich über die Schwelle schritt, wusste ich, dass ich in die Welt eintrat, nach der ich so lange gesucht hatte, von der ich aber nicht mehr glaubte, dass sie wirklich existiere. Irgendwie spürte ich, dass dies vielleicht der wichtigste Schritt war, den ich je auf meiner langen Reise nach Hause unternommen hatte.
Die Frau trug ein blaues Kleid mit einem passenden blauen Hut.
Im Wohnzimmer herrschte eine gewisse Ordnung inmitten der chaotisch ausgebreiteten Bücher, Ringordner und Dokumentenstapel auf Tischen und Bücherregalen. Wir ließen uns in zwei Lehnsesseln zu beiden Seiten eines niedrigen Tischchens nieder, das lediglich Platz für zwei Tassen bot, in die sie dampfenden, köstlich duftenden Tee eingoss.
„Ach Lars, könntest du uns die beiden Kuchen holen, die ich für uns gekauft habe. Sie sind in der Küche. Ich bin nicht mehr so beweglich, wie ich es einmal war.“
Ich stand auf, und es gelang mir, einen Weg zwischen den Büchern und Dokumenten zu finden. In der Küche standen zwei Stücke Weihnachtsgebäck, die so groß waren, dass sie für mindestens zwölf Leute ausgereicht hätten.
„Ach so, die beiden sind übrigens für dich“, rief sie aus dem Wohnzimmer herüber. „Ein junger Mann wie du braucht etwas Gehaltvolles. Ich für meinen Teil esse dieser Tage nichts.“
Das Lachen in ihrer Stimme erfüllte den Raum, ein glockenheller Klang, der durch mich hindurchströmte, als ich mir ein Stück von dem Kuchen abschnitt und es auf einem kunstvoll gravierten Kristallteller in das Wohnzimmer balancierte.
„Ich habe auf das Kommen dieses Augenblicks viel länger gewartet, als du dir jemals vorstellen kannst“, sagte sie, als wir uns wieder einander gegenübersaßen.
„Ich habe deine Bücher noch nicht gelesen, aber als mein Sohn mir das Bild der Maria in dem Buch Magdalena zeigte, war mir klar, dass der Bote, auf den ich vierzig Jahre lang gewartet habe, sich endlich gezeigt hatte. Ich war schon kurz davor, die Hoffnung aufzugeben. Das Direktorium im Obergeschoss weiß, wie oft ich gebetet habe, du mögest dich zeigen. Das Bild der Maria war ein ständiges Rauchsignal. Und jetzt haben wir beide unsere Antwort erhalten.“
Ihre Stimme war klar und hell und von Sonnenlicht erfüllt.
„Wusstest du selbst, was los war?“, fragte sie neugierig.
Ich erzählte ihr von dem Medium in London, das mir vor vielen Jahren vorausgesagt hatte, ich solle Sylvia begegnen. Ich erzählte ihr von dem Seher und der Arbeit mit ihm und auch von der unerwarteten Kraft, die in mir freigesetzt wurde, als wir unsere Verbindung abbrachen. Eine Kraft, von der ich mir nicht sicher war, ob ich mit ihr würde umgehen können. Schließlich erzählte ich ihr von meiner Intuition, als das Buch beendet war und auf dem Weg zur Druckerei war, die mir sagte, ich solle das Bild der Maria ans Ende des letzten Kapitels platzieren, ohne wirklich zu wissen, warum.
Während ich ihr davon erzählte, saß sie mit einem unschuldigen Lächeln vor sich hin summend da, als wüsste sie bereits alles. Als ich meine Geschichte beendet hatte, sagte sie:
„Alles ist gut. Alles ist genau so, wie es sein sollte.
Eine ununterbrochene Kette von Ankünften und Abfahrten, von Wiedererkennen und Anerkennen. Was sind wir denn, wenn nicht Reisende, die in einem ewigen Kreislauf sich begegnen und wieder trennen, weinen und lachen, tanzen und sterben. Reisende Seelen in Zeit und Raum. Eine Tasse kann keinen Ozean aufnehmen. Eine Wolke lässt sich nicht in eine Tasche stecken. Die Kenntnis der Ewigkeit kann nicht von einem einzelnen Menschen aufgenommen werden. Deshalb hat Gott mehr als ein Individuum geschaffen, und unter ihnen muss der Gralsritter die größte Last an Erkenntnis erwerben, das heißt, das Wissen um seine eigene Herkunft, seine Aufgabe und sein Ziel. Alles, was du bisher durchgemacht hast, deine Siege und deine Niederlagen, waren notwendige Schritte auf dem Weg, der dich hierhergeführt hat. Du gehst so oft fehl in deiner Richtung, bis du lernst, die Zeichen zu entziffern, aber am Ende gelangen wir alle dahin. Was dich und den Seher angeht, musst du dich erinnern, dass immer, wenn sich eine Tür schließt, eine andere sich öffnet. Eines Tages werdet ihr euch wiederbegegnen, vielleicht nicht in diesem Leben, sondern in einem anderen, in dem du dann die Aufgabe beenden wirst, die du vor langer Zeit auf dich genommen hast. Die Energien, denen du momentan ausgesetzt bist, sind klärend für dich. Die kosmische Macht kann sich auf der Erde nur durch Fleisch und Blut manifestieren und durch ein makelloses Wesen. Ich für meinen Teil bin nur so lange am Leben erhalten worden, damit ich in der Lage bin, mein Wissen an dich weiterzugeben.“
Sylvia – Der blaue Engel
„Was ist das für ein Wissen?“, fragte ich.
Sie blickte mich forschend an, so als zweifelte sie für einen Augenblick daran, dass ich der sei, den sie erwartet hatte. Dann sagte sie:
„Wenn ich von MU-Energie spreche, was sagst du dazu?“
Die Frage hing in der Stille zwischen uns. Gedanken blitzten durch meinen Kopf. MU-Energie. Das klang vertraut, aber ich hatte nicht das Gefühl, ihr hier und jetzt eine befriedigende Antwort geben zu können. War das eine Prüfung?
„Na gut, ich kann warten“, sagte sie, während sich ihr Blick durch die bröckelnden Überreste meines Verteidigungssystems brannte.
„Stattdessen könnte es dich vielleicht interessieren, wie lange es her ist, dass Maria Magdalena in meinen Besitz gelangte.“
Ich nickte eifrig.
„Als junge Frau wurde ich von einer holländischen Hohepriesterin nach Montségur in die Pyrenäen eingeladen. Soweit ich deiner Erzählung entnommen habe, hast auch du dort eine schwierige Schulung durchlaufen.“
Ich nickte bestätigend, und sie fuhr fort:
„Zu jener Zeit hatte ich keine Ahnung von der Gegend und ihrer Kraft. Wir waren dort zwölf, alles Frauen, die zur Burg von Montségur gebeten worden waren. Wir erhielten dort eine Initiation, von der ich dir aufgrund meines Schweigegelübdes nichts erzählen kann. Noch nicht. Vielleicht später. Wir werden sehen.“
Sie hielt inne, als ob sie nach den richtigen Worten suchte.
„Nach der Initiation, die drei Tage und drei Nächte dauerte, wurde jeder der neu initiierten Priesterinnen eine der Katharerburgen in der Gegend zugewiesen. Als die Hohepriesterin feststellte, dass es für mich keine Burg gab, wurde ich zur Kirche von Rennes-le-Château gefahren. Diese kam dann in meine Zuständigkeit.“
Sie erhielt erneut inne, um ihre Worte wirken zu lassen, und sah mich direkt an, bevor sie fortfuhr:
„Ich gehe davon aus, dass dir bewusst ist, dass ich von der Kirche Sainte Marie-Madeleine spreche. “
Ich nickte zustimmend. Das war zu schön, um wahr zu sein.
„Als wir in den kleinen Ort hineinfuhren, spürte ich unmittelbar die Präsenz einer machtvollen Energie, die ich mir damals jedoch nicht erklären konnte. Aber als ich in die Kirche der Maria Magdalena eintrat, wäre ich beinahe in Ohnmacht gefallen, solch eine starke Wirkung hatte sie auf mich. Die Kirche befand sich zu jener Zeit in einem erbärmlichen Zustand. Das war vor der Auffrischung der von dem berühmten Priester Saunière vorgenommenen Restaurierung; durch sie wurden erneut einige der Hinweise auf das Geheimnis verhüllt, nach dem viele Abenteurer in Rennes-le-Château und Umgebung vergeblich Ausschau halten.“
„Was für Hinweise?“
Sie antwortete nicht, sondern lächelte geheimnisvoll und sah mich mit Augen an, die Sphären durchdrangen und in unbekannte Universen zu blicken schienen. Ein abwechselnd golden und violett strahlendes Licht umgab sie. Eine weiße pulsierende Krone aus Kristall schwebte über ihrem Kopf.
„Momentan gibt es ein großes Interesse an Rennes-le-Château. Meist aus den falschen Gründen. Weißt du, das Bedürfnis nach spiritueller Unterhaltung ist das Ergebnis tief verwurzelter Trägheit und neurotischer Abhängigkeit von Materie und Angst, die das Bedürfnis nach schneller Befreiung schaffen, schnelle Lösungen fördern und auf direktem Wege zu astralen Wahnvorstellungen führen. Auf diese Weise kann man tatsächlich für alle Ewigkeit auf der Oberfläche des spirituellen Vergnügungsparks weiterspielen. Das Ganze wird zu Illusion anstelle von Intuition, zu Schwärmerei anstelle von kreativer Vorstellungskraft, zu Halluzinationen anstelle von visionärer Kreativität. Es ist nichts falsch daran, nach Transformation zu streben. Aber du musst den Mut haben, dir deine eigenen Gründe anzuschauen, damit du verstehst, was aus alten Wunden, Angst, Minderwertigkeit und Bindungen an Dinge und andere Menschen stammt und was sich auf wahre genaue Überprüfung des eigenen Inneren, Bestätigung und Gewissheit gründet.“
Ihr ozeangleicher Blick umfing mich freundlich, als sie ihre Erklärung fortsetzte:
„Letztlich lässt sich alles auf einen Mangel an Liebe und einen Mangel an Wissen um die wahren Kräfte der Seele reduzieren. Es ist wirklich ziemlich banal, aber trotzdem wahr.“
Sie zeigte in Richtung Küche:
„Noch Kuchen?“
Ich schüttelte ablehnend den Kopf. Es war bemerkenswert, mit welcher Leichtigkeit sie zwischen der weisen, klarsehenden Hohepriesterin und der freundlichen älteren Dame, die um mein Wohlergehen besorgt war, hin und her wechselte.
„Ich bin froh, dass du da bist. Du und ich, wir haben viel zu tun, aber uns läuft die Zeit davon.“
Trotz ihrer offensichtlichen Fürsorge für mich spürte ich, dass da noch etwas war, das den Kommunikationsfluss zwischen uns hemmte. Sie las offenbar meine Gedanken, denn kurz darauf sagte sie:
„Lass dich nicht entmutigen, aber ich muss sicher sein, dass du die nötigen Qualifikationen besitzt, bevor ich dir das Wissen mitteilen kann, das hinter vierzig Jahren Schweigen verborgen liegt.“
Sie hatte den letzten Satz kaum ausgesprochen, als mich ein unbeschreiblicher Friede umfing. Das Wesen mir gegenüber, das bisher wie eine ältere Dame ausgesehen hatte, schien sich aufzulösen. An ihrer Stelle blickte ich nun in eine Sternen-Konstellation, die ich nur als engelsgleich beschreiben kann. Dann wurde ich sanft, aber energisch emporgehoben, als griffe mich eine Riesenhand und zöge mich durch die fließende Wand aus Kristallen, weiter durch ätherisches Licht in die Astralsphären wie ein endloser Atem, der eine Ebene nach der anderen durchbrach, bis ich durch den letzten Schleier der Begrenzung in eine Art fließendes Dasein gezogen wurde, für das ich nur das Wort Freiheit finden kann – nur um wieder zurück durch die Welten, zurück in das Wohnzimmer gezogen zu werden, wo ich mich mit einem Seufzer Sylvia und ihrem warmen Lächeln gegenüber wiederfand. Alles ging so schnell, dass es keine Zeit gab, darüber nachzudenken. Es war wie eine Prüfung, die etwas über meinen gegenwärtigen Bewusstseinszustand aussagen sollte. Eine weiße Rose erschien zwischen uns. Sie schwebte auf den Tisch vor mir herab.
„Sie symbolisiert deine Seele“, sagte sie, wobei sie mich aufmerksam ansah. Ruhig saßen wir in der Stille; dann fuhr sie fort:
„Es ist wichtig, dass du an deiner Erdung arbeitest. Ich kenne das Gefühl, unsicher zu sein, so wie du dich gerade fühlst. Daher weiß ich auch, wie wichtig es ist, dass du dir wieder eine solide Grundlage schaffst. Du musst nun den entscheidenden Abschnitt deiner Gralsreise antreten. Dabei wirst du das Geheimnis der gefangenen Prinzessin erfahren, die befreit werden muss, und des Drachen, der besiegt werden muss, bevor der Prinz seinen Becher heben und das Elixier der Ewigen Lebens trinken kann. Du wirst die metaphorische Wahrheit der Gralslegende begreifen wie auch all ihre allegorischen Bedeutungen. Nur wenn du diese Reise selbst machst, wirst du fähig sein, das wahre Wissen zu erwerben und es rein darzubieten.“
„Ist es dir möglich, einiges von deinem Wissen, das du bei deiner Initiation in Montségur empfangen hast, zu offenbaren?“
In dem Augenblick, da ich die Frage stellte, wusste ich, wie unangemessen sie war. Ihr kaum hörbarer Seufzer war eine deutliche Bestätigung dieses Umstands.
„Täte ich das, würde es die wichtigste Motivation für dich, aufzubrechen, beseitigen.“
„Wohin geht denn diese Reise?“
„Auf der körperlichen Ebene in das Land der Katharer. Auf der inneren Ebene zu der Gralsburg in deinem Herzen.“
„Weshalb genau das Land der Katharer?“
„Weil es eine zentrale Rolle in einigen deiner Inkarnationen spielt, teils als Priester und teils als Troubadour. Du trägst ein Abbild davon in deinem tiefsten Selbst.“
„Gibt es eine besondere Kraft in diesem Gebiet, die mir den Erfolg sichert?“
„Ja, genauso wie es überall der Fall ist, wo sich im Laufe der Jahrhunderte eine besondere Energie angesammelt hat. Du kannst auch nach Jerusalem oder Assisi gehen, nach Lourdes oder Damaskus. Es gibt zum Beispiel eine Kraft auf Island, die zurzeit gerade erst entdeckt wird. Du könntest auch hier in Dänemark anfangen. Es gibt eine Menge passender Orte, aber denke daran, dass diese Orte eher der Ausdruck einer inneren Realität sind als Ausdruck äußerer Ziele. Weder Shambhala noch Shangri-La sind Orte, sondern lediglich Geisteszustände. Jeder Mensch ist ein Tor zum Kosmos. Aber es setzt voraus, dass dieser in Frage kommende Mensch bereit ist, verantwortungsvoll zu sein und sich auf diese Erkenntnis zu konzentrieren. Es ist bedeutsam, dies zu verstehen.“
„Hat deine eigene Initiation irgendetwas mit meiner Reise zu tun?“
Nachsichtig schüttelte sie den Kopf:
„Es ist ziemlich berührend, wie du versuchst, mir meine Geheimnisse auf so unschuldige Weise zu entlocken, indem du vorgibst, nicht zu wissen. Aber du bist nicht sehr überzeugend. Es gibt keinen Grund, weshalb wir uns weiter auf die Probe stellen sollten. Lass uns jetzt zur Sache kommen.“
Der blaue Engel schwebte noch immer über meinem Kopf. Dann verschwand er schneller, als mein Auge ihm folgen konnte. Ich konnte nicht umhin zu denken, dass diese Vorstellung lediglich eine weitere Art war, auf die Sylvia mich prüfte.
„Von heute an wird nichts mehr so sein, wie es einmal war. Du musst damit rechnen, dass sich dein körperlicher Ausdruck verändern wird, von der Zellebene bis hin zu deiner körperlichen Erscheinung. Es werden neue Energien fließen; manche von ihnen werden dir recht schwer und mühsam vorkommen, weil sie aus unbekannten Universen stammen und weil du noch immer mit einigen persönlichen Begrenzungen kämpfst. Es ist irgendwie ein Paradox, denn nur durch das Loslassen deiner weltlichen Bindungen können die Energien frei fließen. Andererseits ist es auch notwendig, geerdet zu bleiben. Es geht darum, eine sehr feine Balance zu halten, die du finden und wahren musst.“
Während sie sprach, wurde ein Dreieck sichtbar. Auf der rechten Seite stand Sylvia auf der unteren Linie und auf der linken stand ein Abbild von mir. An der Spitze des Dreiecks stellten wir beide das engelgleiche Wesen dar.
„Bitte beachte, dass dieses Dreieck, das du siehst, die fehlende Spitze der Großen Pyramide ist. Auch wenn wir am Fuß des Dreiecks stehen, ist es der Fuß der kleinen Pyramide, die den oberen Teil der großen bildet. Das macht einen großen Unterschied aus. Zwischen uns schaffen wir den Engel an der Spitze der Pyramide, der von nun an dein Beschützer sein wird. Auf diese Weise kann der Mensch, paarweise oder in Gruppen, engelgleiche Gedankenformen zum Wohle der Menschheit manifestieren. Dies ist weiße Magie oder wahre Alchemie.“
Mit einigen Mühen stand sie auf und verschwand langsam in der Dunkelheit zwischen ihren Bücherstapeln. Zehn Minuten später kam sie mit einem Stück Papier wieder zum Vorschein, das sie vor mich auf den Tisch legte. Ich nahm es auf. Es erwies sich als eine Serviette mit einem seltsamen Symbol und den Buchstaben MU, die offenbar in großer Hast mit einem Kugelschreiber daraufgekritzelt worden waren.
„Das lässt dich an etwas denken, nicht wahr?“
„Aber was soll das sein“, fragte ich.
Sie antwortete nicht, sondern fragte mich stattdessen:
„Ist dir am zwanzigsten April irgendetwas Außergewöhnliches widerfahren?“
Ich überlegte, konnte mich jedoch nicht an den fraglichen Tag erinnern. Also holte ich mein Tagebuch heraus und fand den Tag. Bingo!
„Dies war der Tag, an dem mein Buch über Maria Magdalena veröffentlicht wurde.“
Sie gluckste glücklich:
„Ich war an jenem Tag im Krankenhaus. Eine Schwester brachte mir Kaffee und Kuchen. Die Serviette vor dir lag auf dem Teller.“
Unsere Blicke begegneten sich und wir konnten nicht umhin zu lachen. Das Bild des jungen Mädchens tauchte inmitten einer Mannigfaltigkeit von Sternen auf. Es dauerte nur einen Augenblick, dann verschwand es.
Sylvia nach ihrer Initiation
„Das Direktorium im Obergeschoss war ziemlich geschäftig“, sagte sie, als sie wieder zu Atem gekommen war.
Sie griff nach der Teekanne und goss mir Tee ein.
„Welche Bedeutung hat das Symbol in Verbindung mit MU?“, fragte ich.
„Ich bin mir noch nicht ganz darüber im Klaren. Aber wie du vielleicht weißt, ist MU der ätherische Kontinent der ersten Seelen auf Erden, LeMUria. MU ist im alten Ägypten das alte Zeichen für Wasser in allen Formen. Im griechischen Alphabet ist Mu der Mittelpunkt, oder etwas, das zwischen dem Anfang Alpha und dem Ende, Omega, liegt. MU ist der höchste Schwingungszustand des Elements und der Vorstellung von Wasser. Es ist lebendiges Wasser, die Voraussetzung für das transformierende Feuer, welches von Zarathustra und folglich durch Yeshua verkündet wurde. Die MU-Energie ist der höhere Äther, wo Wasser und Feuer zusammentreffen.
MU ist das buddhistische mystische Wort für die Eliminierung jeglicher Art von Versuchung. MU ist das Läutern der Seelen.“
Die Worte glichen kleinen Kerzen in der Luft, ein uraltes Wissen, das lediglich des rechten Impulses bedurfte, um sich zu manifestieren.
„Dein eigener Name ist eine Allegorie auf das Mysterium, um dessen Lösung willen du hier bist und das du weitergeben sollst. Einige Teile sind offensichtlich. Die ersten beiden Buchstaben in deinem Nachnamen ergeben MU. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob du in der Lage sein wirst, in deiner gegenwärtigen Verfassung alles über das in deinen Namen eingewobene Geheimnis zu verkraften.“
Ich wollte ihr widersprechen, aber sie fuhr stattdessen fort:
„Du bist eine alte Seele. Aber eine alte Seele, die in früherer Zeit tief gefallen ist. Dein Wesen besteht aus einem sehr schönen und strahlenden Zentrum. Es gibt eine Menge an Liebe und Heilung in dir. Aber du hast auch ein selbstzerstörerisches Element in dir, einen Anteil, den du noch nicht angenommen hast und um den du dich kümmern musst. Wenn du das schaffen kannst, wird dich nichts mehr auf deiner Seelenmission aufhalten.“
Ihre Worte waren ein Echo, das von einer unbekannten Mauer irgendwo in der Vergangenheit zurückgeworfen wurde. Trotz der vielversprechenden Aussichten war die Warnung deutlich.
„Du wirst die Prinzessin dort finden, wo der Drache ist. Finde die Prinzessin, und du findest den Drachen. Und dort, wo du sie findest, wirst du auch den Gral finden. Die drei sind unauflösbar miteinander vereint.“
„Was für eine Prinzessin?“
„Die Prinzessin in dir. Den weiblichen Aspekt im Mann. Aber es gibt auch eine Frau, die dort draußen wartet. Wenn Männer und Frauen bloß um die Möglichkeiten wüssten, die sie besitzen, wenn sie zusammen sind. Die im Altertum Initiierten arbeiteten immer paarweise. So wie Simon der Magier seine Helena hatte, Yeshua seine Mariam, Paulus seine Thekla. Nicht viele Christen sind sich dessen bewusst. Als sie im Jahr 325 die Kirche gründeten, war es zuallererst eine politische Tat mit der Absicht, die autonome gnostische und mystische Gesellschaft, die zu Yeshuas Zeit und in den Jahren nach seinem zeremoniellen Tod blühte, aufzuhalten. Bei Gründung der Kirche wurden auch die Dogmen und einige Riten des Mitras-Kultes und der Ishtar/Isis-Tradition übernommen, die unter neuen Titeln und Namen in das politische Programm passten. Der Rest wurde totgeschwiegen. Auf diese Weise schütteten sie buchstäblich den Weisheitsaspekt, Sophia, mit dem Bade aus. Die symbolische Parusie geschieht durch Sophia, das heißt den höheren Sophia-Aspekt, der geheim ist. Finde sie, und du hast die Prinzessin gefunden. Dies geschieht heute. Die Parusie des höheren Sophia-Aspekts ist nicht nur eine kollektive Angelegenheit, sondern auch ein Prozess, durch den jeder von uns gehen muss. Aus diesem Grund erfahren so viele Menschen, und insbesondere jene, die spirituell arbeiten, dass dies turbulente Zeiten sind. Dies schließt eine Konfrontation mit dem Alten ein, mit allem, was uns einschränkt. Und das ist für die meisten Menschen schwer. Schau dich um. Hast du bemerkt, wie viele Männer und Frauen sich in der heutigen Zeit gegenseitig verlassen? Nicht, weil irgendetwas mit ihnen nicht stimmt. Sie haben ihre Beziehung lediglich auf einer falschen Grundlage begonnen. Die Menschen müssen heute in eine wahre Beziehung eintreten. So ist es auf allen Ebenen. Nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch mit den Bindungen innerhalb von Familie und Freundschaften, und auch die alten Lehrer-Schüler-Beziehungen werden aufgrund des Neuen, das sich den Weg bahnt, aufgelöst.“
Sie sah mich prüfend an, als hätte sie etwas gesehen und fragte sich nun, ob sie es mir sagen solle. Dann sagte sie:
„Tritt aus dem alten Kreis heraus. Es ist immer schmerzhaft, sich von einem alten Lehrer zu verabschieden. Und umso mehr, wenn er eine Art spiritueller Vater für dich geworden ist. Aber alles hat seine Zeit. Der Seher hat dich viel gelehrt. Es gibt vieles, wofür du dankbar sein kannst. Andererseits hast du auch ihm das Beste von dir gegeben. Nun musst du begreifen, dass deine Zeit mit ihm vielleicht vorerst vorüber ist. Nimm alles auf dich, was aus der Tatsache entspringt, dass du niemandem etwas schuldig bist und es nichts gibt, was du nicht bereits hast. Lass es los. Sonst wird dich deine gewohnte Gestalt zum Zusammenbruch bringen. Der Pakt, den du geschlossen hast, wird dich schützen, wenn du seinen tiefsten Geboten entsprichst, die sich auf gegenseitigen Respekt gründen.“
Ihre Worte waren wie ein Samthandschuh, der mein Herz in das Licht hielt, um den Kummer zu offenbaren, sodass es einen Ausweg daraus fand. Nun sah ich, wie es sich wie ein Vogel am Horizont in der Luft auflöste, auf seinem Weg in die Freiheit, auf die es so lange Zeit gewartet hatte.
„Trotz all des Wissens, das du im Laufe der Zeit erworben hast, musst du den Umstand akzeptieren, dass du jetzt mit leeren Händen dastehst. Sonst wärest du nicht geschmeidig genug und daher nicht in der Lage, andere zu bewegen. Sei stark in deiner Gefügigkeit. Nur dann kannst du mit dem umgehen, was starr geworden ist. Ton wird zu einer Schale geformt und dann im Brennofen erhitzt, um sie haltbar zu machen. Doch es ist der leere Raum in der Schale, der es ermöglicht, dass sie etwas aufnehmen kann.“
Sie streckte einen Arm über den Tisch aus und legte mir die Hand auf den Arm.
„Wenn du eine Schale bist, lass den Inhalt Liebe sein.“
Wir saßen in einer Kathedrale aus Stille, umfangen von ihrer Weisheit.
„Ein Gralsritter ist ein Idealist. Er weiß, dass wahre Liebe in ihrer vernichtenden Aufrichtigkeit hart sein kann. Aber denke daran, dass der Gralsritter, auch wenn er über die Verrücktheit des Menschen lachen mag, doch versucht, das Leiden, das sich daraus ergibt, zu lindern. Das bedeutet nicht, dass er andere Menschen aus ihrer Verantwortlichkeit entlässt – es bedeutet lediglich, dass er seine eigene Verantwortung für sich übernimmt.“
Etwas Unerklärliches manifestierte sich um uns herum. Es war wie eine dritte, aus der Vereinigung unserer beiden Seelen geborene Wesenheit. Aus der Ferne hörte man im Wohnzimmer den Klang einer Kirchenglocke, der die erhabene Stimmung unterstrich.
„Der Unterschied zwischen uns beiden liegt darin, dass du in der Öffentlichkeit arbeiten musst, während ich es im Geheimen tun muss. Aber sei dir bitte bewusst, dass nicht alles offenbart werden sollte. Es gibt noch immer Geheimnisse, die missbraucht werden könnten und missbraucht werden, wenn man sie offenbart.
Es gibt immer schwache Seelen, die nur darauf warten, solche Geheimnisse zu ihrem persönlichen Gewinn auszuschlachten. Sieh dir nur all die sogenannten Lehrer und Gurus an, die leichtgläubige Seelen mit Versprechungen von Initiationen und anderem Blödsinn verführen und die von ihrer eigenen Großartigkeit überzeugt sind. Daher musst du vorsichtig mit dem umgehen, was du offenbarst.“
Obwohl der Tee schon längst kalt geworden war, nahm sie einen Schluck und fuhr fort:
„Du musst akzeptieren, dass unser zukünftiger Kontakt auf telepathische Weise geschieht. Bist du mit Telepathie vertraut?“
Ich grübelte über die Frage nach, als sie mir zur Hilfe kam, indem sie sagte:
„Ich weiß, dass du mit deinem Orakel, Miriam, kommunizierst, und gehe deshalb davon aus, dass wir beide eine Frequenz finden können, die es uns ermöglicht, in Kontakt zu bleiben.“
Sie breitete die Arme aus:
„Mach dir keine Gedanken darüber. Alles wird so geschehen, wie es vorgesehen ist.“
Offenbar arbeitete sie nach einem im Voraus entworfenen Plan. Aber sie ließ nichts über denjenigen verlauten, der diesen Plan entworfen hatte. Etwas sagte mir, dass sie mir nicht alles sagte, sondern einige Dinge verbarg, entweder weil sie dachte, ich sei noch nicht bereit, sie zu verstehen, oder weil sie Gewissheit darüber haben wollte, ob ich ihr Vertrauen verdiente. Ich hatte vieles in meinem Leben erfahren, aber diese Frau war etwas absolut Außergewöhnliches. Wie der Seher war Sylvia von einer anderen Welt.
„Eben jetzt versammeln sich die himmlischen Heerscharen. Diese Tatsache hat Auswirkungen auf allen Ebenen, einschließlich der menschlichen Zelle. Sie stellt alles auf den Kopf. Die Veränderungen, die von vielen prophezeit wurden, treten heute ein. Wir befinden uns tatsächlich mittendrin. Es ist eine harte Zeit, die sich in den vor uns liegenden Jahren noch beschleunigen und die uns alle ausnahmslos beeinflussen wird. Niemand kann dieser kosmischen Prüfung entfliehen, die dem Menschen die Wahl zwischen unbegrenzten Möglichkeiten und der totalen Zerstörung geben wird. Dies ist die Wahl, vor der wir stehen. Die Wahl zwischen der unersättlichen Gier des niederen Ich nach Macht, Dingen und Unterhaltung oder der Möglichkeit, den spirituellen Bestrebungen des höheren Selbst gerecht zu werden. Dies ist die Wahl, die zu treffen jeder von uns jeden Tag bereit sein muss. Möglicherweise jede einzelne Minute.“
Die Zeit lief ab. Ich spürte, dass sich die Audienz dem Ende zuneigte. Deshalb ergriff ich die Gelegenheit:
„Du musst mir ein Zeichen oder etwas geben, woran ich mich halten kann.“
Die Frage schien sie nicht zu überraschen. Und wieder antwortete sie mit einer anderen Frage:
„Was weißt du über die sieben Schleier?“
„Die sieben Schleier?“
„Ja, die sieben Schleier.“
Alle möglichen Gedanken schossen mir durch den Kopf. Automatisch dachte ich an Helena Blavatskys erstes Hauptwerk Isis entschleiert.
„Hat es irgendetwas mit der Blavatsky zu tun?“
Überrascht sah sie mich an:
„Das war eine interessante Verbindung. Sowohl ja als auch nein. Ich bin mir sicher, dass Blavatsky einer der höheren Sophia-Aspekte unserer Zeit war. Aber das Geheimnis der sieben Schleier geht viel weiter zurück. Du selbst hast einen Teil des Geheimnisses in deinem Buch über Magdalena offengelegt. Sieh dir das Matthäus-Evangelium an. Lies nach, wie Salome den Tanz der sieben Schleier vollführt, um die Begehrlichkeit ihres Stiefvaters Herodes zu befriedigen, im Austausch gegen den abgeschlagenen Kopf Johannes des Täufers.
„Kannst du mir mehr sagen?“
Sie musste einfach über meine Unersättlichkeit lachen.
„Manche haben den Eindruck, der Tanz sei eine Art vulgärer Striptease gewesen. Stattdessen war der Tanz der sieben Schleier ein integraler Bestandteil des heiligen Schauspiels, das den Tod des Gesalbten und den Abstieg in die Unterwelt voraussagte, in dem die Göttin jedes Mal ein Kleidungsstück ablegte, wenn der Gesalbte eine der sieben Pforten der Unterwelt durchschritten hatte.“
Sie stand auf.
„Aber da ist noch viel mehr. Dieses Mysterium besitzt Tiefen, die offengelegt werden müssen. Das ist die Aufgabe.“
Wir verabschiedeten uns im Flur. Es war, als hätte ich Sylvia schon immer gekannt, und ich kämpfte mit einer alten Traurigkeit, die aus der Dunkelheit emporstieg und mich beinahe dazu brachte, meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Ich küsste sie auf die Wange, und das Lachen des jungen Mädchens sang in meiner Seele, als ich die Treppe hinunterund in die Welt ging, um den Drachen, die Prinzessin und den Heiligen Gral zu finden.