Читать книгу Der Gral - Lars Muhl - Страница 8
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ОглавлениеDer Zug schnitt wie ein Messer durch die europäische Abenddämmerung. Der Regen peitschte gegen die Abteilfenster.
„Gott pinkelt“, sagte ein kleiner Junge, der mit seiner Schwester auf dem Sitz mir gegenüber saß.
„Carl!“
Ihre Mutter sah mich entschuldigend an, während sie sich zu ihrem Sohn hinüberbeugte und ihm mit einer Papierserviette den Mund abwischte.
„Gott pinkelt nicht“, antwortete seine Schwester, „er weint.“
Es war keine Aussage mit Trommelwirbel, eher die ruhige Feststellung einer Tatsache mit einem schwachen Ausrufezeichen dahinter. Wie ein unterdrückter Atemzug mit einer unmittelbar mattsetzenden Wirkung.
„Dann muss er wohl sehr traurig sein“, seufzte die Mutter resigniert mit leerem Blick auf die beschlagene Fensterscheibe, bevor sie sich wieder hinter einer Frauenzeitschrift versteckte.
Das Mädchen legte den Kopf klaglos auf die Schulter des Bruders. So, wie die beiden dasaßen, brachten sie den Protest einer ganzen Generation gegen die gedankenlose Ablehnung des Heiligsten aller Heiligen zum Ausdruck: die göttliche und zarte Fähigkeit des Menschen, präsent zu sein.
Ich lächelte ihnen mitfühlend zu und lehnte mich in der Hoffnung, etwas Schlaf zu finden, in meinem Sitz zurück.
In der Tasche neben mir lag das Ergebnis von zwei Jahren intensivster Arbeit, das Manuskript für das Buch über Maria Magdalena, die vergessene weibliche Kraft. Aber es war auch das Ergebnis des Aufbrechens eines Lebens. Zwei Jahre lang war ich mehr oder weniger umhergewandert, ohne einen anderen Zielpunkt als das Manuskript. Ich schrieb in einem kleinen Haus in den andalusischen Bergen, in der Gare du Nord in Paris, im Hôtel Costes in Montségur. Zeile für Zeile, Stück für Stück, an zufälligen Rastplätzen, in wechselnden Hotelzimmern und geschäftigen Bahnhöfen, wo immer es möglich war, mich mit meinem Laptop auf den Knien hinzusetzen.
Die Arbeit war vollbracht, und ich war auf dem Weg nach Dänemark, hundemüde. In den Tiefen meines Bewusstseins rührte sich eine Angst, ob die Teile wohl zusammenpassen würden oder nicht. Würde es Kohärenz in dem Chaos geben? Das war alles, woran ich denken konnte, bevor ich zum Klang der Tränen Gottes einschlief, die gegen das Fenster prasselten und bedeutsame Muster auf die Rückseite meiner Augenlider zeichneten.
Es gibt eine kleine Stadt, Bélesta, im Tal der Liebe, Val d’amour, in den Pyrenäen. In dieser Stadt gibt es ein Kind, das jedes Mal eine Träne vergießt, wenn ein Blatt vor seiner Zeit vom Baum fällt. Das Kind betrauert die Unwissenheit der Menschen. Beweint die allgegenwärtige Unwissenheit des Menschen um die wahre Essenz. Betrauert die spirituelle Blindheit des Menschen.
In dieser Stadt steht eine Kirche. Tief im Dunkeln der Krypta unter der Kirche gibt es ein Wasserbecken im Boden, das mit den Tränen dieses Kindes gefüllt ist. Sie bilden ein heiliges Wasser, in dem Pilger ihre Augen baden und ihr Sehvermögen wiedererlangen können.
Ist es nicht ein Paradox, dass die christliche Kirche, zumindest auf einer symbolischen Ebene, ihre wahre Kraft im Unbewussten versteckt?
Die Kirchen im Land der Katharer bergen viele Geheimnisse, die erst in letzter Zeit langsam ans Tageslicht treten. Es gab eine Zeit im Laufe meiner Bemühungen, einige dieser Geheimnisse aufzudecken, in der ich dachte, es gehe dabei um das Offenlegen von Misanthropie und Verlogenheit der katholischen Kirche. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Die Kirche hat im Laufe der Jahrhunderte viele nicht wiedergutzumachende Gräueltaten begangen. Man ist beinahe müde, nur daran zu denken, sie alle aufzuzählen. Aber wie hätte die Kirche anders sein können angesichts der Tatsache, dass sie ein Produkt der dem Menschen eigenen Beschränktheit ist? Genau wie alle anderen Kirchen und Religionen der Welt. Ob ein Neugeborenes eine Initiation als Hindu, Buddhist, Muslim, Jude, Christ oder Atheist erhält, hängt allein von der Wahl der Eltern ab oder den Umständen, die von der jeweiligen Kultur bestimmt sind. Kein Mensch und keine Kirche bestimmt jedoch die wahre kosmische Identität des Kindes. Dies gilt wiederum für uns alle.
Ich glaubte, meine Reise sei fast vorüber. In Wirklichkeit sollte sie gerade erst beginnen, aber damals hatte ich davon keine Ahnung. Mir ging es einzig und allein um das Magdalena-Manuskript. Obgleich ich derjenige war, der es niedergeschrieben hatte, fühlte es sich eher wie ein Geschenk an, das man mir nach Hause zu bringen erlaubt hatte, als wie etwas, das ich persönlich geschaffen hatte. Es erfüllte mich mit tiefer Dankbarkeit, aber auch mit einer seltsamen Leere, einer anderen Art von Leere als der, die man normalerweise erfährt, wenn man etwas beendet hat.
Die Intuition kennt viele Wege. Grundsätzlich kann man sagen, dass Intuition den Menschen nicht benutzt, wenn er sie nicht benutzt. Bestenfalls war meine Reise ein Beispiel dafür, was alles passieren kann, wenn man sich von einer inneren Stimme leiten lässt, die materielle Realität loslässt und in die Seelenlandschaft reist, die im Grunde immer zugänglich ist, aber selten besucht wird und die durch die Einschränkungen der jeweiligen Persönlichkeit gewöhnlich verborgen ist.
Meine Begegnungen mit dem Seher haben mich Einblicke in die zahllosen Ebenen, die uns umgeben, gewinnen lassen, haben mir aber auch die zahlreichen Fallen gezeigt, in die ein Suchender leicht hineintappen kann. Ich habe auf meinen Astralreisen die Unterwelt besucht und bin meinen persönlichen Schatten sowie einer langen Reihe kollektiver Dämonen begegnet, die sich dort verbergen. Ich kam bei meiner Reise nach Toledo in Kontakt mit dem Orakel, einer inneren Stimme, mit der ich Kontakt aufnehmen konnte, wenn ich einigermaßen ausgeglichen war. Aber das alles waren nur Schule und zu lernende Lektionen. Auf einer entscheidenden Ebene war ich noch immer gebunden und voller Angst. Ich musste noch mit meiner grundlegenden Einsamkeit umzugehen lernen, und die zeitweilige Trennung vom Seher machte die Sache nicht einfacher.
Während einer unserer Sitzungen in Montségur, mitten auf dem Höhepunkt unseres Konflikts und um mich zu korrigieren, sagte er mir beharrlich, dass ich nichts weiter als ein Botenjunge des Direktoriums sei. Der Umstand, dass er über das Direktorium der Großen Beleuchtungsgesellschaft im Obergeschoss sprach, entspannte die Situation zwischen uns nicht gerade. Seither sind seine Worte immer und immer wieder zurückgekommen, und in diesem Augenblick klangen sie lauter denn je. Es gab kein Entkommen: Die Zeit war reif für mich, mein Erbe anzutreten. Ich musste mich auf meine eigenen Mittel verlassen.
Der Zug klagte mit all seinen Kupplungen. Der von weither kommende kreischende Klang der Bremsen holte mich aus dem Schlaf. Ich öffnete die Augen. Die Neonröhre an der Decke war ausgeschaltet. Die Mutter mit den beiden Kindern war verschwunden. Stattdessen erhaschte ich einen Blick auf eine Gestalt, die auf dem Sitz mir direkt gegenübersaß und von einem seltsamen, verschwommenen Licht umgeben war. Das Licht war nicht klar genug, als dass ich hätte sagen können, ob es sich hierbei um einen Mann oder eine Frau handelte. Völlig bewegungslos saß diese Gestalt da, und ich blinzelte, um den unsichtbaren Schleier zwischen uns zu durchdringen. Doch ich hatte keinen Erfolg.
Ich wollte etwas sagen und hatte das Gefühl, dass meine Lippen sich bewegten, aber aus einem unerklärlichen Grund gaben sie keinen Laut von sich. Merkwürdigerweise schien das mehr oder weniger normal zu sein. Es waren keine Worte nötig. Etwas, das unter normalen Umständen völlig frustrierend gewesen wäre, veränderte sich nun in vollkommene Akzeptanz. Erst in dem Moment bemerkte ich, welch ein Friede in der inneren Leere herrschte. Ich lehnte mich wieder zurück und überließ mich der Schaukelbewegung des Zuges. Ich war nicht allein.
Ich döste langsam ein und schwebte in der Zeit zurück, bis ich im Jahr 1982 aufwachte. Es war das Jahr, in dem ich, zusammen mit den Warm Guns, das Album Italiano Moderno in den Eden-Studios in London aufnahm. Es war einer jener Tage, an denen der legendäre Songwriter und Produzent Nick Lowe das Studio besuchte. Bei einem Bier hörten wir uns die Aufnahmen dieses Tages an, als er plötzlich auf eine Werbung in Time Out zeigte. Sie betraf „Mediale Lesungen“.
„Warst du schon mal bei einem Medium?“, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. Aber ich wusste sofort, dass ich es ausprobieren sollte.
Zwei Stunden später stand ich vor dem alten Sitz des „College of Psychic Studies“ im Zentrum von London. Vor dem Haus gab es eine kleine Schlange, in der Hausfrauen, Punks und ein Geschäftsmann aus der City warteten. Eine Eintrittskarte kostete zwei Pfund. Man geleitete mich in einen Raum im zweiten Stock.
Ich wurde von einer jungen Frau begrüßt. Wir sagten Hallo, und sie bat mich hinein. Ansonsten sprachen wir nicht. Sie forderte mich dann auf, ihr meine Armbanduhr zu geben. Als ich sie ihr gegeben hatte, hielt sie sie in den Händen und glitt mit geschlossenen Augen in einen tranceartigen Zustand. Nach einiger Zeit begann sie mit gedämpfter Stimme zu sprechen:
„Deine kleine Schwester lässt dir Grüße ausrichten. Sie sagt, es sei an der Zeit, deine Trauer und Schuldgefühle wegen der Ereignisse in eurer Kindheit loszulassen. Sie ist jetzt mit einem Mann verheiratet, der seine Kindheit in demselben Viertel der Stadt verbracht hat, in dem du gelebt hast. Er starb fast zur gleichen Zeit wie deine Schwester, als er zusammen mit einem Jungen seines Alters vor ein Auto lief. Jetzt haben er und deine Schwester geheiratet und eine Familie gegründet.“
Die junge Frau schwieg eine Weile, bevor sie weitersprach.
„Deine Großeltern grüßen dich. Ein Teil von ihnen, und du weißt, wer es ist, denn du hast seine kaputte Taschenuhr bei dir zuhause in einer Schreibtischschublade, sagt, dass dein Vater krank sei und dass du ihm sagen solltest, dass er sein Leben ändern müsse.“
Wieder schwieg die junge Frau und drehte meine Armbanduhr in ihren Händen um.
„Eines Tages wirst du deine gegenwärtige Beschäftigung aufgeben, weil du begreifen wirst, dass es eine andere Art von Musik gibt, die anderen und viel größeren Wert besitzt. Du wirst mit Heilung arbeiten. Im Laufe der Zeit wirst du mit Menschen in Kontakt kommen, die großen Einfluss auf dich und deine wahre Arbeit haben. Eine von ihnen heißt Sylvia. Wenn die Zeit gekommen ist, wird sie dir etwas mitteilen können, das du weitergeben musst. Sei wachsam und vergiss deine innere Kraft nicht. Vergiss nicht dein wirkliches Schicksal.“
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber es schienen mir nur wenige Augenblicke gewesen zu sein. Deshalb war ich überrascht, dass der Fremde nicht mehr im Abteil war und ich ihn nicht gehört hatte, als er ging.
Ich begann über die Vorstellung eines Zuhauses nachzudenken. Wohin gehört der Mensch? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?
Wo leben die Obdachlosen am Hamburger Hauptbahnhof? Wo die Wohlsituierten, die erster Klasse reisen?
Wenn Zuhause ist, wo das Herz ist – wo leben wir dann alle?
Wo war mein eigenes Herz?
Wo ist es jetzt – während ich dies hier schreibe?
Ich habe Tausende von Orten besucht. Ich bin durch endlose Wüsten gewandert. Jetzt erkenne ich, wie oft ich mein Herz um anderer Orte, Vorstellungen, Firlefanz oder der Gesellschaft anderer willen verlassen habe. Alles in der Hoffnung, etwas Sinn zu finden, ein wenig Frieden und die Bestätigung, dass ich letzten Endes geliebt werde. Wobei ich die ganze Zeit vergaß, dass alles, wonach ich suchte, sich bereits in meinem Herzen fand, das ich zurückgelassen hatte.
Gut. Ich mag vielleicht mehr Hilfe bekommen haben als die meisten Menschen. Aber nicht alles, was ich getan habe, wurde gut aufgenommen. Und dafür gibt es Gründe.
Mein Buch über Maria Magdalena wurde quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit publiziert. Ohne eine einzige Besprechung war die erste Auflage nach einem Monat vergriffen. Die fünfte Auflage wurde innerhalb eines Jahres veröffentlicht – ein weiterer Beweis dafür, dass es letzten Endes eine andere Realität, ein verborgenes Netzwerk weit außerhalb des Interesses der Presse und der breiten Öffentlichkeit gibt.
Anderseits handelte mein Buch nicht von einem Niemand. Nach zweitausend Jahren der Vergessenheit begann sich Maria Magdalena und ihre wahre Beziehung zu Yeshua im Geist von immer mehr Menschen in aller Welt zu manifestieren. Das Ergebnis war eine ganze Reihe von Büchern zu diesem Thema, das letzte war Dan Browns Roman Sakrileg, der die Medienschranken mit einem Knall durchbrach und Millionen von Lesern faszinierte.
Mein eigenes Interesse an Magdalena als verborgener weiblicher Archetyp begann Mitte der 1980er Jahre. Dies geschah nach der Begegnung mit einigen Evangelien in den Schriften von Nag Hammadi sowie dem Evangelium der Maria und den gnostischen Schriften der Pistis Sophia. Sie führten mich nicht nur ins Herz einer häretischen Vergangenheit, sondern brachten mich auch in Kontakt mit Spuren, die auf eine Vergangenheit hinwiesen, die uns tiefere Dinge zu sagen hatte als Sensationsenthüllungen und vertrackte Kriminalrätsel.
Die Realität übertrifft immer jegliche Art von bunter Fiktion.
So geschah es, dass mir während eines Vortrags im Haus der Theosophischen Gesellschaft in Kopenhagen ein sechzigjähriger Herr eine Frage stellte, die, wie sich später zeigte, eine bedeutsame Auswirkung auf die Arbeit haben sollte, die ich mit Maria Magdalena begonnen hatte:
„Lars! Das letzte Bild in deinem neuen Buch ist das einer Frau. Aber dies ist das einzige Bild in dem ganzen Buch, das keine Legende oder Erklärung besitzt. Würde es dir etwas ausmachen, uns zu erzählen, woher du dieses Bild hast und wer darauf zu sehen ist?“
Die Frage schickte mir der Himmel. Ich hatte gerade davon gesprochen, dass man seine Intuition herausfordern und sich einige Fragen stellen muss, die man sich sonst nicht beantworten könnte, um auf diese Weise seine energetischen Sinne zu schärfen und Zugang zu der Akasha-Chronik zu gewinnen.
Ich berichtete, was wirklich wahr war, dass ich das Bild irgendwann im Jahre 1983 von einem Bekannten, dem Philosophen John Engelbrecht, bekommen hätte und dass dieser mir erzählt habe, es sei von drei medial begabten Mönchen gechannelt worden. Das Bild sei ein Porträt von Maria, das heißt der Jungfrau Maria. Später begriff ich, dass es genauso gut Maria Magdalena darstellen konnte. Aber da ich keinen echten Beweis dafür besaß, dass dies der Fall war, platzierte ich das Bild ohne weitere Informationen dazu. Das Bild war eine Art Notruf.
Der Herr stand nun auf:
„Vielleicht ist für dich von Interesse zu wissen, dass es meine eigene Mutter war, die dieses Bild in den 1960er Jahren nach Dänemark zurückgebracht hat, und es ist wahr, dass es von drei medial begabten Menschen gechannelt worden ist.“
Der Mann hielt inne, bevor er seine Trumpfkarte ausspielte:
„Des Weiteren kann ich dir bestätigen, dass es wirklich Maria Magdalena darstellt.“
Ein Seufzen ging durch die Menge. Ich hätte nicht mehr überzeugende Beweise für die Macht der Intuition verlangen können. Sie sprach ihre eigene klare Sprache.
Nach dem Vortrag versuchte ich vergeblich, den Mann im Publikum zu finden, um mehr Informationen über seine Mutter zu bekommen. Etwas in mir sagte mir, es sei wichtig, aber die Menschenmenge, die mir Fragen stellen wollte, war zu groß.
Später am Abend in meinem Hotelzimmer erlebte ich ein seltsames Lichtphänomen. Zuerst dachte ich, es sei die Glühbirne in der Lampe auf dem Schreibtisch, die kurz vor dem Verlöschen war. Später fand ich heraus, dass sie gar nicht eingeschaltet war. Eine matt pulsierende Lichtkugel, etwa von der Größe eines Tennisballs, hing in der Luft. Die Kugel wechselte ihre Farbe zu einem Blassblau umgeben von einem violetten Kreis mit einem strahlenden violetten Kreuz darin. Gleichzeitig spürte ich, dass noch eine andere Person im Raum war. Es schien nur eine Minute anzudauern, aber als ich auf meine Armbanduhr sah, stellte ich fest, dass eine Stunde vergangen war. Ich hatte solche Erfahrungen, in denen die Zeit verschwand, schon vorher gehabt. Das Neue hierbei war, dass offenbar keinerlei Bedeutung, Botschaft oder irgendeine Information damit verbunden war. Wohin war dieses Zeitsegment verschwunden, und was war in der Zwischenzeit passiert?
Das Kruzifix in Belcaire
Ich hatte die Erfahrung des strahlenden Kreuzes schon zuvor gemacht. Es geschah bei einem Besuch der kleinen Stadt Belcaire in den Pyrenäen, wo der Seher und ich einige Erkundigungen einholen wollten. Ein lebensgroßes Kruzifix war dort neben einem Denkmal errichtet worden, das an die gefallenen Söhne der Stadt erinnern sollte. Als ich davor meditierte, tauchte eine kleine hellblaue Kugel auf. Sie war von dem gleichen violetten Kreis mit dem violetten Kreuz darin umgeben. Sie sah am ehesten wie eine Seifenblase aus, die vor den Füßen des Gekreuzigten schwebte. Es gelang mir, in diesem Augenblick ein Foto zu machen.
Eine Woche nach meinem öffentlichen Vortrag klingelte mein Telefon. Am Apparat war Hasse Smerlov, der Herr, dessen Mutter das Bild von Maria Magdalena nach Dänemark gebracht hatte:
„Nun ja, es tut mir leid, dass ich dich erst jetzt anrufe, aber ich wollte dich nach deinem Vortrag nicht stören. Ich wollte nur sagen, dass meine Mutter noch immer am Leben ist und sie dich sehr gern kennenlernen würde. Sie wird allmählich alt und es geht ihr körperlich nicht besonders gut. Aber andererseits hat sie einen klareren Geist als die meisten anderen Menschen. Aber das musst du selbst erleben. Wenn du Papier und Stift hast, geben ich dir ihre Adresse.“
Ich kramte nach einem Stift und stieß dabei beinahe eine Kaffeetasse um, bevor ich einen Bleistiftstummel fand.
„Gut“, sagte ich.
„Ihr Name ist Sylvia. Sie lebt …“
Das war alles, was ich mitbekam. Nur ein einziges Wort blieb in der Luft hängen wie der Klang einer geheimen Glocke mit überaus reinen Obertönen, die sehr seltsame Harmonien bildeten und die mit einem sehr tiefen Unterton Widerhall in mir selbst fanden:
Sylvia!
„Entschuldigung, wie war gleich noch der Name?“
„Meine Mutter heißt Sylvia.“
Er hielt inne, um mir Zeit zum Aufschreiben zu geben. Ich schrieb den Namen und die Adresse in mein Notizbuch, als wäre ich in Trance, und als ich vor dem Telefon aufwachte, dessen Hörer aufgelegt war, konnte ich mich kaum erinnern, mich von ihm verabschiedet zu haben.
Könnte dies dieselbe Sylvia sein, von der das englische Medium mir vor 23 Jahren vorausgesagt hatte, ich solle sie treffen, weil sie mir etwas mitzuteilen habe?
All dies geschah zu einer Zeit, da meine Astralreisen seltener wurden und durch Augenblicke ersetzt wurden, in denen ich sozusagen „aus der Zeit fiel“. Ich konnte die Straße entlanggehen und mich plötzlich in einer anderen Zeit oder auf einer anderen Ebene wiederfinden. Die Umgebung war meistens mehr oder weniger die gleiche. Ich glitt geradezu unmerklich in eine synchronisierte Realität, die sich auf mein Zeitgefühl und das Tageslicht um mich herum auswirkte.
Während dieser „Ausfälle“ umgibt mich ein ätherisches Netz tanzender Lichtpartikeln, die sich gegenseitig widerspiegeln und allem, soweit ich sehen kann, mehr Lebendigkeit verleihen. Ich habe das Gefühl, mich in einem morphischen Feld zu befinden, der glitzernden Matrize hinter der sichtbaren, materiellen Realität. Manchmal ist die Erfahrung so stark, dass ich deutlich die kleinen, strahlenden, bewahrenden und schöpferischen Engelwesen, die Hüter des Lichts, sehen kann, die sich als Tausende von Funken oder als ein ewiges Netz kleiner Kristalle in der Luft um uns herum zeigen.
Es gab Tage, an denen diese Erfahrungen sich derart überwältigend körperlich auswirkten, dass ich nichts anderes tun konnte, als den ganzen Tag im Bett zu bleiben. Gewöhnlich hatte ich starke Schmerzen in der Medulla oblongata, genau dort, wo der obere Teil des Rückenmarks sich mit dem Gehirn verbindet. Zu anderen Zeiten folgten diesem Phänomen Schmerzen in der Solarplexus-Gegend sowie ein Verlust all meiner Energien. Es gab keinerlei Zweifel, dass diese Symptome jenen verdächtig ähnlich waren, die ich zehn Jahre zuvor erlebt hatte und die mich drei Jahre lang ans Bett gefesselt hatten, bis ich dem Seher begegnet war. Ich dachte, vielleicht kehre die alte Krankheit zurück, weil ich mich von dem Seher getrennt hatte.
Nein.
Dies war etwas anderes.
Das gewohnte Gefühl von Eisen und Blei tauchte unter den Symptomen nicht mehr auf. Dies hier hatte etwas mit einem Mangel an Klarheit, einer Blockade in mir zu tun, die beseitigt werden musste, damit die kosmischen Kräfte frei fließen konnten. Ich war nicht mehr die unbewusste Ursache und der gelähmte Zeuge meines eigenen Begräbnisses.
Ich sehe keinen Grund darin, Leiden zu kultivieren. Andererseits hege ich keinerlei Zweifel, dass in dem Augenblick, wenn der Leidende das Reinigende des Schmerzes begreift und seine befreiende Wirkung erfährt, das scheinbar Bedeutungslose eine Bedeutung gewinnt. Einfach ausgedrückt, es besteht ein Riesenunterschied zwischen dem Verstehen der tieferen Essenz des Leidens und dem Nichtverstehen.
Diese „Ausfälle“ brachten mich in eine Gemütsverfassung, in der es nicht mehr möglich war, irgendwelche Verabredungen oder überhaupt Pläne zu machen. Ich musste mehr oder weniger widerwillig alle Kontrolle aufgeben und erkannte, wie viel bewusste oder unbewusste Energie wir verbrauchen, um alles zu kontrollieren, und auch, dass diese Ausrichtung auf Kontrolle nur von einer einzigen Sache herrührt: Angst. Das Loslassen dieser Angst mag an sich schon Angst hervorrufen.
In der Nacht, bevor ich Sylvia begegnete, hatte ich einen Traum. Ich gehe eine Straße entlang, und ich kann nicht sehen, wohin sie führt. Niemand sonst ist da, und paradiesischer Friede herrscht über dieser verzauberten Landschaft. Dennoch spüre ich, dass diese Idylle etwas Dämonisches verbirgt, etwas, das einen unheildrohenden Eindruck hinterlässt, aber dennoch bin ich ruhig und zuversichtlich.
Nach einiger Zeit teilt sich die Straße in zwei kleinere auf, und ich weiß nicht recht, welche ich nehmen soll. Eine Gestalt nähert sich auf der zu meiner Linken. Anfangs ist es nur ein Punkt am Horizont, aber kurz darauf steht der Seher in seiner bekannten Pose mit seinem Pilgerstab vor sich in der Hand vor mir.
Dann nähert sich auf der Straße zu meiner Rechten eine andere Gestalt. Auch diese ist nur ein Punkt in der Ferne. Als sie näherkommt, erkenne ich ein Bild meiner selbst. Dieses Bild hält ebenfalls einen Pilgerstab vor sich in der Hand.
Die Situation scheint festgefahren zu sein. Etwas hält mich unten, während ich dem Seher zu meiner Linken und dem Abbild meiner selbst gegenüberstehe, bis ich begreife, dass beide Bilder Projektionen einiger Blockaden in mir sind. Diese beiden Gestalten stehen jetzt dort, hüten eine Schwelle und versperren den Weg. Ich stehe vor ihnen und versuche verzweifelt, eine Lösung zu finden. Zweifellos muss ich an ihnen vorbei, denn sie repräsentieren beide alte Formen, die ich nicht mehr benötige, deren Essenz ich jedoch anerkennen muss, bevor sie aufgelöst werden können und kein Hindernis auf dem Weg mehr darstellen. Aber wie? Welchen Weg soll ich wählen?
Während ich so völlig gelähmt dastehe, sehe ich einen blauen Engel am Himmel über den beiden Straßen. Er nähert sich sehr schnell, und plötzlich werde ich vom Boden gehoben, während eine Stimme sagt:
„Lass dich nicht in die Irre führen. Beide Wege führen zurück in alte Begrenzungen. Du hast eine lange Strecke auf diesen Wegen zurückgelegt, aber jetzt ist die Zeit gekommen, das Alte loszulassen.“
Der Engel trägt mich in seinen Armen, und wir verschwinden durch den Raum über den beiden Gestalten.
Es schneite, als ich in Charlottenlund nördlich von Kopenhagen aus dem Zug stieg. Dicke wattige Flocken schwebten aus schweren Wolken wie Manna vom Himmel herab. Die Luft war von Kristallen erfüllt. Meine Sinne waren so geschärft, dass ich durch die Leute, die mir auf der Straße begegneten, direkt hindurchsehen konnte. Es waren nicht die Blockaden oder Beschränkungen der einzelnen Personen, die mir auffielen, sondern es waren nur ihre höchsten Eigenschaften. Sie erschienen wie leuchtende Muster in der ätherischen Aura. Es war jedoch bemerkenswert, dass niemand sich der Hilfe bewusst war, die ihn umgab.
Über dem Kopf eines älteren Herrn, der auf jemanden wartete, schwebte eine uralte, pulsierende rotgoldene Krone. Die Krone reflektierte eine Sehnsucht – eine Sehnsucht nach der Frau, mit der er dreißig Jahre lang verheiratet gewesen war und die vor kurzem in eine andere Welt gegangen war. Die Sehnsucht war nun transformiert und stellte sich als Geduld dar.
Ein Paar geht Hand in Hand: Ein perlmuttfarbenes Dreieck umfängt sie und löst die Eifersucht zwischen ihnen auf.
Ein in seine Gedanken verlorenes junges Mädchen mit einer kleinen, strahlenden Tiara genau vor ihren knospenden Brüsten – der Libellen festlicher Tanz für den erwachenden Eros.
Eine schwangere Frau: Ein funkelndes Filigran aus Licht umfängt sie und das neue Leben in ihrem Schoß.
Eine Frau, die vergeblich ihre Tränen zu verbergen sucht, die wie Diamanten auf ihren Wangen glitzern: ein fahles pulsierendes Kreuz auf ihrem Magen; die Traurigkeit über den verlorenen Geliebten, das Bild des leeren Bettes; Kummer als der Erlöser eines neuen Lebens.
Die Apartmenthäuser im Künstlerviertel. Die durchsichtige Tür. Oberstes Stockwerk. Einweihung.
Ich klingelte an der Tür und hörte das schwache Klingeln irgendwo in der Wohnung. Ewigkeit. Ich klopfte an die Tür. Dann hörte ich ein leises Geräusch im Flur. Die Tür öffnete sich.
Der blaue Engel.