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Kapitel 1

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Herman legt den Kopf in den Nacken und starrt in den Baum hinauf, dessen Blätter golden und rot sind und schon ganz locker sitzen. Zwischen den dünnen, schwarzen Zweigen sieht er den Himmel, an dem die Wolken in alle Richtungen jagen. Ihm wird leicht schwindlig davon, so zu stehen, es ist, als würde er selbst in voller Fahrt davonrasen. Aber gleichzeitig ist das auch ganz angenehm, jedenfalls für eine Weile, wenn er nur nicht mit dem Monolithen1 weiter hinten zusammenstößt. Er schließt die Augen, aber da fällt er immer weiter nach vorn, er öffnet sie schnell wieder und atmet erleichtert auf. Noch immer ist er im Frogner-Park, hat sich nicht mehr als einen Zentimeter fortbewegt.

Und dann sieht er, daß das erste Blatt fällt! Es hängt am Ende eines Astes und wirkt ziemlich wackelig. Der Wind dreht es im Kreis, dann segelt es zum Springbrunnen wie ein Dompfaff, dem die Luft ausgegangen ist. Herman läuft hinterher, wobei er auf den roten, unruhigen Punkt in der Luft starrt. Der Wind hebt und senkt das Blatt, Herman rennt im Zickzack über den Kies und hofft, daß er heute morgen seine Schnürsenkel mit dem doppelten Hexenknoten geknotet hat. Und dann scheint es, als ob das Blatt – oder der Wind – aufgibt, es sinkt müde zu Boden, direkt auf Hermans Füße zu. Der bleibt abrupt stehen, öffnet den Schnabel sperrangelweit, nimmt Anlauf und fängt das Blatt mit dem Mund, gekonnt wie ein hungriger Ameisenbär.

Und genau in dem Moment merkt er, daß ihm jemand nachspioniert; jemand, der hinter einer der Parkstatuen steht, er entdeckt einen rosa Ranzen. Herman bleibt stocksteif stehen, das Blatt im Mund. Es schmeckt nicht gerade großartig, aber er hat schon Schlimmeres erlebt, zum Beispiel die feste Schicht auf dem Schokoladenpudding, Haut auf der Milch, oder die Aale, die Vater beim Bootsanleger fischt. Plötzlich ist der Ranzen wieder verschwunden, aber er weiß, daß dort immer noch jemand steht, hinter der Statue der dicken Frau, der mindestens sechs Kinder in den Haaren hängen. Und während er so dasteht und nicht recht weiß, was er tun soll, schluckt er das Blatt hinunter. Und es ist ganz komisch, sich vorzustellen, daß dasselbe Blatt vor kurzem an einem riesigen Baum hing und jetzt mitten in seinem Magen liegt. Vielleicht braucht er nun kein Gemüse mehr zum Mittag zu essen?

Da kommt der Jemand hinter der Statue hervor. Es ist Ruby, Ruby aus seiner Klasse. Sie hat die ganze Zeit hinter der Statue gestanden. Herman weiß nicht so recht, ob ihm das wirklich gefällt. Ruby hat eine Menge roter Haare, einige behaupten, es seien fünf Vogelnester darin. Sie hält die Hände hinter dem Rücken, als hätte sie ein großes Geheimnis. Sie schaut Herman komisch an, das eine Auge halb geschlossen.

»Ißt du Blätter?« fragt Ruby.

»Manchmal.«

»Du bist der erste, den ich kenne, der Blätter ißt.«

»Dann kennst du nicht viele«, sagt Herman und holt seinen Ranzen von der Parkbank.

Ruby läuft hinterher und schaut ihm direkt ins Gesicht.

»Verfolgst du mich?« fragt Herman.

Ruby lacht laut, und noch mehr Blätter fallen von den Bäumen. »Ich habe meine Ente mit Karotten und Wurst gefüttert. Vielleicht wirst du jetzt krank. Du siehst schon ganz krank aus.«

»Ich bin frisch wie ein Fisch«, sagt Herman. Das pflegt sein Großvater zu sagen, obwohl er in einem Himmelbett im dritten Stock eines Hauses liegt und nicht gehen kann. Aber vielleicht sagt er das gerade deshalb: frisch wie ein Fisch.

»Fische essen keine Blätter«, sagt Ruby.

»Die essen Regenwürmer. Das ist schlimmer.«

Sie gehen zusammen über die Brücke. Ein Stadtstreicher hat unter der Statue des Trotzkopfes geschlafen und schaut genauso wütend drein. Die Becken vom Frogner-Schwimmbad sind leer und grün, und der Zehnersprungturm ragt bis in den Himmel. Bald wird es anfangen zu regnen. Unter der Brücke schwimmen die Enten durcheinander und wissen nicht, wohin. Ein Schwan öffnet seine Flügel, schafft es aber doch nicht ganz und legt sie wieder zusammen. Ruby lehnt sich übers Geländer und zeigt hinunter:

»Da ist meine Ente!«

»Deine Ente?«

»Die ich immer füttere.«

»Wie kannst du die Enten denn unterscheiden?«

Ruby wendet sich Herman zu, schüttelt den Kopf, ihre riesige rote Mähne wippt auf und ab, aber Vögel fliegen jedenfalls nicht heraus.

»Sag’ ich nicht.« Doch dann fügt sie schnell hinzu: »Vielleicht ein andermal.«

Sie gehen weiter zum Parktor, ohne zu reden. Als sie im Kirkeweg stehen, tritt Ruby noch ein wenig näher und starrt Herman lange ins Gesicht. Der wird langsam nervös.

»Sehe ich jetzt krank aus?«

»Deine Augen sind knallgrün. Und deine Nase ist orange!«

Damit läuft sie nach Majorstua hinauf. Bei Oscar Mathiesens Firmenhaus dreht sie sich um und winkt, aber das sieht Herman nicht, er ist bereits auf dem Heimweg nach Skillebekk. Und jetzt fühlt er sich wirklich schlecht. Vielleicht wird er doch krank, vielleicht wachsen seine Arme zu Ästen, und jemand kann sie als Brennholz gebrauchen, wenn der Winter kommt. Er spürt das Blatt dort unten im Magen, es liegt schräg und kitzelt. Seine Arme werden schon steif, er muß sie an den Körper pressen. Er betrachtet sich beim Friseur in der Bygdöy-Allee im Spiegel, das ist so ein Spiegel, in dem er sich auch im Profil sehen kann, wenn er sich vorbeugt und den Kopf dreht. Und jetzt kriegt er wirklich Angst. Er erkennt sich nicht wieder. Die Nase ist ein Tannenzapfen, die Ohren ähneln einem Spechtbau, und sein Haar liegt wie hellgrünes Moos festgewachsen auf der Stirn. Herman läuft weg, bevor der Dicke ihn entdeckt, und versteckt sich in einer Einfahrt. Dort faßt er einen Entschluß – er steckt den Finger in den Hals, genau wie Vater es manchmal sonntags tut. Herman steckt den Finger so tief hinein, daß er fast am Blatt kratzen kann. Und da kommt es in voller Fahrt herauf, zusammen mit dem Schulbrot und zwei Bonbons, die er auf dem Weg zur Schule gefunden hat. Das Blatt ist immer noch rot und riecht schlimmer als Turnschuhe. Eine Windböe fegt es in die Straße, dort rollt es hochkant den Rinnstein entlang, und dann ist das Blatt zwischen den Gitterstäben eines Gullis verschwunden. Herman richtet sich auf und fühlt sich bereits besser. Eigentlich schade um die Bonbons, denkt er und überlegt, ob er sie noch einmal essen soll. Das macht er auch und trottet langsam die Gabelsstraße hinunter.

Es fängt an zu regnen. Trotzdem mag Herman das letzte Stück nicht rennen. Und als er in seine Straße einbiegt, stößt Pfand im Erdgeschoß sein Fenster auf und zeigt sein Gesicht, das ganz rostig und mager aussieht. Es heißt, daß Pfand einmal Hausmeister beim König war, aber er wurde gefeuert, weil er sich in eine belgische Prinzessin, die zu Besuch war, verliebt hatte oder weil der König herausfand, daß er eigentlich ein Ausländer aus Schweden ist. Pfand ist entweder sehr laut oder sehr still. Heute ist er vorwiegend still, das hängt damit zusammen, daß Montag ist.

»Hermanjunge«, flüstert er. »Komm mal her.«

Herman kann es gerade noch hören. Er geht näher heran.

»Kannst du für mich ein paar Pfandflaschen einlösen?«

»Man hat keine Zeit«, flüstert Herman. »Vielleicht morgen.«

»Morgen ist leider auch noch ein Tag«, murmelt Pfand und schließt leise sein Fenster.

Herman

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