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Kapitel 3

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Herman hat ausgerechnet, daß es achthundertzweiundvierzig Schritte bis zur Schule sind. Aber nur, wenn er allein geht, nicht mit geschlossenen Augen und ohne Südwester.

Wenn er mit Vater bis zum Drammensweg geht, braucht er nur achthundertsechzehn Schritte, denn Vater hat außergewöhnlich lange Beine, und Herman muß so weit wie möglich ausholen, um Schritt zu halten.

Mutter steht meistens am Fenster und winkt ihnen mit beiden Armen hinterher, denn Jacobsens Kolonialwaren öffnen nicht vor neun. Und wenn sie schon ein Stück die Straße hinaufgelaufen sind, hören sie sie rufen, und dann wirft sie das Schulbrot hinaus, das Herman immer vergißt. Und Hermans Mutter ist gut im Werfen; einmal hat sie ihm das Schulbrot nachgeworfen, als er nicht weniger als einhundertachtunddreißig Schritte weg war. Herman mußte nur seinen Ranzen öffnen, schon landeten zwei Brote mit Ziegenkäse und zwei mit Cervelatwurst genau zwischen Lineal und Naturkundebuch.

An der Ecke bei Jacobsen halten sie an; Vater muß abbiegen, zur Baustelle in Vika. Herman muß geradeaus weiter. Vater beugt sich über ihn, sein Atem riecht nach Zigaretten und Kaffee.

»Einmal kommst du aber mit auf den Kran«, sagt er.

Herman guckt woanders hin.

»Mmh ja, vielleicht kann ich ja von dort oben bis Amerika sehen?«

»Amerika! Noch weiter! Ich kann so weit gucken, daß ich meinen eigenen Rücken sehen kann!«

»Das ist was«, sagt Herman.

»Das stimmt nicht«, sagt Vater leise. »Bis zur Nesodden-Halbinsel kann ich sehen. Man soll nicht lügen und sich Sachen ausdenken, nicht wahr?«

»Am besten nicht.«

Vater richtet sich plötzlich auf, gräbt in seiner Hosentasche und zieht den Metallkamm hervor.

»Das ist jetzt deiner«, sagt er feierlich. »Paß auf ihn auf.«

Herman nimmt vorsichtig den Kamm entgegen, er schimmert in der Hand, ist schwer und gut zu halten.

»Aber womit willst du dich kämmen?« fragt er.

»Ich stecke meinen Kopf einfach unter den Wasserhahn, und der Wind ist mein Kamm«, sagt Vater, und dann marschiert er mit Riesenschritten los und verschwindet hinter einem Schwarm Tauben, der plötzlich auffliegt.

Vor dem Roten Kreuz steht ein Rettungswagen mit riesigen Spiegeln auf jeder Seite. Herman hält sein Gesicht vor einen der Spiegel und betrachtet es, hier sieht es wieder ganz komisch aus, so, als wäre es nur eine einzige riesige Nase. Aber die ähnelt jedenfalls nicht mehr einem Tannenzapfen. Er fährt sich mit dem Kamm durch das Haar, der Kamm schrammt auf der Kopfhaut und tut ihm ziemlich weh, doch das soll es ja vielleicht, vielleicht muß es weh tun, wenn man einen eleganten Scheitel haben will. Dann, mit einemmal, entdeckt Herman, daß jemand im Rettungswagen liegt: ein uralter Mann mit gläsernen Augen, die überhaupt nicht blinzeln, der Mund ist nur ein offenes Loch ohne Zähne, und die Haut ist blau und stramm wie das Trikot eines Schlittschuhläufers. Herman zuckt zusammen und läuft die Straße ein Stück hinauf, er muß an Großvater in seinem Himmelbett denken. Und jetzt ist er ganz und gar aus dem Zähltakt geraten, da kann er genausogut gleich mit geschlossenen Augen gehen. Sein Rekord sind sechsundzwanzig Schritte, aber dieser Rekord wurde letzten Sommer mitten auf einem Feld aufgestellt. Er schließt die Augen und zählt leise für sich. Acht. Das ging gut. Fünfzehn. Das geht immer noch gut. Doch als er bei zweiundzwanzig ankommt, ist jäh Schluß. Er trifft auf etwas Weiches, das schreit. Herman öffnet die Augen und starrt direkt in die Augen eines Fuchses. Weiter oben ist da etwas mit blauem Haar, das redet.

»Paß doch auf, du Bengel!«

Herman sieht in die entgegengesetzte Richtung und tastet mit den Händen um sich.

»Ich bin kein Bengel. Ich bin blind und habe mich verlaufen.«

Herman wackelt auf die Straße, beide Arme vor sich hingestreckt. Drei Autos machen eine Vollbremsung, und ein Bus landet fast in Möllhausens Konditorei. Herman sprintet um die Ecke und hört aus weiter Ferne, daß es zum Unterricht klingelt.

Der Schulhof ist vollkommen leergefegt, als wären die Eingangstüren riesige Staubsauger. Nicht ein Schulbrot liegt dort. Herman drückt sich am Zaun entlang und überlegt, wras er diesmal sagen soll. Und alles ist sehr still. Vielleicht sind alle tot und wir kriegen frei, denkt Herman. Aber als er auf den Flur kommt, hört er die frommen Lieder aus den Klassenzimmern, und es klingt fast unheimlich. Jedenfalls ist es sehr traurig, fast noch trauriger als im Wunschkonzert, wenn die Leute, die über hundert sind, einen Gruß erhalten. Er hängt seine Jacke an den Haken, wartet, bis sie mit dem Singen fertig sind, dann klopft er an und öffnet die Tür, bevor der Lehrer antworten kann. Tonne steht hinter dem Pult und starrt ihn an, er hat schon jetzt die Stirn voll Kreide und hält den Zeigestock wie einen Degen. In der Fensterreihe sitzt Ruby, es sieht aus, als ob sie kurz davor sei, sich totzulachen. Tonne macht einen Schritt auf ihn zu. Tonne ist groß, der größte Lehrer in der Schule, er ist genauso breit wie lang, und er ist reichlich lang. Es geht das Gerücht, daß er einen Siebtkläßler 40 Minuten lang an einem Ohr aus dem Fenster der obersten Etage gehalten hat, aber das ist sicher viele Jahre her.

»Und was für eine Entschuldigung hast du heute, Herman Fulkt?«

Er kann schlecht sagen, daß er plötzlich blind geworden ist und sich in der Altstadt verlaufen hat, denn das hat er schon einmal gesagt.

»Ich mußte einer alten Dame helfen, die von einem Fuchs überfallen wurde«, sagt Herman.

Tonne kommt noch näher, er hält den Zeigestock jetzt mit beiden Händen fest, es fehlt bestimmt nicht mehr viel, bis der zerbricht. Die Fäuste von Tonne sind groß wie Blumenkohl. Herman möchte gern wissen, was der Junge wohl gemacht hatte, der am Ohr aus dem Fenster hängen mußte. Er kriegt langsam ein unangenehmes Gefühl im Magen.

»Ein Fuchs, so, so. Und wo ist dieser Fuchs aufgetaucht?«

»Direkt in der Bygdöy-Allee ist er aufgetaucht.«

»Ja so. In der Bygdöy-Allee. Vielleicht kannst du uns erzählen, wie du das Untier bezwungen hast?«

Langsam breitet sich Lachen in der Klasse aus, von Bank zu Bank. Ruby schafft es kaum noch, sich zusammenzureißen.

Das wollte Herman schon immer gern wissen, ob Lachen eigentlich eine Krankheit ist, denn Mutter sagt immer, daß Lachen ansteckt.

»Als ich eingriff, war der Fuchs schon tot. Er hing um den Hals der Dame und war vergiftet. Darf ich zur Toilette gehen?«

Jetzt hat das Lachen alle angesteckt, sie sitzen mit großen Öffnungen in den Gesichtern da, aus denen verschiedene Laute kommen. Manche sind so krank, daß sie auf die Tische hämmern müssen. Aber Tonne ist immer noch gesund. Acht waagrechte Falten bilden sich auf seiner Stirn, und der Kreidestaub rieselt ihm die Wangen hinunter.

»Setz dich«, sagt er müde. »Falls du es solange aushältst.«

»Es wird schon gehen«, sagt Herman. »Es klingelt sowieso bald.«

Tonne bekommt noch drei weitere Falten dazu, und Herman beeilt sich, zur Fensterreihe zu gehen. Von dort kann er die Kirche sehen; er hat schon immer überlegt, was wohl höher ist, der Kirchturm mit der leuchtenden Kupferspitze oder Vaters Kran. Er tippt auf den Kran, denn wie hätte man sonst die Kirchturmspitze bauen können? Zwei Tische vor ihm sitzt Ruby, und wenn das Licht von draußen auf ihr Haar fällt, scheint es zu brennen, genau wie wenn die Sonne die Kupferspitze trifft und der ganze Turm glüht. Heute allerdings ist der Himmel so bedeckt, daß selbst die Vögel für einen Sonnenstrahl Schlange stehen müssen. Aber Rubys Haare sind auch so schön. Herman gefällt es, daß sie vor ihm sitzt. Schlechter ist es mit denen, die ganz hinten sitzen, Glenn, Björnar und Karsten. Die haben schon mal einen aus der siebten Klasse verprügelt, das Klo verstopft und eine halbe Pakkung Zigaretten geraucht. Sie hinter sich zu haben, ist nicht sehr sicher, wenn man keine Augen im Nacken hat. Plötzlich dreht Ruby sich zu Herman um und streckt ihm die Zunge raus. Sie sieht fast wie ein rotes Blatt aus. Herman muß laut lachen.

Tonne hat ihn schon im Blick, hebt den Zeigestock, schiebt die Unterlippe vor und bläst sich die Kreide von der Nase.

»An die Tafel!«

Herman geht langsam zwischen den Reihen hindurch. Er überlegt, wonach Tonne wohl heute fragen wird: wie hoch der Monolith im Park ist, wie viele Mägen eine Kuh hat und wozu die gut sind, oder nach dem Weg der Fichte vom Waldbaum bis zum Möbelstück. Herman spürt, daß er immer kleiner wird, bald reicht er nicht mal mehr an seine eigenen Knie, und als er vorne am Lehrerpult steht, ist er so klein, daß er sich im rechten Schuh von Tonne sehen kann, und ihm fällt ein, daß er sich heute die Haare schneiden lassen soll.

Herman bekommt ein Stück Kreide in die Hand, die ist groß wie ein Baumstamm, wie soll er denn oben an die Tafel reichen? Da unten bei den Schuhen von Tonne riecht es nicht besonders gut. Vielleicht muß er ja Afrika zeichnen oder das ganze Gebäude von Eidsvolds, in dem die Verfassung unterschrieben wurde, mit der Flagge obendrauf, oder vielleicht muß er am linken Ohr aus dem Fenster hängen? Es ist auf jeden Fall gut, daß das Klassenzimmer im Erdgeschoß liegt.

»Schreib ein kleines i mit einem Punkt drüber!« sagt Tonne.

Da hat er Glück gehabt. Sofort wächst Herman mindestens einen Meter, trifft die Tafel mit der Kreide, zeichnet einen Strich und schraubt einen kräftigen Punkt darauf.

»Und was soll das sein?«

»Ein kleines i mit einem Punkt drüber«, sagt Herman zufrieden.

»Willst du mich anlügen?«

Herman ist reichlich verwirrt, schaut von der Tafel zum Lehrer und zurück. Tonne beugt sich wie ein überfressenes Fragezeichen über ihn.

»Ich habe dich gebeten, ein kleines i mit einem Punkt darüber zu schreiben. Erinnerst du dich?«

»Man ist nicht so vergeßlich.«

»Bist du auch noch frech!«

»Ich bin Herman Fulkt.«

Tonne gibt langsam auf, nimmt ihm die Kreide ab und lehnt sich schwer gegen die Tafel, an der er noch einen Punkt über das i malt. »Wenn ich euch sage, ihr sollt ein kleines i mit einem Punkt darüber schreiben, müssen es zwei Punkte sein, vergeßt das niemals

»Wird gemacht.«

Herman trollt sich zu seinem Platz, aber bevor er so weit kommt, hat Ruby ihm einen Zettel in die Hand gedrückt. Nachdem er sich gesetzt hat, faltet er ihn sorgfältig auseinander und liest unter dem Tisch: »Magst du rotes Haar? Gruß, Ruby.«

Als er einen Antwortbrief schreiben will, klingelt es, und damit ist es zu spät. Ruby hat jetzt Handarbeiten und Herman unten im Keller Papierwerken. So muß er wohl morgen eine Luftpost losschicken oder vielleicht eine Brieftaube, falls er es schafft, eine zu fangen.

Beim Papierwerken riecht es so stark nach Leim, daß es Herman fast schwindlig wird. Der Leim steht in großen Eimern an der Heizung und sieht aus wie verdorbenes Gelee. Herman bastelt gerade ein Herbarium, und er freut sich schon auf den Frühling, dann will er nach Bygdöy raus und Buschwindröschen sammeln, und auf Nesodden findet er vielleicht Glockenblumen und Vergißmeinnicht.

Pappe ist noch nicht aufgetaucht, der kommt immer zu spät zur Stunde, sicher sitzt er in der Garderobe und schmust mit der Putzfrau.

Plötzlich stehen Glenn, Björnar und Karsten um Herman herum. »Warum hast du nicht mit den Mädchen Handarbeiten?« fragt Glenn.

Herman versucht seinen Blick zu heben, aber der ist so unglaublich schwer, er braucht mindestens einen Lastkran, um ihn hochzubekommen.

»Da kannst du Topflappen häkeln und dir den Hintern damit abwischen!« fährt Karsten fort.

»Was stand auf dem Zettel?« fragt Björnar.

»Auf welchem Zettel?«

Herman kann bei so etwas nicht gut lügen. Es ist, als fiele ihm die Unterlippe herunter und würde groß wie ein Einkaufsnetz.

»Dem Zettel von Ruby, du Schlappschwanz!«

»Hab’ keinen Zettel von Ruby gekriegt.«

Seine Unterlippe wird größer und größer, er braucht bald Stützen für sie.

»Tu nicht so«, sagt Glenn und rückt näher. Glenn trägt einen Pony und eine Zahnklammer und behauptet, daß er Glas essen kann.

»Zettel? Ach, der Zettel! ’ne Einkaufsliste für meine Mutter.«

Jetzt ist die Lippe groß wie eine Badewanne, es ist so gut wie unmöglich, sie an ihrem Platz zu halten.

»Wir durchsuchen ihn!« ruft Karsten.

In Null Komma nichts sind alle Taschen umgestülpt. Björnar hält den Metallkamm hoch, Karsten winkt mit einem Fünfer, und Glenn hat den Zettel gefunden.

»Magst du rotes Haar? Gruß, Ruby«, johlt er, und es fehlt nicht viel, daß seine Zahnspange herausspringt.

Und dann ist das Lachen wieder da, alle werden angesteckt und sind für eine ganze Weile krank, und Pappe ist immer noch nicht aufgetaucht. Das Lachen ist schlimmer als Masern und Windpocken zusammen, denkt Herman. Doch plötzlich sind alle wieder gesund. Glenn hält ihn fest am Arm.

»Magst du rotes Haar, Herman?«

Herman schaut auf seine Schuhe und atmet schwer. Björnar drückt ihm den Metallkamm wie eine Pistole zwischen die Augen.

»Magst du rotes Haar?!«

»Das Schlimmste, was ich mir denken kann«, sagt Herman, und die Unterlippe schleift über den Boden, und widerliche Tiere, die er nicht ausspucken kann, klettern in seinen Mund.

»Sag, daß Ruby häßlich ist.«

»Ruby ist häßlich.«

»Sag, daß Ruby ein Vogelnest in ihrem Heuhaufen hat!«

Herman fummelt an seinem Herbarium herum, das immer noch nicht fertig ist, in seinem Kopf juckt es.

»Ruby hat ein Vogelnest im Heuhaufen.«

Glenn läßt Herman los, und Karsten stellt sich hinter ihn.

»Jetzt mußt du sterben!«

»Jetzt muß ich sterben«, wiederholt Herman.

»Was ist dein letzter Wunsch?«

»Den Kamm wiederzukriegen.«

Björnar grinst und legt den Metallkamm ins Herbarium. Karsten paßt an der Tür auf, und Glenn schiebt ein Stück Pappdeckel unter Hermans Pullover. Und dann sticht Björnar ein Messer hinein, so daß es auf der Brust stehen bleibt.

»Er kommt!« flüstert Karsten.

»Leg dich hin! Du bist tot!«

Herman legt sich zwischen die Bänke und schließt die Augen. Kurz darauf steht Pappe da. Pappe ist dünn wie eine Rhabarberstange, und er hat riesige, durchsichtige Ohren. Bei Wind muß er sie mit einem Weckgummi festbinden, um nicht wegzuwehen. Er bleibt stehen und schaut sich um, verwundert, denn alle sind ganz still, und das ist Pappe nicht gerade gewohnt. Schließlich entdeckt er Herman. Pappe muß sich am Türrahmen festhalten, dann stürmt er durch den Raum, kippt zwei Leimeimer um, wedelt mit den Armen und schreit. Neben Herman wirft er sich hin, will das Messer herausziehen, traut sich aber nicht, es anzufassen. Herman liegt ganz still und stellt fest, daß Pappe nach Parfüm riecht, vielleicht ist es auch nur der Leim.

»Was ist passiert!« brüllt Pappe.

Keiner antwortet. Pappe beugt sich wieder über ihn, und Herman hat Lust zu niesen, aber es ist womöglich nicht so geschickt zu niesen, wenn man ein Messer im Herzen hat.

»Herman, hörst du mich? Hier ist Fredrik Johansen, hörst du mich, Herman?«

Herman hört ihn sehr gut, weiß aber nicht, ob er antworten soll. Vielleicht ist es das beste zu warten, bis Pappe ruhiger geworden ist.

»Holt die Krankenschwester!« schreit er. »Holt die Krankenschwester!«

Aber keiner rührt sich, und keiner sagt etwas. Pappe nimmt Hermans Hand und legt sein riesiges Ohr auf Hermans Mund. Das kitzelt.

»Herman . . . Herman . . . beweg dich nicht . . . Hilfe ist schon unterwegs . . . du lebst . . . bleib ganz ruhig . . . Herman . . . wie geht es dir . . .?«

Herman öffnet die Augen und sieht genau in das Ohr von Pappe, von innen sieht es wie eine riesige Miesmuschel aus.

»Danke, man kann nicht klagen.«

Pappes Gesicht verschließt sich, er schaut sich verwirrt um, aber alle gucken woanders hin und fangen an, einen Marsch zu pfeifen. Herman steht langsam auf und geht zu seiner Bank, er zieht das Messer heraus, und das Pappstück fällt auf den Boden.

Da gibt es keinen mehr, der richtig pfeifen kann. Das Lachen strömt aus den Gesichtern, daß sich die Wände biegen. Doch plötzlich lacht keiner mehr, denn sie hören ein anderes Geräusch, das ihnen angst macht und sie erschreckt. Pappe kniet auf dem Boden, und er weint, er versucht gar nicht, es zu verbergen, seine Hände hängen senkrecht neben dem staubigen Kittel herunter, und er weint.

Auf dem Weg nach Hause hat Herman fast vergessen, daß er zum Friseur soll. Er hat viel mehr Lust, das Schiff nach Australien zu besteigen oder zumindest die Straßenbahn ganz bis zur Endstation. Unterwegs sieht er die Dame, die fast nicht gehen kann, weil sie Ameisen in den Beinen hat. Er hat von Leuten mit Flöhen im Blut gehört, aber das hier muß schlimmer sein. Sie benutzt zwei Krükken und hüpft vorwärts, während sich der ganze Körper schüttelt. Herman überlegt, wie die Ameisen es wohl geschafft haben, in ihre Beine zu kommen. Vielleicht hat sie sie durch ein Mißgeschick verschluckt. Sie sieht sehr traurig aus, und Herman geht immer auf die andere Straßenseite, wenn er sie trifft.

In der Bygdöy-Allee prasseln die Kastanien auf den Asphalt, er sammelt eine Ladung ein und packt sie in seinen Ranzen. Es kann nützlich sein, sie zu haben, besonders im Winter. Dann betritt er den Friseursalon.

Es ist eigentlich ganz schön, zum Dicken zu gehen. Der Dicke hat immer nasses Haar und einen schmalen, schwarzen Bart. Das beste ist, wenn er auf die Pedale tritt und der Stuhl höher und höher steigt; so kommt Herman einem Kranführer schon ziemlich nahe. Und es ist schön, die Kämme anzugucken, die in blauem Wasser stehen, und die Reklameplakate für Haarcreme und Pomade mit Bildern von Liebespaaren, die Wellen im Haar und hübsche Gesichter haben.

»Und wie möchtest du es heute haben?« fragt der Dicke, nachdem er fertig gepumpt hat und sich den Schweiß abwischen kann.

»Ich glaube, so wie mein Bruder.«

»Und wie hat dein Bruder es?«

»Hab’ gar keinen Bruder!«

Beide lachen lange, und der Dicke schärft eine Schere, greift mit den Fingern in Hermans Haar und fängt an zu schneiden, während er eine bekannte Melodie aus dem Wunschkonzert singt, aber zum Glück ist es kein Kirchenlied.

Es ist ganz merkwürdig, in den Spiegel zu sehen, denn an der Wand hinter Herman ist auch ein Spiegel, dort, wo die Damen mit den Astronautenhelmen sitzen. Herman kann sich selbst im Friseurstuhl in Hunderten von Räumen sehen, die immer kleiner werden und in einem Punkt verschwinden, nicht größer als eine Fliege. Komische Dinge gibt es beim Friseur, es gibt auch eine Fußstütze und Krepppapier um den Hals, das kratzt, und ein riesiges Lätzchen, das bald von hellem Haar bedeckt ist. Vielleicht sollte man Barbier werden? Jedenfalls lieber als Papierwerklehrer.

Mit einemmal hört der Dicke auf zu schneiden. Herman beugt den Kopf nach hinten und sieht in seine Nasenlöcher, in jedem ist für mindestens acht Kastanien Platz. Der Dicke rückt Hermans Kopf wieder zurecht, macht ein paar rasche Schnitte mit der Schere, doch dann hört er wieder auf und schaut auf Hermans Kopfhaut. Herman hat schon oft überlegt, wer wohl dem Dicken die Haare schneidet oder wer dem Zahnarzt die Zähne zieht und wer dem Arzt den Blinddarm herausschneidet. Aber es ist merkwürdig, daß der Dicke so lange dasteht und herabstarrt. Herman wird langsam ängstlich. Vielleicht hat er so viel abgeschnitten, daß er die Gedanken in Hermans Kopf sehen kann? Das wäre nicht so gut.

Endlich richtet der Dicke sich auf, angelt einen nassen Kamm und teilt das Haar mit einem schnurgeraden Scheitel.

»Wollen wir sagen, so ist es in Ordnung, Herman?«

»Ich glaube, das können wir sagen.«

»Kannst du deiner Mutter ausrichten, daß ich gerne mal mit ihr reden möchte?«

»Sie hat gerade eine Trauerwelle gekriegt.«

»Das heißt Dauerwelle, Herman. Ich möchte trotzdem mit ihr reden.«

»Ist in Ordnung, Dicker.«

Und dann kommt fast das Beste, wenn der Dicke mit einer weichen Bürste, die aus Lamaschwanzhaaren aus dem inneren Peru gefertigt ist, die Haare aus dem Nacken bürstet.

Herman bekommt von seinem Fünfer noch zwei Kronen3 zurück, steckt das Geld in die Tasche und geht hinaus. Der Wind weht kalt über den geraden Scheitel. Und plötzlich saust eine Kastanie auf seinen Schädel, sie bleibt fast stecken, er muß sie losreißen und spürt weiches Haar an seinem Gesicht vorbeiwehen. Da kann er gleich den Metallkamm nehmen, stellt sich vor den dreigeteilten Spiegel im Fenster und zieht den Scheitel wieder an der richtigen Stelle. In dem Moment erscheint das Gesicht des Dicken, er schaut hinter dem Spiegel hervor zu Herman hinaus, und der Dicke hat so eine traurige Augenfarbe, fast so traurig wie die Dame mit den Ameisen. Er braucht bestimmt eine Aufmunterung, also hält Herman den Kamm hoch, damit der Dicke ihn aus der Nähe ansehen kann, denn er ist auch ziemlich neugierig. Der Dicke versucht zu lächeln, aber es glückt ihm nicht so recht. Herman steckt sich den Kamm in die Hosentasche und rennt zur Bygdöy-Allee.

In Jacobsens Kolonialwarenladen steht Mutter hinter dem Tresen, sie sieht ganz anders aus als zu Hause, trägt eine weiße Schürze, und über ihr Haar hat sie ein Netz gestülpt, das ist wie ein Spinngewebe. An der Kasse sitzt Jacobsen junior selbst, von dem alle sagen, er sähe aus wie ein Filmstar aus Amerika. Er hat dunkles, nach hinten gekämmtes Haar und ein Grübchen im Kinn, wenn er lächelt, aber er lächelt fast nie, nur wenn es um größere Summen geht. Und er hat massenhaft Kugelschreiber in seiner Brusttasche.

Herman muß erst mal zur Kaffeemaschine; er schließt die Augen, während er soviel Kaffeeduft wie möglich in sich aufsaugt. Wenn er sich an seine Träume erinnern könnte, würden sie sicher so riechen.

Mutter steht neben ihm und hat einen Bleistift hinterm Ohr.

»Jetzt sehen deine Haare gut aus«, sagt sie.

»Dank, wem Dank gebührt.«

Jacobsen tippt eine Summe in die Kasse, räuspert sich laut und blickt sich um. Er muß mindestens ein Kilo Hackfleisch verkauft haben oder vielleicht ein Kotelett. Wenn jemand nur Knäckebrot und Salz fürs Essen kauft, räuspert er sich überhaupt nicht. Und erst recht nicht beim Auszahlen von Flaschenpfand, dann verläßt er das Geschäft und geht ins Hinterzimmer, wo es ein Radio und ausländische Zeitungen gibt.

»Seid ihr heute wieder überfallen worden?« fragt Herman.

»Heute gab es nur einen Hund, der auf die Kohlköpfe gepinkelt hat. Wir müssen sie zum halben Preis verkaufen.«

»Was essen wir zum Mittag?«

»Pischfudding und Tarkoffeln.«

»Mit Schokoladensoße?«

»Natürlich! – Du hast Großvater nicht vergessen?«

»Großvater wird nicht vergessen.«

Mutter stellt einen Pappkarton auf den Tresen, und Herman weiß ganz genau, was drin ist: sechs grüne Äpfel, acht Karotten, fünf Fischfrikadellen, eine Flasche Milch und zwei Tafeln Schokolade. Großvater ist frisch wie ein Fisch.

»Der Dicke will mit dir reden.«

»Mit mir reden? Warum das denn?«

»Er will deine Bauernwelle schneiden.«

»Jetzt erzählst du wieder Quatsch, Herman.«

»Ich red’ keinen Quatsch. Der Dicke will mit dir reden.«

Mutter drückt ihm den Karton in die Arme und schiebt ihn zur Tür. Genau in dem Augenblick kommt Pfand herein, und Jacobsen junior steht auf und verschwindet im Hinterzimmer. Pfand hat zwei Netze voller leerer Flaschen, und er zittert wie ein Spielmannszug drei Wochen vor dem Nationalfeiertag.

»Haben Sie auch Ameisen in den Beinen?« fragt Herman.

Die Knie von Pfand versagen sofort, er sinkt zu Boden und bleibt in einem Berg von Flaschen liegen. Es ist unglaublich, wie merkwürdig die Leute sich heute benehmen, denkt Herman und macht, daß er rauskommt. Er kann hören, wie Pfand drinnen ruft: »Ich hab’ keine Ameisen in den Beinen! Ich hab’ keine Ameisen in den Beinen! Verschwinde! Verschwinde!«

Und Mutters Stimme: »Natürlich nicht, Herr Frantsén. Jetzt zählen wir die Flaschen und rechnen aus, wieviel es heute macht.«

Zum Glück ist es nicht sehr weit zu Großvater, über die Straßenbahnschienen, an der Würstchenbude vorbei und knapp bis zur Eisenbahn hinunter. Großvater wohnt im dritten Stock, und bis dahin sind viele Treppen zu steigen, wenn man fast keine Beine hat. Herman hat sich fest vorgenommen, einen Fahrstuhl für Großvater zu kaufen, wenn er eines Tages genug Geld hat.

Im obersten Stockwerk steht die Tür immer offen, und Herman geht hinein. Zuerst gibt es da einen schmalen Flur, in dem Fotos an der Wand hängen. Auf einem der Bilder sind Hermans Eltern in einem Boot zu sehen, das fast kentert. Damals waren sie viel jünger, und Herman weiß nicht so recht, ob ihm das Bild gefällt. Ein anderes Foto ist von ihm selbst. Er sitzt mitten in einem riesigen, ekligen Schwimmreifen und schreit, und sein Kopf ist kahl wie ein blauer Luftballon. Er kann sich nicht daran erinnern, daß er einmal so ausgesehen hat, es muß sich um eine Verwechslung handeln.

Im nächsten Zimmer liegt Großvater in einem Himmelbett mit rotem Himmel. Dort liegt er, seit Großmutter starb. Sie starb, bevor Herman geboren wurde. Großvaters Beine sind dünn wie Bleistifte, und sie haben bereits ihre letzten Schritte getan, wie Mutter zu sagen pflegt. Aber er liegt jedenfalls ganz gut da. Es riecht nicht so fein bei Großvater. Herman öffnet das Fenster, dann legt er die Lebensmittel auf den Nachttisch, der auch ein Tagtisch ist. Das erste, was Großvater macht, ist Milch trinken, und zwar direkt aus der Flasche. Herman geht ins Badezimmer und leert den Nachttopf aus. Als er zurückkommt, hat Großvater bereits vier Fischfrikadellen aufgegessen und wirkt sehr zufrieden. Und in der Ecke tickt die alte Standuhr wie vorher.

»Haben wir heute Zeit, uns miteinander zu unterhalten?« flüstert Großvater und legt seine Hand auf Hermans Arm.

»Ich habe einen Braten im Ofen.«

Das sagt Mutter immer, wenn Händler oder Mormonen an der Wohnungstür sind. Großvater kichert lange. So ein Himmelbett ist ganz prima, vielleicht erinnert man sich darin an all seine Träume.

»Was hast du heute gemacht, Herman?«

»Ich habe heute geschwindelt. Ein paarmal.«

»Das war nicht so gut. Aber morgen sagst du die Wahrheit.«

»Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin.«

»Komm nicht mit Entschuldigungen.«

»Entschuldigung.«

»Warum hast du geschwindelt?«

»Glenn, Karsten und Björnar haben mich gezwungen. Sie haben mir ein Messer ins Herz gesteckt, so daß ich tot auf dem Boden lag.«

»Das ändert die Sache«, sagt Großvater. »Ich erinnere mich, daß ich auch einmal gelogen habe. Das war während des Krieges in der Türkei. Sie haben mir acht Fingernägel gezogen, und da habe ich geredet. Das gilt nicht.«

Großvater ist völlig kahl, abgesehen von drei Haaren an jedem Ohr. Damit ist nicht mehr viel Staat zu machen. Sie sind auch schon kurz vorm Ausfallen. Die Glatze ist holprig wie ein Granitfels und hat fast die gleiche Farbe. Aber man kann Großvaters Gedanken nicht sehen, und das freut Herman. Er überlegt oft, ob es unter seinem Haar auch so aussieht. Doch es ist gar nicht gut, das zu wissen.

Großvater ist wahrscheinlich der älteste Mensch auf der Welt. Es ist eigentlich merkwürdig, daß sowohl Neugeborene als auch Alte fast keine Haare haben.

»Hab’ ich dir erzählt, wie ich mal von der Leiter gefallen bin, in jeder Hand einen Farbeimer?«

»Das hast du.«

»Die eine Farbe war blau, und die andere gelb. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, was ich eigentlich malen wollte.«

»Du wolltest die Fensterrahmen im ersten Stock vom Sommerhaus auf Nesodden anmalen.«

»Zum Glück bin ich ins Gras gefallen. Aber die ganze Farbe habe ich abgekriegt, und dabei wurde ich natürlich grün. Das war so um die Mittsommernacht, und ich wurde erst im August gefunden. Willst du die letzte Fischfrikadelle?«

»Ich soll lieber nichts zwischen den Mahlzeiten essen.«

»Dann nehm’ ich sie. – Aber ansonsten war ich damals frisch wie ein Fisch. Wohin guckst du, Herman?«

»Auf deinen Kopf. Warum hast du keine Haare?«

»Weil ich bald sterben werde. Das ist bei mir wie mit dem Herbst. Die Blätter fallen.«

»Wirst du zum Schluß dann Winter?«

»Ja. Ein langer, langer Winter.«

Als Herman nach Hause kommt, hört er, daß Mutter zwei Teller auf den Boden fallen läßt, und das ist mehr als üblich. Vater steht mit einem Handtuch über der Schulter in der Badezimmertür und starrt ihn an, als hätten sie sich nie zuvor gesehen.

»Hallo, Herman«, sagt Vater endlich, aber seine Stimme ist anders, so als würde er direkt in einen leeren Blumentopf sprechen.

Herman begreift sofort: Vater hat natürlich vom Kran aus alles gesehen, auch daß er über Ruby das Blaue vom Himmel gelogen hat.

»Ich wollte es nicht«, murmelt er.

»Was wolltest du nicht?« fragt Vater leise.

»Du hast mich gesehen, nicht wahr?«

Vater muß gründlich nachdenken, dazu packt er seinen Kopf ins Handtuch. Dann guckt er wieder hervor.

»Ich habe dich den ganzen Tag nicht gesehen. Es waren zu viele Wolken am Himmel. Aber ich habe einem Flugzeug geholfen, das auf dem Fornebo-Flugplatz landen wollte.«

Er wirft Herman das Handtuch zu.

»Nein, das ist nicht ganz richtig«, fährt Vater fort. »Hab’ nicht mal ein Flugzeug gesehen. Nur einen Vogel. Hab’ ihm ein Stück Brot gegeben.«

Mutter kommt mit müden Augen und schmutzigem Gesicht zum Vorschein.

»Du brauchst dich nicht mehr zu waschen. Das Mittagessen ist fertig.

»Aber du mußt dich waschen«, lacht Herman und wirft Mutter das Handtuch zu.

Der Fischpudding ist ziemlich angebrannt, und die Kartoffeln fast zu Mus gekocht. Herman bereut, daß er nicht bei Großvater zwischen den Mahlzeiten gegessen hat. Auch Mutter ist nicht besonders hungrig, sie erzählt in einem fort von Pfand, der darauf bestand, daß die Bierflaschen voller Ameisen seien, und von Jacobsen junior, der von einer Dame mit großem Hut und langem Rock Besuch bekam.

»Bist du krank, Mutter?« fragt Herman.

Sie wendet sich ihm schnell zu und sieht merkwürdig aus.

»Krank? Warum fragst du das?«

»Du ißt so wenig.«

»Sie will mal wieder abnehmen«, sagt Vater.

Mutter schaut auf, nimmt sich eine angebrannte Puddingscheibe und redet mit vollem Mund.

»Meinst du, ich bin zu dick?«

»Ich kann dich mit einem einzigen Finger hochheben«, prahlt Vater, tut es aber glücklicherweise nicht.

»Vielleicht kannst du ja Großvater mit dem Kran nach unten auf die Straße heben«, schlägt Herman vor.

»Das ist eine Idee. Es muß allerdings sorgfältig geplant werden.«

»Wir heben ihn durchs Fenster. Aber wir müssen es machen, bevor es Winter wird.«

»Wie geht es Großvater?« fragt Mutter.

»Er ist frisch wie ein Fisch.«

Vater steht auf und deckt den Tisch ab, dabei fällt ihm eine Gabel auf den Boden, und als er sie aufheben will, rutscht auch noch ein Glas herunter.

»Hast du mit dem Dicken geredet?« fragt Herman und schaut Mutter an, denn er kann es nicht mit ansehen, wie Vater auf dem Linoleum herumkriecht, die Glasscherben zusammensucht und einen ganz roten Nacken hat.

»Jaja, ich habe mit dem Dicken geredet. Wo ist das Wechselgeld?«

»Ich dachte, du hättest es vergessen«, meint Herman.

»Ich habe es wirklich vergessen«, sagt Mutter. »Kauf dir was Schönes davon.«

Herman sieht sie verwirrt an.

»Können wir uns das denn leisten?«

»Ist schon in Ordnung, Herman.«

Vater steht schnell auf und stößt fast mit dem Kopf gegen die Zimmerdecke.

»Ich habe mit unserem Vorarbeiter geredet. Nicht daß ich ihn fragen müßte, aber du kannst mal mit auf den Kran kommen. Was sagst du dazu?«

Herman weiß nicht so recht, was er dazu sagen soll. Aber er will Vater nicht enttäuschen.

»Das wird prima! Dann kann ich meinen eigenen Rükken sehen.«

Vater wirft die Glasscherben in den Mülleimer und setzt sich schnell.

»Und dann gehen wir Aal angeln!«

Herman guckt woanders hin. Vater beugt sich über den Tisch und wedelt mit den Armen, um die Größe zu zeigen.

»Am Fred-Olsen-Kai! Das ist der beste Platz. Und zwar, weil genau da die Abwässer rauskommen.«

»Hör bloß auf!« ruft Mutter und steht mit einem Ruck auf.

Vater blickt sich unglücklich um. Herman sieht, daß er Hilfe braucht.

»Aber ich will sie nicht erwürgen«, sagt er.

Vater lächelt erleichtert.

»Wir erwürgen sie nicht, Herman. Wir nehmen Nägel, drei Zoll lang. Direkt in den Kopf, so!«

Mutter flieht bereits aus dem Zimmer.

Und dieser Abend wird immer merkwürdiger. Vater ißt Abendbrot, ohne sich zu waschen, und Mutter holt eine Mütze hervor, die sie vorletztes Jahr zu stricken begonnen hat. Herman stellt fest, daß es wohl am vernünftigsten ist, gleich gute Nacht zu sagen, und nimmt alle Kastanien mit ins Bett. Das ist mit das Beste, was er sich denken kann, Kastanien auspacken. Daß sich hinter so einer Schale mit spitzen Stacheln etwas so Schönes und Glattes befinden kann, ist kaum zu glauben. Er legt die Kastanien neben sich aufs Kopfkissen, und eine muß er einfach in den Mund stecken.

Genau in dem Moment kommt Mutter herein und setzt sich leise aufs Bett.

»Ißt du Kastanien, Herman?«

»Isch prober nor.«

Mutter streicht ihm den Scheitel entlang, er fängt an zu lachen und muß die Kastanie ausspucken. Sie trifft den Globus mitten in Amerika.

»Der Haarschnitt ist richtig gut geworden.«

»Nicht schlecht.«

»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«

»Nein und nochmals nein.«

»Das macht nichts. Morgen brauchst du nicht zur Schule. Wir müssen mal zum Arzt.«

Herman richtet sich im Bett auf und ist hellwach.

»Bist du krank, Mutter?«

Sie legt ihm einen Finger auf die Stirn und drückt ihn sanft wieder ins Bett.

»Der Arzt soll uns bloß mal angucken. Es ist nichts Gefährliches.«

Daß sie so redet, macht Herman nur noch nervöser.

»Es ist doch nicht der Blinddarm?« fragt er.

»Hast du Bauchschmerzen?«

»Vielleicht. Aber ich wollte das Blatt nicht essen.«

»Hast du ein Blatt gegessen, Herman?«

»Im Frogner-Park – zwischen den Mahlzeiten. Es ist mir direkt in den Mund gefallen.«

»Du hast es doch wieder ausgespuckt?«

»Später. Hast du auch mal Blätter gegessen, Mutter?«

»Ich hab’ mal Harz gegessen. Aber das ist schon lange her. Bevor du geboren wurdest.«

»Wir schaffen es schon«, sagt Herman.

Mutter streicht ihm durchs Haar, und hinterher untersucht sie ihre Finger. Es ist merkwürdig, wie sie sich aufführt. Herman schließt die Augen und tut, als schliefe er. Aber nachdem sie das Licht gelöscht und die Tür geschlossen hat, steht er auf, geht zum Fenster und guckt unter dem Rollo hinaus. In der Hand hält er eine Kastanie, der Globus schimmert dunkelgelb, und an dem schwarzen Himmel ist der Mond weiß und rund zu sehen. Vielleicht ist der Mond das eine Auge vom Wind, denkt Herman. Dann wäre der Wind ein Seeräuber mit einer Klappe über dem anderen Auge.

Er kriecht ganz tief unter die Bettdecke und fürchtet sich ein bißchen davor, morgen mit Mutter zum Arzt zu gehen. Beim Arzt riecht es immer gefährlich. Aber jedenfalls kommt er darum herum, morgen zur Schule zu gehen. Vielleicht ist Mutter krank an der Zeit, denn sie sagt immer, sie hat so schlecht Zeit. Herman hört, daß sie im Wohnzimmer leise redet, als hätte sie ein Geheimnis. Und nach einer Weile kann er hören, daß Vater die Flasche holt, die ganz oben im Speisezimmerschrank steht, obwohl heute doch bloß Dienstag ist. Vielleicht muß er sich jetzt an einem Mittwoch den Finger in den Hals stecken.

Kurz bevor er einschläft, beschließt Herman, daß er sich in dieser Nacht seine Träume merken will. Doch alles, woran er sich danach erinnert, ist der Mond, Großvaters Glatze und die Kastanien. Und das ist kein Traum.

Herman

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