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Kapitel 4

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Als Mutter ihn weckt, hat er immer noch eine Kastanie in der Hand. Aber der Mond ist vom Himmel heruntergerutscht, und Vater ist schon lange zur Baustelle gezogen. Die Uhr zeigt bereits nach zehn. So lange hat Herman mittwochs nicht mehr geschlafen seit dem Sommer, in dem er schwimmen lernte und Windpocken bekam. Mutter trägt ein blaues Kleid mit weißen Punkten, und sie bringt ihm das Frühstück ans Bett, eine Scheibe Toastbrot mit Orangenmarmelade ohne Schalen und Beuteltee direkt aus Indien. Sie sieht nicht sehr krank aus, und sie hat jedenfalls nicht zuwenig Zeit. Doch dann bringt sie ein großes Glas Wasser und bittet Herman, es langsam auszutrinken.

»Der Arzt wird eine Urinprobe nehmen«, sagt sie. »Versuch es auszuhalten, bis wir dort sind.«

»Was will er damit?«

»Alle, die zum Arzt gehen, müssen dort pinkeln.«

Herman trinkt die Hälfte und gibt Mutter den Rest.

»Am besten nimmst du auch einen Schluck.«

Mutter leert das Glas in vier Schlucken, und hinterher paßt sie genau auf, wie er sich wäscht. Und er muß die grauen Hosen anziehen, die kratzen, und das Hemd, das er sonst nur am Nationalfeiertag und zu Weihnachten anzieht. Es ist seit dem letzten Mal enger geworden. Gut, das zu wissen. Zum Schluß stellt Mutter sich hinter ihn hin und kämmt ihn mit ihrer eigenen Bürste, die einem vertrockneten Igel ähnelt. Herman zieht den Metallkamm hervor, aber da bekommt sie wieder so ein merkwürdiges Gesicht und schiebt ihn auf den Flur, wo seine Jacke bereithängt.

»Rate mal, was wir heute zum Mittag haben werden!« sagt sie schnell.

»Brackhaten und Rakotten?«

»Nein!«

»Frischfikadelle und Martoffelkus?«

»Nein!«

»Dann geb’ ich auf.«

»Hähnchen!«

Herman muß fast den ganzen Weg zum Arzt an das Hähnchen denken. An so einem Mittwoch kann viel passieren. Er hält Mutter am Arm, sie trägt ganz glatte Handschuhe und einen Hut auf dem Kopf. In der Bygdöy-Allee fallen die Kastanien noch immer wie grüne Bomben. Die Bäume sehen plötzlich traurig aus, sie sind jetzt fast nackt, sicher frieren sie, wie sie so in Reih und Glied stehen. Herman vergißt für eine Weile das Hähnchen und denkt an Großvater. Friert er auch? Friert er in seinem Himmelbett?

Der Arzt hat seine Praxis genau neben dem Kino. Diese Woche läuft Zorro.

»Vielleicht nimmt Vater dich ja am Samstag mit in die Fünf-Uhr-Vorstellung«, sagt Mutter.

»Vielleicht?«

»Ganz bestimmt!«

Herman ist von all diesen Neuigkeiten so durcheinander, daß er tun muß, als sei er ein Pferd. Er galoppiert über den Bürgersteig und schnaubt durch die Nase, und fast springt Zorro vom Plakat und schließt sich ihm an. Aber als sie das Treppenhaus des Arztes betreten und die schiefen Stufen hochsteigen, vergißt er Zorro und das Hähnchen, und auch Mutter ist nicht so fix da oben unterm Hut, ein Ausdruck, den Vater immer verwendet, wenn er von einem Länderspiel gegen Schweden kommt. Es riecht schlimmer als schlimm, alte Blinddärme, amputierte Füße in Spiritus, erfrorene Fingerspitzen und Spritzen. Herman bleibt jäh stehen und preßt sein Gesicht in Mutters Mantel.

»Aber Herman, was ist denn?«

»Ich will nicht!«

»Es ist nicht gefährlich. Der Arzt soll uns nur mal angucken. Weißt du, was wir zum Nachtisch haben?«

Herman kommt aus dem Mantel hervor, schaut zu Mutter hinauf, und ihm wird fast schwindlig, denn jetzt ist sie doch wieder ganz fix oben unter ihrem Hut. Es ist eigentlich traurig, daß er nie Kranführer werden kann.

»Vielleicht Uckerzei?« schlägt er vor.

»Nein!«

»Kannpfuchen?«

»Nein!«

»Ich geb’s auf.«

»Eis!«

Das muß sorgfältig geplant werden. Er darf nicht zuviel Hähnchen essen, sonst schafft er nicht mehr genug vom Eis. Er faßt Mutter bei der Hand und hält sie fest.

»Hab keine Angst. Es wird schon gutgehen.«

Sie öffnet die Tür zum Wartezimmer, und Herman verliert alles, was Appetit heißt, nicht mal ein Finderlohn würde helfen. Da drinnen sitzen sehr kranke Menschen auf wackligen Stühlen, starren giftgrüne Wände an und pressen so fest ihre Hände zusammen, daß es verbrannt riecht. Mutter findet in der Ecke Platz – es ist still wie im Grab, wie Großvater immer sagt, wenn er von Großmutter erzählt. Neben Herman sitzt ein trauriger Mann, der fast keinen Kopf mehr hat. Eine Dame mit nur einem Arm und Schnurrbart schmiert sich Lippenstift auf den Mund und trifft jedesmal daneben. Und mitten im Zimmer steht ein Straßenbahnschaffner, der einen Finger verloren hat. Die Wände sind voll mit Plakaten, auf denen dicke Krankenschwestern riesige Spritzen und Lebertranflaschen, größer als der Monolith im Park, zeigen. Herman muß sich die Augen zuhalten, doch er sieht immer noch durch die Finger. Plötzlich geht die Tür auf, und ein Polizist hinkt heraus, sicher konnte er gut gehen, als er kam. Herman legt sein Gesicht in den Schoß und tut, als träume er, aber an diesen Traum will er sich auf keinen Fall erinnern.

Mit einemmal wird es ganz still, stiller als im Grab, es ist so still, daß sie die Zeit auf einer Damenarmbanduhr in Tokio verstreichen hören können. Herman muß einen Blick riskieren, er hebt ein Auge und sieht, daß der Doktor in der Tür steht und seine Knöpfe zählt. Alle im Wartezimmer starren in eine andere Richtung, und jetzt ist es so still, daß sie hören können, wie ein Augustapfel draußen auf der Nesodden-Halbinsel ins Gras fällt. Aber gleich danach gibt es Lärm. Der Doktor zieht ein Laken hervor und putzt sich die Nase, bis sie blank ist, während er laut ruft, um sich selbst zu übertönen:

»Fulkt als nächste!«

Mutter muß Herman ins Sprechzimmer schleifen, die Tür wird geschlossen, und es gibt keinen Weg zurück. In der Ecke neben der Tür steht eine Sprechstundenhilfe, die die ganze Zeit hustet und versucht, gleichzeitig zu lächeln. Das ist schwierig. In der anderen Ecke steht ein Schrank mit einem frisch geschärften Schwert darin und Bandagen. In der dritten Ecke steht eine Liege mit Matratze, ganz in Papier eingepackt. In der letzten Ecke steht Herman. Er steht nicht sehr sicher. Das einzige, was hier hübsch anzusehen ist, ist die grüne Pflanze am Fenster, sie quillt aus dem Blumentopf wie eine Palme ohne Stamm. Aber es stinkt überall noch schlimmer als schlimm. Sicher muß deshalb die Sprechstundenhilfe husten und der Doktor sich die Nase putzen. Nun beugt er sich zu Herman, der sich in der riesigen Nasenspitze spiegeln kann, und da sieht Hermans Gesicht wieder merkwürdig aus, es ähnelt dem eines Fisches, der aus dem Aquarium heraus will. Herman ist leicht verstört, vielleicht ist er doch nicht frisch wie ein Fisch?

Die Stimme oberhalb des weißen Kittels fängt an zu reden.

»Wie geht es uns denn?« fragt sie.

»Uns geht es bestimmt nicht so gut«, flüstert Herman und schaut Mutter an, die mit den Händen herumfuchtelt, als wäre sie selbst in einem Aquarium eingesperrt.

»Und wie alt bist du?«

Der Doktor redet komisch, so als verwechsele er Herman mit einem Pudel.

»Ich glaube, ich bin mit dem Zählen durcheinandergeraten. Aber nächstes Jahr habe ich wieder Geburtstag.«

Der Doktor lacht laut und muß sich erneut in seinem Taschentuch verstecken.

»Ich schaffe es auch nie, mir meine Telefonnummer zu merken«, keucht er.

»Das macht nichts. Wir haben kein Telefon.«

Mutter wird rot, und der Doktor muß wieder laut lachen. Dann kommt er noch näher. Er riecht nach Lakritz.

»Willst du dich nicht setzen, damit ich dich kurz anschauen kann?«

»Schauen Sie hier.«

»Na gut.«

»Und keine Spritzen!«

»Abgemacht.«

Herman zieht Mutter zu sich heran.

»Er will wohl mich zuerst ansehen. Vielleicht ist es ja ansteckend.«

Mutter sieht ihn verwirrt an, will etwas sagen, gibt aber mit einem Seufzer auf, der Hermans Haar zu Berge stehen läßt. Ihm wird klar, daß sie sich fürchtet, weil sie als nächste an die Reihe kommt, und er will sie gern an das Hähnchen und den Nachtisch erinnern, aber da ist er schon dabei, sich Hemd und Unterhemd auszuziehen. Der Doktor legt ihm ein kaltes Ding auf den Rücken und bittet ihn, tief ein- und auszuatmen. Das geht ganz gut. Mutter steht daneben und lächelt, aber irgend etwas stimmt in ihrem Lächeln nicht. Es sieht aus, als wäre es aus Weckgummis hergestellt.

Der Doktor steht auf und zieht sich die Pfropfen aus dem Ohr.

»Werde ich bald sterben?« fragt Herman.

»Sag nicht so was!« ruft Mutter.

»Du bist bestimmt frisch wie ein Fisch«, lächelt der Doktor und putzt sich die Nase.

»Das sagt Großvater auch, aber bald ist Winter.«

Mutter muß sich setzen, und der Doktor gerät hinter seinem Taschentuch auch ganz durcheinander.

»Winter? Dann willst du wohl skilaufen?«

Herman kann nicht antworten. Er friert. Kein Wunder, daß die sich hier drinnen erkältet haben. Der Doktor hat ein Vergrößerungsglas hervorgeholt, legt seine Finger auf Hermans Haare und lehnt sich über die Kopfhaut. Das dauert eine ganze Weile. Es ist unglaublich, wie neugierig im Augenblick alle sind. Und wieder ist es still. Es ist so still, daß Herman Tonne hören kann, wie er gerade in der dritten Stunde die Kreide zerbricht. Endlich ist der Doktor fertig, dreht sich weg und niest wie ein Orkan.

»Habe ich Läuse?« fragt Herman.

»Weit gefehlt«, sagt Mutter. »Wie kommst du auf so was?«

»Björnar hatte sie letztes Jahr. Sechshundertzweiunddreißig Stück.«

Die Arzthelferin, die jetzt auch angefangen hat zu niesen, gibt ihm ein Glas, das unten ganz schmal und oben ganz breit ist.

»Nun müssen wir nur noch eine kleine Urinprobe nehmen. Du hast hoffentlich etwas zurückgehalten?«

»Man hat lange gesammelt.«

Herman dreht ihnen den Rücken zu, knöpft die Hose auf und zielt. Und dann kommt es. Es kommt viel. Es steigt und steigt, bald reicht es fast bis zum Rand. Er beginnt, mit den Schultern zu zucken.

»Du bist sicher gleich fertig?« fragt Mutter hinter ihm.

»Noch nicht«, quetscht Herman hervor.

Es geht einfach weiter, ist nicht zu stoppen, jetzt läuft es über den Rand, die Sprechstundenhilfe kommt mit einem neuen Glas angerannt, sie tauschen, und Herman ist immer noch nicht leer. Mutter umkreist ihn nervös. Herman starrt an die Wand, er hat noch nie so lange gepinkelt. Bald ist das zweite Glas auch voll, der Arzt holt zwei Kaffeetassen, Herman füllt sie im Nu, und alle laufen hin und her und schreien sich etwas zu. Der Doktor holt die Pflanze vom Fensterbrett, Herman begießt sie gründlich, und endlich geht es dem Ende zu, die letzten Tropfen laufen die Blätter hinunter. Der Arzt wischt sich den Schweiß von der Stirn und muß sich erst mal auf die Matratze legen.

»Das war das«, sagt Herman, er knöpft sich den Hosenstall zu und lächelt zufrieden Mutter an. »Jetzt bist du dran.«

Aber der Arzt ist schon wieder auf den Beinen, kommt mit einer Spritze in der Hand auf ihn zu. Herman bekommt eine Gänsehaut unter den Füßen. Er weicht zurück und stößt gegen die Arzthelferin, die ihm schwer ihre Hände auf die Schultern legt. »Sie haben gelogen«, sagt Herman und zeigt auf den Arzt.

»Das ist keine Spritze«, versucht der. »Wir brauchen nur eine Blutprobe.«

»Sieht aber ganz so aus.«

»Willst du dich vielleicht hinsetzen?«

»Ich bleibe hier stehen.«

»In Ordnung. Jetzt spannen wir die Armmuskeln so stark an, daß wir eine Ader finden können.«

Aber das ist leichter gesagt als getan. Sie müssen überall suchen, der Arzt drückt und tastet. Und plötzlich sticht er die Nadel durch die Haut und zieht Blut heraus.

»Jetzt werd’ ich ohnmächtig«, sagt Herman langsam.

»Das geht doch prima«, flüstert Mutter, sie sieht aber auch nicht besonders frohgelaunt aus.

»Jetzt bin ich ohnmächtig«, sagt Herman und poltert zu Boden. Als er wieder zu sich kommt, liegt er auf der Matratze, hat ein feuchtes Tuch auf der Stirn und eine Flasche Coca-Cola in Reichweite.

Zuerst glaubt er, das Ganze sei nur ein Traum gewesen und er sei gar nicht zu sich selbst gekommen, sondern an einen ganz anderen Ort. Dann erkennt er den Arzt und die Sprechstundenhilfe wieder, aber Mutter sieht anders aus als vorher, ihr Gesicht ist weiß wie ein Tennisball, und sie muß sich gegen die Wand lehnen. Als er schließlich Stimmen hört, ist er ganz sicher, daß er doch zu sich selbst gekommen ist. Und die Cola schmeckt auch nicht schlecht.

»Haben Sie schon früher Haarausfall bemerkt?«

»Nicht daß ich wüßte«, sagt Mutter leise.

»Sie haben keine Haare im Abfluß oder im Kamm gefunden?«

»Schon ein paar, aber ich habe mir nichts dabei gedacht.«

»Ich kann nichts Genaues sagen, bevor wir die Proben untersucht haben. Aber Sie müssen auf das Schlimmste gefaßt sein: daß sämtliche Haare ausfallen.«

Alle schauen auf Herman. Mutter tritt zu ihm und beugt sich hinab.

»Bist du wach, Herman?«

»Glaub’ schon. Man muß nur erst die Cola austrinken.«

Danach wird ihnen der Weg hinaus gezeigt, und im Wartezimmer sind alle noch kränker geworden, sie schaffen es kaum noch, aufrecht auf ihren Stühlen zu sitzen, jammern sich gegenseitig etwas vor und verdrehen die Augen nach oben.

»Es tut nicht sehr weh«, sagt Herman. »Nur ein bißchen.«

Draußen hat es inzwischen angefangen zu regnen, so ein Herbstregen, der sich wie ein Spinngewebe aufs Gesicht legt. Mutter hält Herman so fest an der Hand, daß es fast weh tut, und sie ist immer noch ganz weit weg – als ob jemand den Tennisball hoch über die Häuserdächer geschlagen hätte. Herman versucht sich Mutter ohne Haare vorzustellen. Das ist unmöglich.

»Du warst sehr tapfer«, sagt sie und räuspert sich.

»Du warst auch nicht schlecht.«

Da hört er ein merkwürdiges Geräusch, und er muß nach oben gucken. Es ist schwierig zu erkennen, ob sie weint oder ob das nur der Regen ist.

»Sei nicht traurig, Mutter«, sagt Herman. »Wenn zu viele ausfallen, kannst du dir eine Perücke kaufen.«

Nun ist es ganz sicher, daß sie weint, und in der Bygdöy-Allee fällt sie fast über eine Kastanie und sieht weder nach rechts noch nach links.

»Du kannst rotes Haar kriegen!« sagt Herman laut. »Rote Haare sind die schönsten, die ich mir denken kann!«

Und er führt Mutter sicher über die Straße.

Zum Mittag gibt es Hähnchen und als Nachtisch Eis. Aber etwas versteht Herman nicht ganz. Jetzt ist auch noch Vater komisch im Gesicht, und zwischendurch redet er englisch, und das bedeutet nie etwas Gutes. Herman darf bis halb zehn aufbleiben, und Vater erzählt, daß er schon Karten in der ersten Reihe für Zorro gekauft hat, und er fragt Herman, ob er nicht gern wie Zorro einen Degen und eine schwarze Maske hätte. Insgesamt sind die Eltern so seltsam, daß Herman fast erleichtert ist, als er ins Bett gehen muß. Beide kommen noch in sein Zimmer, und Vater zaubert mit den Kastanien, und er zaubert so stark, daß zwei weg sind. Und danach muß Herman ihn trösten.

Herman

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