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Kapitel 2

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Herman steht mit nacktem Oberkörper im Badezimmer und wäscht sich, zusammen mit Vater. Hermans Vater ißt nämlich niemals etwas, ohne sich vorher gründlich zu waschen – nicht nur die Hände, sondern alles oberhalb der Gürtellinie, und vor allem die Achselhöhlen. Selbst wenn Vater nur eine einzige Scheibe Brot beim Radiowunschkonzert in sich hineinmümmeln will, muß er raus, sich den Oberkörper schrubben und das Hemd wechseln. Auf die Dauer ist das ein bißchen anstrengend, aber es ist auch ganz prima, so zusammen mit Vater mit nacktem Oberkörper dazustehen und die Muskeln zu zeigen. Hermans Oberarme sind noch nicht so recht zu gebrauchen, aber das wird schon kommen, wenn er aufhört, Blätter zu essen. Außerdem hängt der Spiegel so hoch, daß er nur seine Haare erspähen kann, während Vater so groß ist, daß er fast bis an die Decke reicht und sich hinunterbeugen muß, wenn er sich die Haare mit dem blanken Metallkamm, auf den er so stolz ist, kämmt. Hermans Vater ist Kranführer.

»Hast du heute irgendwas Dummes gemacht?« fragt Vater, während er gewissenhaft den Kamm betrachtet, bevor er ihn in die Hosentasche steckt.

Herman muß gründlich nachdenken.

»Nicht daß ich wüßte«, sagt er.

»Das kann ich mir denken. Denn sonst hätte ich es ja gesehen, nicht?«

Vater knufft ihn in den Rücken, und beide kichern. Herman lehnt den Kopf zurück und schaut zu Vater hoch, und für einen Augenblick ist es fast wie unter dem Baum im Frogner-Park, aber von Vaters Kopf lösen sich keine Blätter.

»Hast du heute ein paar Engel gesehen?« fragt Herman.

»Auch heute keinen einzigen«, seufzt Vater und schmiert sich unter beide Arme Deodorant. Danach darf Herman es sich ausleihen, es brennt teuflisch, aber das muß vielleicht so sein, wenn es so gut riecht. Und dann können sie hören, daß Mutter einen Teller auf den Boden fallen läßt, und das bedeutet, daß das Mittagessen fertig ist.

Heute ist Montag, und Montag heißt soviel wie Resteessen. Das ist nicht gerade Hermans Lieblingsspeise. Er rätselt immer darüber, woher die Reste eigentlich kommen, denn er kann sich nicht daran erinnern, Samstag oder Sonntag etwas gegessen zu haben, was den Resten ähnelt. Herman hat den bösen Verdacht, daß es Vaters Aal ist, der in den rätselhaften Auflauf geschmuggelt worden ist. Außerdem ist er heute sowieso nicht besonders hungrig. An solchen Montagen pflegt Vater ihn immer zu fragen, ob er krank sei oder ob er nicht mehr wachsen wolle; alles in allem bringt das Resteessen eine Menge Lästiges mit sich.

Herman stochert auf dem Teller herum, und draußen regnet es weiter. Eine schmutzige Taube sitzt auf dem Fensterbrett und gurrt ganz für sich allein, dann fliegt sie über die Straße und landet auf einem Ast. Die Vögel haben es gut, die brauchen keine Regenjacke und keinen Südwesterhut, denkt Herman. Aber wenn es, wie in Afrika, 40 Tage hintereinander regnet, vielleicht brauchen sie dann Schwimmreifen und Schnorchel?

»Bist du krank, Herman? Oder willst du nicht mehr wachsen?«

Vater redet mit vollem Mund und bedient sich zum vierten Mal. Trotzdem ist noch genug Aal im Auflauf.

»Man hat schon gegessen«, sagt Herman.

»Schon gegessen? Wo denn?« fragt Mutter.

»Im Frogner-Park.«

»Du sollst nicht zwischen den Mahlzeiten essen«, sagt Vater. »Dann wächst du nur in die Breite, nicht in die Höhe.«

»Soll nicht wieder vorkommen«, sagt Herman und schaut wieder aus dem Fenster. Die Taube ist jetzt weg, aber der Regen ist noch da, senkrecht vom Himmel. Gott muß gut schwimmen können, denkt Herman, ganz zu schweigen von Jesus, der in seiner Jugend übers Wasser ging.

Herman ist stolz, daß sein Vater Kranführer ist. Eine Weile hat er überlegt, ob er selbst auch diesen Berufsweg einschlagen soll. Aber wenn ihm schon schwindlig wird, sobald er nur auf einem Hügel steht oder in einen Baum guckt – ist es da nicht ziemlich unwahrscheinlich, daß er es schafft, mindestens zehn Kilometer hoch in der Luft zu sitzen, hinunterzugucken und gleichzeitig mit dem Haken ein schweres Kabel hochzuheben und es in eine Nähnadel einzufädeln?

Mutter schiebt die Reste von Hermans Teller auf ihren. Mutter hat immer am meisten Hunger, obwohl sie klein und dünn ist. Sie arbeitet in Jacobsens Kolonialwarengeschäft an der Ecke. Herman geht gerne nach der Schule dorthin, am besten gefällt ihm der Duft der Kaffeemaschine hinter dem Tresen. Es ist komisch, daß etwas, was so schlecht schmeckt, so gut riechen kann.

»Heute hatten wir einen Kunden, der versuchte, die Kasse zu klauen«, erzählt Mutter. »Er warf mit Tomaten und bedrohte uns mit einer Hand Bananen!«

»Das war doch nicht Pfand?« fragt Herman.

»Natürlich war es nicht Pfand! Pfand kommt nicht auf solche Ideen.«

»Wieviel Geld hat er denn genommen?«

»Er rutschte auf einer Bananenschale aus und flüchtete!«

Mutter muß Messer und Gabel hinlegen, während sie lacht. Und wenn Mutter lacht, entgleisen die Züge am Westbahnhof, die Fähre nach Nesodden sinkt, und die Uhr am Rathausturm bleibt stehen. Vater holt langsam Luft und wartet, bis es wieder still ist.

»Das ist nicht ganz wahr so, Mutter«, seufzt er.

»Wahr oder nicht«, sagt sie. »Jacobsen junior rief jedenfalls die Polizei an und meldete einen bewaffneten Überfall. Er dachte, die Tomaten wären Blut.«

»Der eitle Protz von einem Angsthasen! Der läuft doch schon zur Polizei, wenn er einen Kugelschreiber vermißt.«

»Na, er tut sein Bestes.«

»Ja, und das ist Kugelschreiber zählen und sich aufspielen.«

Herman schaut Vater und Mutter an und denkt nach.

»Vielleicht war es Gustav Vigeland2«, sagt er.

Vater legt ebenfalls Messer und Gabel hin und seufzt noch ein paarmal tief auf. Mutter tauscht ihren Teller mit Hermans und beugt sich plötzlich näher zu ihm, genau wie Ruby. Er wird wieder leicht nervös, vielleicht hat er ja doch nicht das ganze Blatt herausgekriegt, vielleicht ist er dabei, ein Baum zu werden, ohne es zu wissen.

»Morgen mußt du dir die Haare schneiden lassen«, sagt sie.

Herman ist erleichtert.

»Geht in Ordnung.«

»Und du hast nicht vergessen, daß du Großvater besuchen sollst?«

Herman schüttelt den Kopf, daß die Locken in alle Richtungen fliegen und ein paar Haare auf den Tisch herabrieseln.

»Man ist nicht so vergeßlich«, sagt er.

Mutter bürstet die Haare weg und schaut Herman wieder an.

»Ich glaube fast, daß du bald ein Haarnetz tragen mußt!« lacht sie.

Herman lacht auch laut, aber nicht so laut wie Mutter, das kann er nicht, während Vater den Tisch abräumt und alles auf einmal hinausträgt, ohne auch nur einen Zahnstocher zu verlieren.

Wenn Herman sagt, daß er Hausaufgaben machen muß, kommt er um den Abwasch herum. Darum sagt er das meistens nach dem Mittagessen. Er geht in sein Zimmer, holt sein Arbeitsheft heraus und schreibt: Der Frogner-Park von Gustav Vigeland. 58 Figuren auf der Brücke. 4 Echsen aus Granit. Der Rosengarten. Das Labyrinth. Das Monolithenplateau. 8 schmiedeeiserne Tore. Der Westplatz. Das Lebensrad. Er grübelt lange über den letzten Satz nach. Er ist etwas unschlüssig, schreibt ihn aber doch auf: Und man war sich einig, daß es ein schöner Tag gewesen war. Danach bleibt er sitzen und schaut aus dem Fenster. Die Dunkelheit ist schon da. Es ist merkwürdig, daß man die Dunkelheit sehen kann, denkt Herman. Aber sein Globus ist nicht dunkel, er leuchtet, er steht auf dem Fensterbrett und wird nie ausgeknipst. Er gibt dem Globus einen Schubs, schließt die Augen und hält ihn mit dem Zeigefinger an. Adapazari! Er radiert den letzten Satz im Heft aus und schreibt statt dessen: Wenn ich erwachsen bin, werde ich Kranführer oder reise nach Adapazari!

Bevor er ins Bett geht, hören sie sich zusammen das Wunschkonzert an. Aber heute abend hat keiner von ihnen Geburtstag, darum erhalten sie keine Grüße. Herman findet, daß die Kirchenlieder traurig klingen, und er hofft, daß niemand darauf kommen wird, für ihn das Kirchenlied »Die große weiße Herde« zu spielen, wenn er dran ist. Während Eddie Calvert für einen Soldaten Trompete spielt, geht Vater ins Bad, und sie wissen, daß er schon wieder Hunger hat.

»Zeit, die Segel zu setzen«, sagt Mutter und schaut von ihren Patience-Karten auf. »Und dazu muß der Kapitän an Bord sein, nicht wahr?«

»Land ahoi!« sagt Herman und marschiert ins Bad, wo Vater mit bloßem Oberkörper steht und sich rasiert. Sein Bart kommt dreimal am Tag zum Vorschein, sonntags sogar fünfmal. Herman klettert auf Vaters Rücken, aber als er die Schultern erreicht und sie beide im Spiegel sehen kann, wird ihm wieder schwindlig, und er rutscht langsam hinunter. Vater lacht und steckt den Kopf unter den Wasserhahn. Herman knickt die Zahnpastatube achtmal um, drückt, so fest er kann, und ein kleiner weißer Klumpen kommt heraus. Es ist eigentlich komisch, daß Zahnpastatuben niemals leer werden.

»Da sagen wir dann gute Nacht«, sagt Herman.

»Gute Nacht«, gurgelt Vater.

Nachdem Herman sich hingelegt hat, kommt Mutter und löscht das Licht, aber der Globus bleibt an. Dann setzt sie sich ans Bett und streicht Herman durchs Haar, zupft etwas daran, und das mag Herman sehr. Das macht sie immer, wenn seine Haare zu lang werden und er zum Friseur muß. Er beschließt, nicht zuviel abschneiden zu lassen, so muß er bald wieder zum Friseur, und Mutter wird ihm durchs Haar streichen, zupfen und laut lachen. Sie schließt leise die Tür, und Herman denkt plötzlich an Ruby, an all ihre roten Haare; es ist nicht völlig unmöglich, daß dort Vögel drin sind – vielleicht ein Dompfaff oder wenigstens ein Kolibri. Und er muß an das Blatt denken, das er verschluckt hat. Das war mit das Merkwürdigste, was er bisher getan hat, er wird es sich gut überlegen, bevor er wieder etwas Ähnliches tut. Dann hört er draußen den Wind, der singt heute abend eine sonderbare Melodie, schleicht sich mit kaputtem Akkordeon und verstopften Trompeten um die Ecken. Aber das Gesicht des Windes hat er nie gesehen. Bald darauf hört er die Eltern im Wohnzimmer, sie haben glücklicherweise Gesichter. Herman denkt auch an die Zeit und daß sie arm dran ist – alle wollen sie haben, und manchmal schlagen sie sie auch noch tot. Dann träumt er manches, kann es sich aber nicht merken. Das ist eigentlich ein wenig ärgerlich.

Herman

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