Читать книгу Der letzte Leopard - Lauren St John - Страница 4

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Die Morgendämmerung überzog den rosafarbenen Himmel mit goldenen Fäden, als Martine Allen sich mit einem letzten Blick versicherte, dass sie von niemandem im Wildreservat Sawubona beobachtet wurde. Dann beugte sie sich wie eine Rennreiterin nach vorn, verkrallte ihre Finger in einem Büschel silberner Mähnenhaare und rief aus: «Los, Jemmy, los!»

Als die weiße Giraffe einen Satz vorwärts machte, wurde Martine fast abgeworfen. Doch sie fand ihren Halt schnell wieder und passte sich, die Arme um den Hals der Giraffe geschlungen, Jemmys federndem Schaukelpferdrhythmus an. Die Giraffe und ihre Reiterin schossen am Damm und an einer Herde Flusspferde vorbei, die kleine Blasen aufsteigen ließen, schreckten eine Gruppe von Silberreihern auf, die wie Glitzerkonfetti in die weite Savanne hinausstoben. Ein Chor von Tauben, Grillen und Lärmvögeln steuerte die typisch afrikanische Morgenmusik bei.

Lange Zeit war Martine nur nachts und im Geheimen mit Jemmy ausgeritten. Doch nachdem ihre Großmutter von ihren nächtlichen Ausflügen erfahren hatte, sprach sie prompt ein Verbot aus, das sie damit begründete, dass die gefährlichsten Raubtiere des Reservats Sawubona nach Sonnenuntergang auf Mahlzeitensuche waren und nichts lieber auf ihrem Speisezettel sehen würden als ein elfjähriges Mädchen, das auf einer Giraffe dahergeritten kam. Anfangs hatte Martine sich über das nächtliche Reitverbot hinweggesetzt, aber nach einigen brenzligen Situationen und einem Riesenkrach mit ihrer Großmutter musste selbst sie einsehen, dass ihre Großmutter recht hatte. Wenn die Löwen auf der Jagd waren, war es klüger, sich vom Reservat fernzuhalten.

Als weitere Regel hatte ihre Großmutter festgelegt, dass Martine nur in gemächlichem Tempo auf Jemmy reiten durfte. «Allerhöchstens im Trab, lieber noch im Schritt», sagte sie streng.

Martine hatte ihren Worten kaum Beachtung geschenkt. In ihren Augen war Jemmy ein Wildtier, und deshalb betrachtete sie es als völlig normal, dass er die Freiheit haben sollte, seiner Wesensart zu folgen – auch wenn dies bedeutete, dass er mit 35 Stundenkilometern durch die Savanne preschte. Abgesehen davon konnte sie ja auch kaum etwas dagegen ausrichten, da sie keine Zügel hatte, um ihn zu bremsen. Und was bringt es, auf einer Giraffe zu reiten, wenn sich diese höchstens im Tempo eines alterssteifen Ponys fortbewegen darf?

Damit war auch Jemmy voll und ganz einverstanden. Während sie über die Steppe flogen, pfiff der Frühlingswind in Martines Ohren. «Schneller, Jemmy», rief sie. «So schnell, wie du nur kannst.» Dann lachte sie schallend vor lauter Glück und Aufregung, auf einer wilden Giraffe zu reiten.

Plötzlich schoss etwas Graues durch ihr Blickfeld, begleitet von einem schrillen, nasalen Quieken.

Jemmy machte einen Schlenker. Im Sekundenbruchteil, bevor sie vom Körper der weißen Giraffe wegkatapultiert wurde, erhaschte Martine einen flüchtigen Blick von einem Warzenschwein, das mit nach vorne gerichteten gelben Hauern aus seinem Bau gestürmt kam. Hätte sie Jemmys Hals nicht fest mit ihren Armen umschlungen gehabt, wäre sie aus drei Metern auf den Steppenboden gestürzt. Stattdessen rutschte sie nur auf die Brustseite von Jemmys Hals, wo sie wie ein menschliches Amulett hin und her baumelte. Derweilen tänzelte Jemmy scheu herum, während die Sau in der Absicht, ihre Jungen zu verteidigen, wütend zu ihm hinaufquiekte. Fünf Warzenschweinferkel irrten mit himmelwärts ragenden Schwänzchen verängstigt umher.

Die Schmerzen in Martines Armen waren beinahe unerträglich, doch sie wollte um keinen Preis loslassen. Sie liebte Warzenschweine mit ihren Warzen, der rauen Haut, den Schweinsöhrchen und dem ganzen Drum und Dran. Doch sie wusste, dass sie zwar mit ihren Augenwimpern glamourös klimpern, im nächsten Augenblick aber mit ihren Hauern ihre Beine zu blutigem Brei schlagen konnten.

Sie biss die Zähne zusammen. «Jemmy», raunte sie der Giraffe zu. «Nichts wie weg hier, alter Junge.»

In seiner Verwirrung machte Jemmy einen Schritt zurück und beugte sich zu dem Warzenschwein hinab.

«Nein», kreischte Martine, als die Muttersau nach einem ihrer Stiefel schnappte. «Weg hier! Bloß weg hier, Jemmy!»

Jemmy ließ seinen Hals zurückschnellen, um den scharfen Hauern des Warzenschweins auszuweichen. Martine nutzte diese Bewegung, um ihre Beine um Jemmys Hals zu schlingen. Aus dieser Stellung schaffte sie es, sich auf seinen Rücken zu schwingen und ihn zu einem Sprint anzutreiben. Schon bald war die Warzenschweinfamilie nur noch ein grauer Fleck in weiter Ferne, auch wenn das triumphierende Quieken der Muttersau noch lange zu hören war.

Den Rest des Heimwegs ritt Martine in gemächlichem Tempo und mit einem reumütigen Lächeln auf den Lippen. So schnell würde sie sich nicht mehr aufspielen, nicht einmal vor einem Flusspferdpublikum. An der Eingangspforte zum Reservat beugte sich Jemmy vornüber und ließ Martine seinen silberfarbenen Hals hinabgleiten, als wäre er eine Rutschbahn. Das war zwar nicht die sicherste Methode, um von einer Giraffe abzusteigen, aber sie machte Spaß. Noch einmal umarmte sie Jemmy und schlenderte dann zwischen den Mangobäumen hindurch zum Haus mit dem Strohdach.

In der Küche stand eine Bratpfanne auf dem Herd. Darin brutzelten mit Zucker bestreute Tomaten, auf denen sich langsam eine goldbraune Karamellkruste bildete. Kleine Genussfältchen zogen sich über Martines Nase. Sie hatte einen Bärenhunger. Sechsmal in der Woche gab es bei Großmutter hartgekochte Eier mit Toast zum Frühstück, manchmal mit einer Schale Cornflakes als Lichtblick. Doch sonntags und an besonderen Tagen wie heute zeigte sich Gwyn Thomas von ihrer großzügigen Seite, tischte einen köstlichen Brunch auf, bereitete einen leckeren Braten oder erlaubte Martine, zusammen mit Tendai, dem Zulu, der als Wildhüter in Sawubona arbeitete, zu einem Frühstückspicknick am Lagerfeuer auf das Hochplateau zu fahren.

Martine streifte die Stiefel auf der Veranda ab, ging barfuß in das Haus und rief: «Morgen Großmutter!»

«Hallo Martine», sagte Gwyn Thomas, während sie die Ofentür schloss und sich aufrichtete. Sie trug eine rot gestreifte Schürze über einem Jeanshemd. «Wasch dir die Hände und setz dich hin. Hattest du einen schönen Ausritt? Und hat sich Jemmy gut aufgeführt?»

«Wie ein Engel», sagte Martine. Etwas anderes würde sie über ihren Freund ohnehin nicht sagen, ganz abgesehen davon, dass er sich immer gut benahm. Es war ja nicht sein Fehler, dass das Warzenschwein heute mit dem falschen Bein zuerst aus dem Bau gestiegen war.

An der Tür klopfte es zaghaft.

«Ah, Ben», sagte Gwyn Thomas lächelnd. «Perfektes Timing. Das Frühstück ist fast bereit. Komm, setz dich.»

«Danke, Ma’am», sagte eine klare, junge Stimme.

Als sie sich umdrehte, sah Martine den Jungen, der halb Zulu, halb Inder war, etwas schüchtern die Küche betreten. Er trug eine armeegrüne Weste, schwere braune Stiefel und ausgefranste Jeans – seine einzigen, seit er vor ein paar Wochen während eines Inselabenteuers seine anderen Jeans zu Shorts gekürzt hatte. Er hatte glänzend schwarzes Haar, seine Haut war honigfarben, und obwohl er schlank war – einige hätten ihn wohl gar als mager beschrieben –, wirkte er sportlich und kräftig.

Er wusch sich die Hände in der Küchenspüle und setzte sich an den Tisch. «Dir ist heute Morgen wohl ein Warzenschwein über den Weg gekrochen, Martine», neckte er sie. «Ihr habt den Busch ganz schön umgepflügt, du und Jemmy. Es sieht ja stellenweise so aus, als hätte hier der Start zur East African Safari Rallye stattgefunden.»

«Was ist passiert?», fragte Gwyn Thomas. «Bist du zu schnell geritten? Habe ich dir nicht ausdrücklich verboten, Jemmy galoppieren zu lassen? Meinst du, ich will, dass du dir vor meinen Augen das Genick brichst? Sag mal, Ben, haben die Spuren auch gezeigt, dass Martine sehr schnell unterwegs war?»

Martine warf Ben einen verstohlenen Blick zu. Sie wusste, dass Gwyn Thomas ihr das Leben schwer machen würde, sollte man sie beim Galopp auf Jemmy ertappen. Sie wusste aber auch, dass Ben niemals log, und hätte das auch nie von ihm erwartet. Sie machte sich schon auf eine Strafpredigt und ein Reitverbot gefasst. Großartig! Und das am ersten Tag der Schulferien.

«Ja … ääh … ich glaube», sagte Ben und wand sich auf seinem Stuhl.

Die Großmutter stemmte die Arme in die Hüften. «Was glaubst du, Ben? Rück heraus mit der Wahrheit!»

«Ich glaube, der Toast brennt an», sagte Ben geistesgegenwärtig.

Gwyn Thomas sprang auf, zog die rauchende Grillpfanne vom Herd und pustete die Flammen aus, die an den vier verkohlten Toastscheiben züngelten. In diesem Moment begann die Schaltuhr des Ofens zu piepsen und zeigte an, dass die Pilze gar waren, und Martine bemerkte, dass nun auch von den Tomaten Rauch aufstieg. Als sie schließlich das verbrannte Frühstück halbwegs gerettet, frische Toasts gemacht und ein paar Eier in die Pfanne geschlagen hatten, schien Martines Großmutter den gefährlichen Ausritt vergessen zu haben.

Ben lenkte sie zusätzlich mit einer Warzenschweingeschichte ab, die ihm Tendai am Morgen erzählt hatte. Es ging um einen jungen Jäger, den er während seiner Ausbildung zum Wildhüter kennengelernt hatte. Eines Tages wollte dieser die anderen Jägerlehrlinge unterhalten und seine Tapferkeit unter Beweis stellen, indem er ein Warzenschwein in einem Gehege einfach so zum Spaß reizte und quälte. Sollte das Tier auf ihn losgehen, wollte er über den Zaun entkommen.

«Das einzige Problem war, dass es sich um einen Elektrozaun handelte», erzählte Ben grinsend. «Und an dem blieb der junge Jäger zwanzig Minuten lang hängen, bis das Warzenschwein genug hatte und von ihm abließ.»

Martine, deren Arme immer noch von ihrer eigenen Begegnung mit einem aufgebrachten Warzenschwein schmerzten, lachte, wenn auch nicht so herzhaft wie ihre Großmutter.

«Was habt ihr beide denn für Ferienpläne?», fragte Gwyn Thomas, während sie ihnen ein Glas frischen Papayasaft einschenkte. «Natürlich abgesehen von deinen langsamen, sehr gemächlichen Ausritten mit Jemmy, Martine», fügte sie hinzu und zeigte ihrer Enkelin mit einem vielsagenden Blick, dass sie Bens Worte nicht vergessen hatte, auch wenn sie die Sache noch einmal durchgehen lassen wollte.

Mit einem dankbaren Lächeln gab Martine zurück: «Keine Sorge. Ich werde so langsam reiten, dass uns sogar Schildkröten überholen können.»

Ansonsten wollte sie ihr Wissen über das Leben und Überleben im Busch auffrischen und Aquarelle von den Tieren in der Krankenstation von Sawubona malen.

Ben hatte die Erlaubnis seiner Eltern, den Großteil seiner Ferien in Sawubona zu verbringen, um sich von Tendai in die Geheimnisse des Fährtenlesens einführen zu lassen.

Als Martine Ben kennengelernt hatte, war er beinahe stumm gewesen. Er sagte zu niemandem ein Wort – außer zu ihr und seinen Eltern. Die meisten Mitschüler glaubten denn auch, er sei stumm, und einige waren auch heute noch dieser Meinung. Doch in Sawubona schien er sich beim Plaudern mit Tendai, Gwyn Thomas oder anderen durchaus wohlzufühlen.

Während sie zuhörte, wie Ben von seinem Morgen im Reservat erzählte, spießte sie gedankenverloren mit der Gabel die letzten Kartoffeln auf und ließ die Küchenszene auf sich wirken. Vor acht Monaten waren ihre Eltern in der Silvesternacht bei einem Brand in England ums Leben gekommen. Darauf war sie wie ein Paket nach Afrika geschickt worden, wo sie bei ihrer strengen Großmutter leben musste, von deren Existenz sie vorher nicht einmal gewusst hatte. Sie war überzeugt gewesen, nie mehr in ihrem Leben glücklich sein zu können. Doch nun saß sie zufrieden am Frühstückstisch mit jener Großmutter, die nach einer schwierigen Anfangszeit einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben geworden war, und mit Ben, ihrem allerbesten Freund auf dieser Welt – abgesehen von Jemmy natürlich.

Durch die offene Tür sah Martine, wie ein paar Zebras in einiger Entfernung am Wasserloch herumplanschten. Ihre Eltern würden ihr immer fehlen, aber es half ihr schon sehr, dass ihre neue Heimat eines der schönsten Wildreservate der südafrikanischen Kapprovinz war, dass sie auf ihrer eigenen weißen Giraffe durch den Busch reiten konnte und dabei so dicht an Elefanten und Zebras herankam, dass sie sie berühren konnte. Außerdem mochte sie das Wetter in Afrika. Obwohl es noch früh war, tauchte die Sonne die Küchenfliesen schon in ein warmes Orange, und auch Shelby, die rötlich-braune Katze, genoss lang ausgestreckt die Wärme der frühmorgendlichen Sonnenstrahlen.

Das schrille Klingeln des Telefons schreckte sie auf. Gwyn Thomas blickte auf die Uhr und runzelte die Stirn. «Es ist noch nicht einmal sieben. Wer ruft denn in aller Herrgottsfrühe an einem Sonntagmorgen an?»

Sie ging in das Wohnzimmer, wo das Telefon stand. Die Leitung schien schlecht zu sein, denn sie musste sehr laut sprechen. In der Küche war jedes Wort zu verstehen.

«Sadie», rief sie, «was für eine Überraschung! Schön, von dir zu hören. Wie geht’s in der Black Eagle Lodge? … Nein, das darf nicht wahr sein. Das tut mir wirklich leid. Wenn ich etwas für dich tun kann, Sadie, dann sag’ es mir. Wie bitte? Oh! Oooh!»

Ben und Martine blickten sich an, und Ben zog die Augenbrauen hoch. «Klingt nicht gut», murmelte er.

«Ah, ja, ja, ich verstehe», sagte Gwyn Thomas. «Nein, nein, das muss dir nicht peinlich sein. Auf gar keinen Fall. Im Gegenteil, eigentlich passt das perfekt. Wir sind schon unterwegs. Mach dir nur mal keine Sorgen. Wir sind bald da. In der Zwischenzeit pass gut auf dich auf.»

Sie hörten, wie Gwyn Thomas den Hörer auflegte. Dann war es für eine Weile still. Als die Großmutter wieder die Küche betrat, machte sie ein ernstes Gesicht. «Martine, Ben, es tut mir leid, aber ihr müsst eure Ferienpläne fürs Erste begraben. Martine, wir fahren morgen früh für einen Monat weg. Wir müssen nach Simbabwe.»


Der letzte Leopard

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