Читать книгу Juana - Vom Pech verfolgt - Lee Kojek - Страница 8

Albträume

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»Hallo? Ist hier jemand?«

»Molly?«

Rachel folgte der Blutspur eine gefühlte Ewigkeit, ehe sie in der Ferne einen Körper liegen sah. Sie atmete tief durch. Das Schlimmste ahnend, schritt sie auf den leblosen Körper zu und tatsächlich lag Molly vor ihr. Blutüberströmt, mit einem ganz verdrehten Körper. Rachel sank vor dem leblosen Körper ihrer Schwester auf die Knie und weinte.

»Deine Schuld…«

»Deine Schuld…«

»Molly, es tut mir so leid!«

»Wäre ich nie mit dir gegangen, würde ich noch leben…«

»Es tut mir leid!«

Doch ihre Schwester reagierte nicht. Sie zerrte Rachel nur noch weiter zu sich. Blut lief ihr aus dem Mundwinkel. Rachels Herz schlug immer schneller.

»Lass mich los! Bitte Molly!«

»Deine Schuld…«

»Molly, es tut mir so leid!«

»Molly!«, kreischte sie panisch, während ihre Sicht verschwamm.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie hochschrecken.

»Rachel? Darf ich reinkommen?«

Es war Isabellas Stimme. Leise murrte Rachel.

»Tu, was du nicht lassen kannst.«

Kurz darauf öffnete sich die Tür und die Köchin betrat mit einem Teller in der Hand das Zimmer. Diesen stellte sie auf Rachels Nachttisch ab. Missmutig blickte Rachel auf den Teller. Pfannkuchen mit Sirup und dazu ein Fruchtjoghurt. Es sah, wie alles, was Isabella kochte, sehr lecker aus. Aber sie wollte nichts essen.

»Du hast seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Iss wenigstens den Früchtejoghurt.«

Wütend drehte sich Rachel zu der Köchin.

»Ist alles okay bei dir?«

»Ja, natürlich«, antwortete Isabella bemüht entspannt. Doch sie war nicht sehr gut darin, ihre Gereiztheit zu überspielen.

»Und Rachel isst immer noch nicht?«

Darauf gab es eine kurze Pause.

»Nein. Vielleicht hat sie ja heute Mittag Hunger.«

Der Sarkasmus in Isabellas Stimme war nicht zu überhören, auch wenn sie versuchte, ruhig und heiter zu klingen.

Traurig musterte Rachel das Armband, das sie an ihrem rechten Handgelenk trug. Vor etlichen Jahren hatte sie zwei davon an einem Strand gefunden. In einer Holzkiste waren sie einfach vom Meer angespült worden. Für Rachel war das ein klares Zeichen des Schicksals gewesen. Sie hatte die goldenen Armbänder mit den eingeprägten Kraken so schön gefunden, dass sie sie eingepackt und das zweite davon Molly geschenkt hatte. Irgendwann hatte es sich ergeben, dass beide ihr Armband stets trugen, und es wurde für Rachel ein Zeichen dafür, dass sie immer miteinander verbunden waren.

»Deine Schuld…«


Rachel hielt sich die Ohren zu, doch Mollys Stimme drang immer noch zu ihr durch. Ihr Herz begann zu rasen und sie schnappte panisch nach Luft. Sie konnte nicht richtig atmen.

Es war beinahe so, als wäre sie wieder in ihrem Traum.

»Es tut mir Leid... Bitte…«

Niemand hörte sie. Niemand nahm sie in den Arm. Sie war alleine mit ihren Gefühlen und Träumen. Lange Zeit lag sie zusammengerollt im Bett und rammte sich ihre Fingernägel in die Oberarme, während sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Selbst danach zitterte sie noch am ganzen Körper. Ihre Hände taten weh, ihr Kopf fühlte sich an, als würde er gleich platzen und sie hatte so einen Hunger. Doch das war ihr egal.

»Es tut mir so leid….«

In ihren eigenen Schuldgefühlen versunken starrte sie das Bild an. Es war beinahe so, als würde Molly ihr direkt in die Augen sehen. Ihr Ausdruck war auch nicht mehr so glücklich wie zuvor. Irritiert sah Rachel sich das Bild genauer an und musste entsetzt feststellen, dass Mollys Kleidung sich rot färbte. Verängstigt zuckte Rachel zusammen und ließ dabei das Bild aus ihren Händen gleiten, welches klirrend zu Boden fiel. Mit aufgerissenen Augen blickte sie zum Foto. Die Scheibe vom Rahmen war durch den Sturz zerbrochen. Molly saß wieder mit Timothy auf dem Arm da und lächelte.

»Ich werde wahnsinnig…«

»Isabella hat Steak mit Brokkoli und Kartoffeln gemacht. Das ist doch dein Lieblingsessen«, sagte sie leise und setzte sich neben Rachel aufs Bett und reichte ihr einen der Teller. Die Ältere wendete den Blick ab und schüttelte den Kopf.

»Ich habe wirklich keinen Hunger.«

»Bitte, Rachel. Ich will nicht schon wieder alleine essen.«

»Gut, ich esse etwas.«

»Weißt du, Mama fehlt mir. Aber sie hätte sicher nicht gewollt, dass wir traurig sind. Sie hat doch immer alles gemacht, um uns glücklich zu machen«, erklärte Laetitia, kurz nachdem sie den letzten Bissen von dem Steak gegessen hatte. Rachel nickte, auch wenn es ihr schwerfiel, nicht an ihren Albtraum zu denken.

»Ja.«

Sie legten beide ihre Teller weg und Laetitia lehnte sich an Rachel.

»Fehlt Mama dir auch?«

»Ja. Sie fehlt mir sehr.«

Für einen kurzen Moment herrschte wieder Stille, doch diese wurde schon bald von Laetitia unterbrochen.

»Rachel? Erzählst du mir eine Geschichte von Mama?«

»Gerne.«

***

Auf dem Deck schien Almyra die Sonne direkt ins Gesicht und blendete sie. Es war offenbar schon lange Mittagszeit. Die Mechanikerin hatte ihr Zeitgefühl in den letzten Tagen komplett verloren. Sie bekam kaum mit, wann es Nacht oder Tag war und sie wusste auch nicht, wie viele Tage sie schon in ihrer Kajüte gesessen hatte. Aber wenn sie so empfindlich auf die Sonne reagierte, war es definitiv zu lange gewesen. Glücklicherweise musste sie ohnehin zu Clairs Kajüte. Dort würde es hoffentlich nicht so schrecklich hell sein. Almyra klopfte an und bekam sofort eine Antwort. Als sie die Kajüte betrat, war sie angenehm überrascht. Clair saß an ihrem Schreibtisch und hatte irgendwelche Abbildungen vor sich liegen. Doch als Almyra die Tür hinter sich schloss und sich auf Clairs Bett setzte, hatte sie die volle Aufmerksamkeit der Amazone. Eigentlich hatte Almyra damit gerechnet, dass Clair, wie sonst, wenn sie gestresst war, unzählige Liegestütze machen würde, um auf andere Gedanken zu kommen.

»Was schaust du dir an?«, fragte Almyra neugierig und schaute der Amazone über die Schulter.

»Das sind die Konstruktionen von den Gurten. Du weißt schon…«

»Die Gurte hätten Mollys Leben retten können«, murmelte Clair betrübt und senkte dabei den Blick.

»Es war dumm von ihr, sich nicht mehr abzusichern. Aber beim Kampf gegen die Marine hätte es uns wertvolle Sekunden gekostet.«

»Wir sollten das aber wieder machen. Das Absichern.«

»Ja.«

Mit den Plänen in der Hand setzte Almyra sich wieder auf das Bett.

»Clair, wir müssen über etwas reden, was dir nicht gefallen wird«, wechselte Almyra das Thema und bekam nun die volle Aufmerksamkeit der Amazone.

»Ach, ja?«

Almyra nahm sich einen Moment, um zu überlegen, wie sie das Folgende sagen sollte.

»Im letzten Jahr haben wir drei Crewmitglieder verloren. Wir haben jetzt zwar Hope in der Crew und auch die Geschützmannschaft ist wieder vollzählig, aber... naja…«

»Clair, wir brauchen jemanden, der den Ballon reparieren kann.«

Genervt rollte Almyra mit den Augen.

Resigniert lehnte Clair sich an ihren Stuhl an und sah Almyra an.

»Und wie hast du dir das vorgestellt? Du weißt selbst, wie schwer es ist, jemanden zu finden, der so spezialisiert ist und dann auch noch bei einer Piratencrew anheuern will. Selbst Molly hat Jahre gebraucht, um genau zu wissen, was sie tun muss.«

»Was willst du also machen, Käpt’n?«

»Wir fliegen nach England«, erwiderte sie knapp. Man konnte Clair ansehen, dass sie diese Antwort nicht erwartet hatte. Die Amazone fiel vor Schreck beinahe vom Stuhl.

»Was?! Weißt du, was du da gerade sagst? Wir werden in England gesucht!«

Erzürnt sah Clair Almyra an.

Schmunzelnd erwiderte Almyra den Blick.

»Natürlich. Ich weiß sogar schon ihren Namen.«

Perplex weitete Clair die Augen und legte den Kopf schief.

»Was?«

Es dauerte einen Moment, bis sie eine Antwort bekam. Clair dachte angestrengt nach, schien sich dann aber tatsächlich erinnern zu können.

»Natürlich. Die Kleine kam jeden Tag vorbei und wollte Molly unbedingt helfen. Aber sie war damals doch noch so jung.«

Skeptisch hob Clair eine Augenbraue.

Ungläubig schüttelte Clair den Kopf.

»Das ist etwas zu viel des Guten. Du willst mir also gerade erzählen, dass ein Mädchen, das vor sechs Jahren bei uns mitmachen wollte, plötzlich vor Owens Tür stand und jetzt darauf wartet, dass wir sie abholen? Du hast doch völlig den Verstand verloren!«

»Und wenn du so überzeugt davon bist, warum musst du das dann noch mit mir besprechen?«, wollte Clair auf einmal wissen. Ertappt wendete Almyra den Blick ab und schwieg einige Minuten. Irgendwann wurde es Clair wohl zu blöd.

»Ich habe nicht vor, Spanien als Käpt’n zu verlassen. Es ist einfach zu anstrengend, wenn man außerdem noch andere Aufgaben zu erfüllen hat. Mir wäre es lieber, wenn du den Befehl geben würdest, nach England zu fliegen.«

»Was?«

Von ihren eigenen Gedanken genervt schüttelte Almyra den Kopf. Es ging sie überhaupt nichts an, was zwischen Becky und Charlotte lief und solange die Kanonierin glücklich war, war es ohnehin völlig egal. Die Mechanikerin sollte sich eher auf ihre eigene Beziehung konzentrieren. Auch wenn sie sich wieder vertragen hatten, hatte Hope sich kaum bei Almyra blicken lassen. Vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass sie Almyra etwas Ruhe gönnen wollte.

Als die Mechanikerin bemerkte, dass die Sonne unterging, lief sie zurück zu Johns Grundstück. Bevor sie aufbrachen, wollte sie unbedingt noch einmal zu Mollys Grab. Es war wirklich schön hergerichtet. Überall lagen Blumensträuße und Kerzen erleuchteten alles. Es hätte Molly sicherlich gefallen.

»Keine Sorge Molly, wir passen auf deine Schwester auf.«

»Hey.«

Überrascht blickte die Navigatorin sie an, lächelte dann aber auch.

»Hey. Geht es dir besser?«

»Ja, ich denke schon.«

Almyra nahm Hopes Hand und drückte sie etwas. Die Navigatorin hatte ihr unglaublich gefehlt.

John sah zu Clair und reichte ihr die Hand.

»Ihr seid immer herzlich willkommen.«

»Wir sehen uns bald wieder.«

»Wo soll es hingehen, Käpt’n?«

Almyra war erleichtert, dass die Nachricht, dass Clair nun wieder das Kommando hatte, wohl bis zu Clara durchgedrungen war. Das ersparte viel Arbeit. Neugierig beobachtete die Mechanikerin, wie Clair nachdachte. Dabei sah die Amazone irgendwann entschlossen zu Almyra.

»Wir fliegen nach England. Nach Plymouth um genau zu sein. Wir haben Owen lange nicht mehr besucht.«

Clara und Amelia blickten den Käpt’n sehr überrascht an, nickten dann aber. Die Asiatin zog Hope zu sich.

»Du kümmerst dich um eine Route.«

»Klar.«

Juana - Vom Pech verfolgt

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