Читать книгу Tochter des Ozeans - Leinani Klaas - Страница 10

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KAPITEL 1

Eos - Göttin der Morgenröte, fährt in ihrem Wagen über den

Himmel

Die Helligkeit durchdrang meine geschlossenen Lider und tauchte die Welt für einen Augenblick in rotes Licht. Geblendet blinzelte ich und erspähte durch schmale Augen den Sitz vor mir. Stöhnend richtete ich mich auf und versuchte mich in meinem engen Platz zu strecken. Mir schmerzte der Rücken, als ich mich gerade hinsetzte und als ich versuchte meine Glieder zu dehnen, stieß ich mit den Knien gegen den Sitz vor mir. Meine Zunge fühlte sich pelzig an. Igitt. Immer noch leicht benommen zog ich die verrutschte Schlafbrille vom Kopf und stopfte sie in die dazugehörige Netztasche. Die Ohropax ließ ich aber lieber in den Ohren, denn das laute Brummen der Maschine hörte ich sogar durch sie hindurch.

Verschlafen ließ ich meinen Blick durch das Flugzeug schweifen, das sich in dreizehntausend Metern Höhe über dem Erdboden befand. Die meisten Leute um mich herum waren wieder wach, schauten Filme oder unterhielten sich leise miteinander. Der kleine Quälgeist von Platz 30E hing seinem müde aussehenden Vater schlafend über dem Schoß und sabberte.

Einige Passagiere hatten sogar schon das Frühstück vor sich stehen und ich sah die zwei rothaarigen Stewardessen mit ihrem Getränkewagen den Gang runterkommen. Wasser! Ich brauchte Wasser.

Die Schlaftablette hatte ganze Arbeit geleistet und mich mehrere Stunden außer Gefecht gesetzt. Ein Zustand, der mir absolut zuwider war, konnte doch jeder in solchen Momenten mit mir machen was er wollte. Ich hasste es, die Kontrolle zu verlieren. Und noch mehr hasste ich meine Paranoia, die mich immer wieder an meine Grenzen brachte und mich in den Wahnsinn trieb. Etwas, das ich über die Zeit hinweg zu verbergen gelernt hatte und das niemals an die Oberfläche drang, wenn ich es nicht zuließ! Naja, meistens jedenfalls. Manchmal überkam mich eine Welle der Angst ganz unerwartet und erwischte mich eiskalt.

Meine eiserne Regel lautete: Lass die Leute nicht sehen, wie verrückt du wirklich bist.

Nichtsdestotrotz war das hier mein erster Flug und meine Psychologin war der Meinung gewesen, dass jemand wie ich es besser ertragen würde, wenn man mich ruhigstellte.

In kleinen Schlucken genoss ich das prickelnde Wasser und schaute aus dem Fenster, hinaus auf die schneeweißen Wolken unter uns. Ich konnte das Land in der Tiefe nur schwer ausmachen, aber es sah jetzt schon ganz anders aus als meine Heimat. Brauner und trockener. Und viel, viel größer.

Manchmal war es immer noch unvorstellbar für mich, dass all das Wirklichkeit war. Es war wie ein riesengroßes, buntes Geschenk nur für mich alleine. Und selbst jetzt, mehr als drei Jahre danach, wollte oder konnte ich mich immer noch nicht daran gewöhnen, aus Angst, dass man es mir gleich wieder entreißen wollte.

Das war ein Grund, weshalb ich so minimalistisch wie möglich lebte. Ich besaß weder ein Smartphone noch einen MP3-Player oder anderen technischen Schnickschnack. Von der neusten Mode hatte ich keinen blassen Schimmer und es war mir auch egal. Es war nicht wichtig.

Das Einzige, aus dem ich mir wirklich etwas machte, waren Bücher. Es fühlte sich gut an, ein schweres gebundenes Buch in den Händen zu halten, die Seiten zwischen den Fingern zu spüren und mit der Fingerkuppe über die gedruckten Buchstaben zu fahren.

Ein Buch war für mich wie ein Anker und eine Möglichkeit, in eine andere Welt abzutauchen und zu entspannen. Und Entspannung war etwas, das meine kaputte Seele brauchte. Doktor Jones war der festen Überzeugung, dass mich zu viel Hektik und Unruhe aus der Fassung bringen und mich um Längen zurückwerfen würden.

Und recht hatte sie, Horrorfilme zum Beispiel waren in der Tat der blanke Horror für mich. Noch Wochen nachdem Mallory, meine Zimmernachbarin, mich gezwungen hatte, heimlich mit ihr ›Chucky die Mörderpuppe‹ anzuschauen, war ich am helllichten Tag von Panikattacken heimgesucht worden. Man fand mich jedes Mal zusammengekauert unter der Treppe sitzend, nachts war ich mehrfach schweißgebadet und schreiend aus einem Albtraum aufgewacht. Mallory war tatsächlich das pure Unglück für mich gewesen. Noch eine Woche zuvor hatte Doktor Jones die Medikamente vorübergehend abgesetzt, wegen guter Fortschritte.

Aber nach dem Vorfall hatte sie mich, ohne zu zögern, wieder unter ›Drogen‹ gesetzt und hatte dieses Mal sogar die Dosis verdoppelt.

Und ich hatte meine lieben kleinen Helferlein, wie Doktor Jones das Bromazepam nannte, brav geschluckt. Die Albträume verschwanden, aber die Panikattacken bei Tag blieben.

Abgesehen von der leichten Verwirrtheit und dem verringerten Gefühlsempfinden plagten mich immer häufiger Halluzinationen. Die Wände schienen mich auszulachen und es war jenes männliche Lachen, das ich jahrelang gefürchtet hatte, denn es war der Vorbote für seine schlechte Laune gewesen, die er immer an mir ausgelassen hatte. Oder ich hörte schwere Schritte auf der Treppe, vor denen ich dann panisch davonrannte. Manchmal rannte ich soweit ich konnte. Und das war im Fall des Florence-Nightingale-Instituts für Bekloppte und ganzheitlich Irre ein beträchtliches Stück. Ein weitläufiger Park umgab das rote Backsteingebäude, damit die Verrückten von der offenen Station frische Luft schnappen oder verträumt auf einer der Bänke unter den Weiden sitzen konnten.

Der Park war von einer großen Mauer umgeben, die mit Stacheldraht abgesichert war.

Bis dorthin floh ich und warf mich blind vor Angst gegen den Stein, kratzte mir die Finger wund und kassierte jedes Mal eine Nacht in der Gummizelle dafür.

Mallory wurde in eine andere Einrichtung versetzt, nachdem man den Film bei ihr fand. Ich vermisste sie nicht.

Bei der Landung in Portland erbrach ich mich in meinen Spuckbeutel und blieb länger als alle anderen im Flugzeug sitzen. Ich wartete darauf, dass sich mein Magen beruhigte.

Ich fühlte mich, wie nach dem ersten Mal als ich Bromazepam eingenommen hatte.

Elend, einfach nur elend.

Eine Stewardess brachte mir stilles Wasser und redete sanft auf mich ein. Es war keine der beiden rothaarigen.

Schließlich musste ich das Flugzeug doch verlassen und gelangte mit wackeligen Beinen über die Gangway ins Innere des Flughafens. Dort roch es nach schlechtem Männerparfum und Reinigungsmittel.

Mein Magen rebellierte.

Während ich an der Gepäckausgabe in der großen Halle auf meinen kleinen Koffer wartete, behielt ich die Leute im Blick. Ich war noch nicht lange auf freiem Fuß und fühlte mich in der Öffentlichkeit immer unwohl und beobachtet. Ich konnte jeden neugierigen Blick wie Spinnenbeine auf meiner Haut spüren und das Getuschel der Leute drang in meine Ohren.

Ich kratzte mich am Oberarm und warf einen nervösen Blick über die Schulter, nur um festzustellen, dass meine Paranoia mich fest im Griff hatte. Keiner starrt dich an, beschwor ich mich selbst.

Ich schüttelte den Kopf wie ein Hund, um das Pfeifen in meinen Ohren loszuwerden.

Das hier war nicht das verfluchte Kaff Hexham, Northumberland in England. Hier kannte mich kein Mensch. Niemand wusste, wer ich war. Für die Reisenden war ich nur ein x-beliebiges Mädchen, mittlerer Größe und mit zu dünnen Beinen, das bestenfalls im Weg stand.

Die Leute nahmen nach und nach ihr Gepäck auf und verschwanden, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Es war ein wunderbares Gefühl so ignoriert zu werden.

Schließlich spuckte das Band meinen kleinen Koffer aus, den ich mit Leichtigkeit anhob und hinter mir herzog.

Gleich würde ich meine Adoptivfamilie treffen, meine neue Familie. Die einzigen Menschen wohlgemerkt, die ich mit dem Begriff Familie in Verbindung bringen konnte.

Ich war mäßig aufgeregt. Ich kannte Brenda und Dan bereits. Sie hatten mich zweimal in England besucht, das erste Mal waren sie zu zweit gekommen und eine Woche geblieben. Das zweite Mal hatten sie ihre Tochter Delilah mitgebracht.

Brenda und Dan mochte ich von Anfang an, sie lachten und redeten viel, nannten mich Darling und Sweety und umarmten mich ständig. Etwas, das ich selten zuließ, normalerweise hielt ich mir Menschen vom Leib. Körperliche Nähe und Berührungen vertrug ich ungefähr so gut wie Horrorfilme. Nämlich gar nicht. Vor allem wenn es ein Mann war, der mir zu nahekam.

Meinem ersten Psychologen in Hexham, Professor Doktor Bird, hatte ich in die Hand gebissen, nachdem er versucht hatte meine Schulter zu tätscheln.

Brenda und Dan aber waren sanft und strahlten eine Geborgenheit aus, bei der ich mich sofort wohlfühlte. Vor allem Brenda hatte ich ins Herz geschlossen. Ein gutes Zeichen, wie Doktor Jones fand.

Ihre Tochter war sehr still gewesen und ich glaube, dass die Irrenanstalt und ich ihr ziemliche Angst eingejagt hatten. Die nächsten Tage kam sie nicht mehr zu Besuch und ich hatte ihre Eltern für mich alleine.

Tochter des Ozeans

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