Читать книгу Tochter des Ozeans - Leinani Klaas - Страница 11

Оглавление

KAPITEL 2

Helios - Sonnengott, lenkt den Sonnenwagen über den

Himmel, folgt der Eos

Zielstrebig steuerte ich auf die Empfangshalle zu, passierte eine letzte Schiebetür und fand mich in einer großen sonnendurchfluteten und lärmigen Halle wieder.

Überall standen Menschen, redeten durcheinander und freuten sich lautstark über das Wiedersehen, kleine Kinder schrien und…

»Clara! Hier drüben.«

Ich reckte den Hals nach der Stimme, war aber zu klein, um über das Gedränge hinwegsehen zu können. Ich wurde einfach von der Masse mitgezogen und weiter zum Ausgang gedrängt. Links rempelte mich eine Frau an und von hinten trat mir jemand auf die Ferse. Vollidioten.

In meinem Inneren spürte ich, wie meine Klaustrophobie in mir aufkeimte. Meine Eingeweide zogen sich zusammen und das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich hatte plötzlich das Gefühl zu groß für meinen Körper zu sein und bekam Schweißausbrüche.

Mit einem erstickten Schrei machte ich einen Satz nach vorne, drängte mich grob an den Leuten vorbei, setzte meine Ellenbogen ein und erkämpfte mir meinen Weg aus dem Gewühl. Hinter mir protestierte jemand. Leck mich doch!

Ich erreichte den Ausgang, stolperte ins Freie und rang gierig nach Sauerstoff. Dicke Abgase erfüllten meine Lungen. Autos, Shuttles und Taxis verpesteten die Luft um mich herum.

Aber allemal besser als die Enge der Empfangshalle.

Ich wollte da nicht wieder rein, aber ich musste meine neue Familie finden, die sich bestimmt schon wunderte, wo ich war. Wo ihre verrückte Adoptivtochter steckte.

»Clara, Sweety«, Brenda tauchte vor mir auf, ihr Blick war besorgt. »Wo läufst du denn hin?«

Ich suchte nach den richtigen Worten, um mein seltsames Verhalten zu erklären.

Ich fand sie nicht, aber Brenda verstand mich scheinbar auch so. Sie drückte mich an sich, typisch für sie und ich atmete ihren frischen Geruch ein, der den Knoten in meinem Magen ein wenig löste.

»Es ist so schön, dass du jetzt hier bist. Wir haben uns alle so auf dich gefreut. Ich hoffe, du hattest einen guten Flug, Darling«, sagte Brenda sanft und schob mich auf Armeslänge von sich, um mich eingehend zu mustern, und lächelte schließlich.

»Warte hier, ich hole Dad. Dann können wir zusammen nach Hause fahren.«

Nach Hause. Wie das klang. Fremd, neu und sehr verlockend.

Ein letztes Mal betrachtete sie mich, als frage sie sich, ob sie mich hier alleine warten lassen könne, ohne dass ich ausflippte, und verschwand dann wieder durch die Glastüren.

Den Großteil der Autofahrt starrte ich aus dem Fenster, betrachtete voller Neugier die Landschaft, die an uns vorbeizog. Oregon war wunderschön und erinnerte mich an Zuhause, aber gleichzeitig war hier alles fremd und neu.

Außerhalb von Portland säumten dichte Laubwälder die breiten Highways und die Sonne schien durch die Blätter und Äste. Ich hatte mir die Westküste Amerikas anders vorgestellt. Trockener, brauner und irgendwie karger. Aber alles war grün und blühte, so wie in England, und trotzdem sah hier die Natur anders aus.

Andere Bäume und Pflanzen. Alles anders. Alles neu. Alles fremd! Ich schluckte die aufkeimende Angst hinunter und summte, mit geschlossenen Augen, leise die Melodie von ›Walk in the Sun‹. Mein Herzschlag beruhigte sich langsam und ich konnte wieder aus dem Fenster sehen ohne in Panik auszubrechen.

Wir entfernten uns immer mehr von der großen Stadt und die Gegend veränderte sich, wurde ländlicher und mehr so wie ich es mir vorgestellt hatte. Links und rechts von der Landstraße erstreckten sich weitläufige gelbe Felder und braune Äcker, weiße Farmerhäuser mit braunen Dächern wechselten sich mit Kuhund Pferdeweiden ab.

Die ganze Landschaft wurde von der Sonne erleuchtet und wirkte unwirklich, fast wie die gemalte Kulisse eines alten Films. Weniger grün, dafür aber mehr satte, trockene Töne. Im Vergleich zu England hätte man die Landschaft hier tatsächlich als karg bezeichnen können, auf mich aber übte diese Welt ihren ganz eigenen Zauber aus. Ich sah mich schon im Westernsattel sitzend über die weite Prärie reiten und träumte von einem kleinen Häuschen wie in ›Unsere kleine Farm‹, mit Hühnern und Schafen und einem Stall voller Kühe.

Ich blinzelte und das kleine Haus löste sich in Rauch auf, dafür eröffnete sich wieder eine neue Landschaft vor mir und ich setzte mich aufrechter hin. Wir fuhren jetzt mitten durch den Tillamook State Forest. Riesige Douglasien mit dicken Stämmen und tiefen Grüntönen wuchsen aus der Erde und säumten die Straße. Ein breiter Fluss schlängelte sich eine ganze Weile neben dem Wilson River Highway entlang, verschwand und tauchte wieder auf. Das klare grüne Band begleitete uns fast bis zum nächsten Ort, zweigte dann nach rechts ab und verließ uns. In den letzten Stunden hatte ich beinahe mehr von der Welt und ihrer Beschaffenheit gesehen als in meinem gesamten bisherigen Leben. Das stimmte mich gleichermaßen aufgeregt, wie sentimental.

Wir erreichten Tillamook, ein hübsches kleines Städtchen mit vielen Touristenläden und einer Fabrik mit dem Namen ›Tillamook Cheese‹ in dicken käsegelben Lettern, fuhren rechter Hand weiter auf dem Oregon Coast Highway und näherten uns der Küste. Ein Straßenschild warnte vor Tsunami Gefahr und verwies auf eine Tsunami Evacuation Route. Ich musste grinsen, meine verschrobene Fantasie ging mit mir durch und ich stellte mir schreiende Menschen vor, die panisch wegrannten, im Hintergrund eine riesige, dunkle Welle…

»Jetzt sind wir gleich da. Nur noch wenige Minuten und du siehst dein neues Zuhause«, unterbrach Dan mein Gedankenspiel. Er freute sich richtig und Brenda, die Mom genannt werden wollte, schaute lächelnd zu mir nach hinten.

Ich konnte nur nicken, denn plötzlich geschah etwas mit mir. Ein Loch öffnete sich unter meiner Brust und raubte mir beinahe den Atem. Ein Ziehen breitete sich in meinem Körper aus, etwas zog und zerrte an einem inneren Punkt.

Links neben dem Highway hatte sich der Tillamook Bay eröffnet, wie Mom mir erklärte.

Erst hielt ich es für einen großen See, doch dann erkannte ich das Meer.

Mir blieb die Luft weg. Das Meer war unfassbar schön, endlos weit und tief blau. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen.

Mit jedem Stück, das wir dem Wasser näherkamen, wurde der Sog in mir stärker, etwas schien nach mir zu rufen. Und ich, die noch nie am Meer gewesen war, geschweige denn darin geschwommen war, verspürte den sehnlichen Wunsch, über den Strand zu laufen, den Sand unter meinen Füßen zu fühlen und mich schließlich in die Wellen zu stürzen. Ich wurde ganz hibbelig und konnte mich kaum noch auf meinem Sitz halten.

»Dan, Bren… Mom, können wir kurz am Meer halten, bitte?«

Ich sah im Rückspiegel wie Dan die Stirn runzelte.

»Ich war noch nie am Meer«, fügte ich hinzu und hoffte, dass das als Erklärung reichte.

Ich hatte Glück.

»In Ordnung, aber nur kurz. Du bist sicher erschöpft und möchtest dein neues Zimmer sehen.« Dans Stimme war weich und er zwinkerte mir durch den Rückspiegel zu. Ich lächelte zurück.

Nein, erschöpft war ich nicht. Ich war platt von dem langen Flug, aber erschöpft nicht. Vielmehr war ich nun hellwach vor Aufregung.

Wir fuhren in Rockaway Beach ein, einem niedlichen kleinen Ort mit vielen bunten Häuschen entlang der Straße. Wäre ich nicht ganz wo anders mit meinen Gedanken gewesen, dann hätte mir dieser kleine, süße Ort bestimmt gefallen, aber so starrte ich nur auf das wogende Meer, das immer wieder zwischen den einzelnen Häusern auftauchte und mir zuzuzwinkern schien.

Der Wind blies kräftig, sodass kleine Schaumkrönchen auf den Wellen tanzten, die bei jeder Bewegung in der Sonne glitzerten. Dan bog in eine Straße ein und parkte den SUV auf einem breiten Parkplatz hinter einer Düne. Ich zögerte eine Sekunde, dann schnallte ich mich mit fahrigen Fingern ab, stieß die Tür auf und sprang aus dem Wagen.

Kühle, windige Luft umfing mich, zog einzelne Strähnen meiner Haare aus dem Dutt, peitschte sie mir ums Gesicht und fuhr in meine Kleidung. Sie schmeckte salzig auf meinen Lippen und ich roch den würzigen Duft der Strandpflanzen, die auf den Dünen hin und her wogten.

Meine Schuhe versanken im weichen Sand, als ich die Düne emporkletterte, die mir die Sicht auf den Ozean versperrte. Die Aussicht war umwerfend. Einen Augenblick lang verharrte ich auf der Kuppe, den Blick auf das wogende Meer nur wenige Meter vor mir, gerichtet. Das Wasser schimmerte in allen Farbnuancen von Grün über Türkis bis hin zu einem tiefen Blau. Es war überwältigend das Rauschen in den Ohren zu hören und dem Spiel der Wellen zuzuschauen, auf und ab, Wellenberg und Wellental. Weiter draußen ragten zwei hohe Felsen aus dem Meer, an denen sich die rauen Gezeiten des Pazifiks brachen und in schaumigem Wasser brandeten.

Dort draußen war das Wasser dunkelblau, fast schwarz. Der Sog in meiner Brust hatte sich ins Unermessliche gesteigert und tat fast schon weh, so sehr sehnte ich mich nach dem kühlen Nass. Diese Gefühle jagten mir Angst ein. Ich war kein Mensch mit Sehnsüchten oder innigen Wünschen, ich nahm das Leben wie es kam. Denn ich wusste, mehr als jeder andere, wie schnell es vorbei sein konnte. Und doch stand ich hier, mit einem unbändigen Verlangen im Herzen. Kurz schloss ich die Augen und gab mich der Sehnsucht hin, ließ das Rauschen der Wellen auf mich wirken und atmete die salzige Luft. Dann ballte ich die Hände zu Fäusten und grub die Fingernägel in die Haut, holte tief Luft und riss den Blick von den blaugrünen Wellen, dann rannte ich zurück zum Auto.

Jetzt war ich erschöpft und unglaublich müde. Ich lehnte den Kopf an den Sitz und schloss die Augen.

Zuhause war ein hübsches, mintfarbenes Haus, mit weißen Fensterrahmen und einer weißen Garagenwand, im Pacific View Drive. Aus meinem Zimmer, das direkt über der Garage im ersten Stock lag, hatte ich einen herrlichen Blick auf das Meer. Jemand hatte einen Schaukelstuhl ins Zimmer gestellt, ansonsten gab es ein Bett mit Nachttisch, einen Schreibtisch und einen großen Einbauschrank, der zu meinem Schrecken voller modischer Klamotten war. Ich vermutete, dass Mom mit Delilah einkaufen gewesen war, denn die beiden waren immer gut gekleidet. Der Inhalt meines Koffers hatte bequem in zwei Schubladen Platz.

Ich stand etwas verloren vor dem Schrank, als Delilah eintrat. Sie setzte sich auf mein gemachtes Bett und mustere mich.

»Sie haben dir ein Auto gekauft!«, begrüßte sie mich.

Hi, ich freue mich auch dich kennenzulernen, dachte ich.

Ihr Ton war neutral, aber ich hatte den Eindruck als würde ihr das ganz und gar nicht gefallen. Als würde sie mir einen Vorwurf machen.

»Es ist dein Begrüßungsgeschenk. Sie wollen, dass du runterkommst und es dir anschaust. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, wir nehmen dich ja schließlich hier auf. Man sollte meinen, das sei nett genug!«

Ein kalter Schauer lief mir bei ihren Worten über den Rücken.

Sie musterte mich einen Augenblick lang eindringlich und unter ihrem stechenden Blick fühlte ich mich unwohl und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann zuckte sie mit den Schultern, schwang ihre schwarzen Locken zurück und stolzierte aus dem Zimmer.

Ich konnte ihr nur mit hochgezogenen Brauen nachschauen.

Na toll, da hatte jemand ganz klar zu verstehen gegeben was er von mir hielt. Kopfschüttelnd strich ich mein Bett wieder glatt. Die Überdecke war hellgrau und ganz weich, vorsichtig ließ ich meine Fingerspitzen darüber gleiten und schloss die Augen. Jetzt war ich in Amerika, ich war einmal um die halbe Erdkugel geflogen, in weniger als einem Tag hatte ich alles hinter mir gelassen. Ein Gefühl von Einsamkeit überkam mich, ich hatte Fernweh und wusste nicht einmal genau wonach. Nach Hexham bestimmt nicht und auch nicht nach der Irrenanstalt. Vielleicht vermisste ich Doktor Jones oder meine Betreuerin, aber auch das konnte ich mir nicht so recht vorstellen.

Ich fühlte mich einfach leer und sehr fehl am Platz.

Aber ich durfte mich nicht beschweren, denn ich hatte es selbst so gewollt.

Nachdem ich auf die Offene Station verlegt worden war, hatte ich Ausflüge in die Stadt unternehmen dürfen. Natürlich unter Beaufsichtigung. Wollte ja keiner die Irren alleine auf die guten Bürger von Hexham loslassen. Für die armen war es auch so schon schwer genug, dass es in ihrem ordentlichen, vornehmen Ort eine Psychiatrie gab.

Für mich waren diese Ausflüge, so wenige es auch gewesen waren, bei weitem schlimmer als für die Einwohner.

Auf den Straßen hatten sie jedes Mal über mich getuschelt, so laut, dass ich jedes Wort hatte hören können. Sie hatten mit dem Finger auf mich gezeigt und mich mit offenem Mund angestarrt. Es war, als ob ein blinkendes Leuchtreklamen Schild über mir gehangen hätte.

Verehrte Damen und Herren, sehen Sie hier! Heute, extra für Sie, das Entführungsopfer. Kommen Sie näher und sehen Sie! Eintritt frei.

Ich war mitten auf dem Gehweg zusammengebrochen, nachdem zwei ältere Damen darüber geredet hatten, ob ich jemals ein normales Leben würde führen können oder ob ich nicht für immer gezeichnet blieb.

Jeder kannte mein Gesicht und meine Geschichte aus den Nachrichten. Ich war fast schon eine Berühmtheit.

Ein paar der Artikel hatte ich auf Wunsch zusammen mit Doktor Jones gelesen und war erstaunt, wieviel mehr die Medien über mich wussten als ich selbst.

Doktor Jones hatte mir zwar erklärt, dass es sich oft um Spekulation handelte oder man nur versuchte meine Geschichte auszuschlachten, trotzdem kam ich mit dem Medienhype um mich nicht zurecht.

Ich wollte die Einrichtung auf keinen Fall mehr verlassen und blieb die meiste Zeit in meinem Zimmer, schaute aus dem Fenster in den Park und wünschte mir, jemand anderes zu sein.

Aber ich konnte nicht auf ewig dort bleiben. Doktor Jones erklärte mir, dass ich dank der guten Fortschritte, die Institution bald verlassen durfte. Ich überlegte tatsächlich wie ich das verhindern konnte. Allerdings war ich eine miserable Schauspielerin und meine Psychologin kannte mich nach dreieinhalb Jahren zu gut, als dass ich ihr etwas hätte vormachen können.

Gemeinsam beschlossen wir, mich möglichst weit wegzuschicken, in ein anderes englischsprachiges Land. Gegen Australien entschied ich mich sofort wegen der Hitze, aber Kanada und ein Teil der USA kamen in die engere Auswahl. Man suchte nach Familien mit gleichaltrigen Kindern in einer ruhigen Gegend, die eine Jugendliche adoptieren wollten.

Ein abgelegener Ort sollte es sein, einer, in dem man vermutlich noch nie von mir gehört hatte.

Ein paar Familien lernte ich über Skype kennen, aber die Moores waren die einzigen, die ich einladen wollte und es hatte von Anfang an gepasst.

»Clara, Liebling. Kommst du bitte vors Haus.« Moms Stimme drang die Treppe empor.

Und da ich ein braves, dankbares Mädchen war, das keinen Ärger machen wollte, schob ich die Einsamkeit gut verpackt in einen hinteren Winkel meines Gehirns, band meine Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammen und kam ihrer Bitte nach.

Die ganze Familie stand versammelt vor dem Haus, Dan mit einem stolzen Ausdruck im Gesicht, wie ihn Männer in Autozeitschriften immer haben. Mom wirkte aufgeregt und lächelte mich fröhlich an. Nur Delilah stand abseits und hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Ihr Blick ließ keine Zweifel an meiner These.

Sie alle standen um ein silbernes Auto herum, das frisch poliert wirkte und eine große rosa Schleife auf der Kühlerhaube hatte.

»Tada«, rief Mom und klatschte in die Hände. »Der Wagen ist für dich. Frisch aus der Werkstatt.«

»Und er ist erst drei Jahre alt, stand die meiste Zeit in der Garage« fügte Dan hinzu.

Sie strahlten mich beide mit einer so aufrichtigen Freude an, dass ich ihnen nur ungern das Herz brach.

»Ein Fahrrad hätte es auch getan«, murmelte ich.

»Was sagst du, Liebes?« Moms Augen wurden groß. Ich stöhnte.

»Ich freu mich wirklich und das ist super lieb von euch. Aber… aber ich kann gar nicht Auto fahren, ich habe keinen Führerschein.« Meine Stimme wurde immer leiser, bis sie fast gänzlich versagte.

Drei Paar Augen starrten mich ungläubig an.

Delilah brach als erste das Schweigen: »Welche Siebzehnjährige hat denn bitteschön keinen Führerschein?« Ihre Stimme triefte vor Verachtung.

Ich wandte mich ihr direkt zu und schaute ihr fest in die Augen:

»Wann bitte hätte ich denn den Führerschein machen sollen? Ich war acht Jahre eingesperrt und danach hatte ich wirklich anderes zu tun!«

Sie wurde feuerrot im Gesicht und stürmte ins Haus. Blöde Kuh!

Keiner achtete auf sie, meine neuen Eltern kamen stattdessen auf mich zu.

»Es tut uns so leid! Daran hätten wir denken sollen«, sagte Mom sanft. »Bis du deinen Führerschein gemacht hast, wird dich Delilah mit zur Schule nehmen.«

»Da freut sie sich bestimmt«, seufzte ich.

»Nimm sie bitte nicht so ernst, ja. Sie muss sich noch daran gewöhnen, sie hatte es in letzter Zeit nicht einfach.« Dan berührte mich leicht an der Schulter und lächelte aufmunternd.

Ich nickte zwar, hatte aber kein Mitleid mit meiner Adoptivschwester.

Ich hatte in England genug solcher Mädchen kennengelernt, um zu wissen, wie ich mit ihnen umgehen musste. Zwar hatte ich keine Lust auf Zickenkrieg, aber ich würde mich nicht fertigmachen lassen. Nie mehr!

Das Wochenende verbrachte ich die meiste Zeit lesend in meinem neuen Zimmer oder mit Dan im Garten, wo er mir seine Beete zeigte und versuchte, mich dafür zu begeistern.

Mir blieb auch nicht viel anderes übrig. Mom war wegen eines Meetings nach LA geflogen und Delilah war die meiste Zeit nicht zu Hause. Nicht, dass es mich störte, aber wenn sie nicht so ein Problem mit mir gehabt hätte, dann hätte sie mich vielleicht mitgenommen und ihren Freunden vorgestellt. So aber würde ich am Montag in der Schule vollkommen die Neue sein. Vermutlich erzählte sie ihren Freunden schon, wie verrückt ich war.

Das nahm mir nicht gerade die Angst vor dem ersten Schultag. Im Gegenteil, meine Paranoia freute sich über das gefundene Fressen und ärgerte mich mit Erinnerungen an früher.

Als ich in das Florence-Nightingale-Institut kam, war ich vierzehn und hätte damals in der neunten Klasse sein sollen, aber die Schulleitung steckte mich wegen der versäumten acht Jahre in die fünfte Klasse, ohne mich vorher auszufragen oder auch nur mein Wissen zu testen.

Man glaubt ja gar nicht, wie fies kleine Kinder sein können. Sie haben jede meiner Ängste gerochen und mich damit schamlos fertiggemacht.

Das war auch der Grund, warum man ein halbes Jahr lang nicht merkte, dass ich unterfordert war, denn ich sprach kein Wort.

Es war Doktor Jones gewesen, die feststellte, dass ich gar nicht so weit zurück war mit dem Schulstoff. Sie war bis dahin auch die einzige, mit der ich überhaupt redete. Sie merkte schnell, dass ich viel wusste und zu sagen hatte.

Nach und nach öffnete ich mich ihr und erzählte, dass er mich unterrichtet hatte. Ihm hatte viel an meiner Bildung gelegen und er hatte mich täglich, auch am Wochenende, in Mathematik und Schreiben, Erdkunde und Politik unterwiesen. Auch Kunst, klassische Musik und Tanz hatte er mir nahegebracht. Ich war eine sehr gute Schülerin gewesen. Er hatte mich mit dem heißen Bügeleisen darauf getrimmt keine Fehler zu machen.

Doktor Jones setzte sich dafür ein, dass man mich in eine höhere Klasse schickte. Aber auch dort wurde ich fertiggemacht. Ich habe nie erfahren, was die anderen Kinder gegen mich hatten und Doktor Jones hat es mir nie erklärt. Aber nachdem mein Schulzeug samt Tasche in Flammen aufging, bekam ich Einzelunterricht.

Ich hatte also meine starke Abneigung gegen Gruppenunterricht nicht von irgendwo her. Ich glaubte aber, dass es jetzt besser werden würde.

Nicht, dass ich eine Optimistin wäre, ich hoffte einfach nur, dass es in einer Schule für normale Jugendliche nicht so zuging.

Tochter des Ozeans

Подняться наверх