Читать книгу Tochter des Ozeans - Leinani Klaas - Страница 14

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KAPITEL 5

Gaia - personifizierte Erde und eine der ersten Gottheiten,

Ehefrau und Mutter des Pontos, mit dem sie Nereus gebar und

Mutter des Okeanos

Drohend hob er die Hand. Im Licht blitzte das blanke Metall der Schere auf, die er fest gepackt hielt und ich drängte mich zurück in die Ecke. Gestern hatte er die Heizung abgedreht, um mich zu bestrafen und ich fror in den dünnen Kleidern, die ich trug.

»Was habe ich dir gesagt, Kind? Du hörst auf mich oder du wirst es bereuen.«

Ein panischer Laut, einem Winseln gleich, drang über meine Lippen und ich schlug mir erschrocken die Hand vor den Mund. Er hasste Schwäche. Er verachtete sie beinahe noch mehr als Dummheit und da ich gerade nicht nur dumm gewesen war, sondern jetzt auch noch Angst gezeigt hatte, würde er mich seinen Zorn darüber spüren lassen. Ich hob die Hände über meinen Kopf und drückte mich noch fester gegen die Wand in meinem Rücken. Jedes Mal hoffte ich, dass sie mich verschlucken würde, doch nie hatte ich dieses Glück. Er trat näher, ich wimmerte wieder und mit einem Schrei schreckte ich hoch. Ich riss die Augen auf, doch es war stockdunkel. Mein Herz klopfte hart gegen meine Rippen und ich tastete nach der Lampe auf dem Nachttisch. Als das Licht den Raum flutete, atmete ich erleichtert auf.

»Rockaway Beach«, sagte ich laut. »Du bist in Rockaway Beach, Clara.«

Um mich davon zu überzeugen, dass ich wach war, kniff ich mich in den Oberarm. Es tat schrecklich weh, aber es bewies mir, dass ich in Sicherheit war. Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es erst fünf Uhr morgens war, aber nach dem Albtraum war an Schlaf nicht mehr zu denken. Ich schaltete zusätzlich die Deckenlampe ein und holte mein Notizbuch aus dem Kleiderschrank, wo ich es, in einen Schal eingewickelt, versteckt hatte. Am Anfang fiel es mir immer schwer, meine Gefühle aufzuschreiben und jetzt war es besonders schlimm. Meine Hand zitterte, als ich die Wörter mit dem Kugelschreiber zu Papier brachte und den Traum Revue passieren ließ. Danach wickelte ich das Buch wieder in den Schal und verstaute es im Kleiderschrank. Sobald das Licht erloschen war und sich die Dunkelheit ausbreitete, fing mein Herz erneut an, vor Angst zu rasen. Ich akzeptierte, dass ich heute Nacht keinen Schlaf mehr finden würde und genehmigte mir stattdessen ein heißes Schaumbad, das meine verkrampften Muskeln entspannte und mich beruhigte.

Obwohl ich pünktlich vor der Tür stand, war Delilah schon weggefahren und hatte mich zurückgelassen. Sie hatte vorher angeboten, den Müll rauszubringen. Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass das nur ein Vorwand gewesen war, um vor mir aus dem Haus zu kommen.

Ich war wütend, auf sie, auf mich, auf Mom. Aber vor allem auf mich. Mom war schon aus dem Haus und Dan schlief noch, da er Spätschicht im Krankenhaus hatte.

Mir blieben also nur zwei Optionen, laufen oder mit dem Fahrrad fahren, doch egal wie ich mich entschied, ich würde zu spät kommen. Vielleicht sollte ich mit dem Fahrrad in die Stadt fahren und versuchen von dort den nächsten Bus zu erwischen. Doch der heutige Tag sollte wohl noch schlimmer werden als der gestrige. Als ich den Drahtesel aus der Garage holte, bemerkte ich den platten Hinterreifen und stöhnte vor Frustration laut auf.

Also doch laufen. Genervt schulterte ich meine Tasche, steckte meine Haare noch mal mit der Haarnadel fest und stapfte los, den Weg kannte ich ja mittlerweile.

Mit jedem Schritt wurde ich wütender. Delilah konnte sich was anhören nachher. Vielleicht würde ich ihr mein Mittagessen überkippen, dann fühlte ich mich bestimmt besser, aber auch schlechter. Oder ich ließ es einfach auf sich beruhen und hoffte, dass wir nun quitt waren.

Leider befürchtete ich, dass sie noch nicht mit mir fertig war. Ich schaute auf die Uhr und stöhnte genervt auf. Wenn jetzt nicht gleich ein Wunder geschah, war ich echt aufgeschmissen. Eigentlich war es ein herrlich warmer Spätsommertag. Die Sonne hing lachend am wolkenlosen Himmel, das helle Blau wurde nur von feinen weißen Flugzeuglinien unterbrochen und es roch nach frisch gemähtem Gras. Jedoch konnte nichts davon meine Stimmung heben und so ging ich blind für diese Schönheit die Straße entlang, als neben mir ein großes Auto langsamer wurde. Ein Monstrum von einem Geländewagen. Durch die getönten Scheiben konnte ich den Fahrer nicht erkennen und bekam Herzklopfen. Irgendetwas rüttelte an einer Erinnerung, die tief in mir vergraben war. Ich hatte ein Déjà-Vu, ohne zu wissen, woher es kam.

Ich war kurz davor loszurennen und das Weite zu suchen, als sich die Fensterscheibe senkte. Eine Gestalt lehnte sich über den Beifahrersitz und schaute durch das offene Fenster. Ich wich zurück, brachte Abstand zwischen mich und das Gefährt und versuchte gleichzeitig das Gesicht zu erkennen.

»Hey, guten Morgen, Iris.«

Ich kannte diese Stimme und atmete beruhigt aus. Grayson. Nur Grayson. Erleichterung machte sich in mir breit und fast hätte ich über meine eigene Angst gelacht.

»Hi, Flash«, gab ich atemlos zurück. Meine Hände zitterten leicht und ich schob sie in die Jackentaschen. Ich wollte nicht, dass er sah, wie nervös mich sein Auftauchen gemacht hatte.

»Wieso läufst du?«, fragte er erstaunt.

Das Gefühl von Erleichterung wich jäh der Wut, die ich seit dem Moment verspürte, als Delilah mich versetzt hatte.

»Ach, weil die Luft so gut ist und ich keine Lust auf Mathe habe«, gab ich patzig zurück. Wenn er mich jetzt auch noch nerven wollte, würde er meinen ganzen Ärger abbekommen.

»Hey, kein Grund gleich so zickig zu sein.«

Ich sah ihm in die Augen und schämte mich. Was war nur los mit mir? Seit ich in Rockaway Beach angekommen war, stimmte etwas nicht mit mir. Ständig war ich jähzornig oder genervt und hatte diese innere Unruhe in mir, die sich einfach nicht verdrängen ließ.

»Es tut mir leid!«, gab ich zerknirscht zurück, »Delilah hat mich heute Morgen stehen lassen und jetzt werde ich zu spät zur Schule kommen. Ich bin einfach nicht gut drauf.«

Grayson fing an zu lachen. »Delilah hat dich stehen lassen? Oh man, sie ist echt sauer auf dich.«

Ja, ja, sehr witzig. Ich hatte keine Lust darauf, dass er sich über mich lustig machte und lief weiter.

Doch er ließ sich nicht abschütteln und fuhr im Schritttempo neben mir her.

»Was zur Hölle wird das? Fahr doch einfach weiter, ich komm schon klar«, knurrte ich. Wirklich, mit mir war echt nichts anzufangen, so wie ich mich verhielt.

»Bist du immer so zickig?«, war seine einzige Reaktion und die brachte mich fast zur Weißglut.

»Hör mal, wenn du nur jemanden suchst, um dich über ihn lustig zu machen, kannst du dich gleich wieder…«

Er unterbrach mich: »Du spinnst ja. Ich mach mich nicht lustig, ich wollte dich fragen, ob ich dich mitnehmen soll, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich dich im Auto haben will. Außer du hast einen Maulkorb, den ich dir umschnallen kann.«

»Ja«, rief ich. »Ich spinne. Und jetzt fahr endlich.«

Ich stampfte doch tatsächlich mit dem Fuß auf. Aber es zeigte Wirkung. Der Wagen fuhr mit einem Ruck an und verschwand hinter der nächsten Kurve.

Dumm, dumm, dumm, dumm, schimpfte ich mich selbst. Irgendwie mussten diese Stimmungsschwankungen doch in den Griff zu bekommen sein, bevor sie mich meine ganzen Nerven und potenzielle Freunde kosteten.

Am liebsten wäre ich zurück in mein Bett gerochen oder ganz von hier verschwunden. Eine Woche war ich jetzt hier und alle hatten sich gegen mich verschworen. Wie ich meine Leben gerade hasste.

Erschrocken blieb ich stehen. Graysons Wagen war hinter der Kurve geparkt und die Beifahrertür stand offen.

»Steig doch jetzt einfach ein. Ich nehme dich mit, wir müssen nicht mal reden. Aber ich kann doch nicht zulassen, dass du Mathe verpasst«, hörte ich seine Stimme aus dem Inneren des Wagens. Erleichtert stellte ich fest, dass er amüsiert klang.

Ich zögerte. Nicht etwa, weil ich lieber gelaufen wäre, sondern weil es mir Angst machte in diesen großen, dunklen Wagen zu steigen.

Ich näherte mich der Tür und überlegte fieberhaft.

Dann gab ich mir einen Ruck und sagte mir, dass schon alles gut werden würde und dass nur Grayson sei. Mit ihm zu fahren war wirklich die bessere Option.

Ich kletterte auf den Sitz und verharrte mit der Hand am Türgriff. Ich musterte Grayson, versuchte abzuschätzen, was er von mir hielt. Doch er schaute einfach nur durch die Windschutzscheibe und ignorierte mich. Ich zog fest an der Tür und sie knallte mit einem lauten Geräusch ins Schloss.

»Hee, das ist kein Panzer, Clara«, schnaubte er und schaute mich jetzt doch an.

Ich ging nicht darauf ein. Ich war damit beschäftigt, die beklemmende Angst, in der Falle zu sitzen, zu unterdrücken. Ich wurde das Gefühl nicht los, mich selbst eingesperrt zu haben.

Mit fahrigen Fingern schnallte ich mich an und umklammerte mit der Hand den Türgriff, als würde mein Leben davon abhängen. Grayson startete den Motor und mir lief ein Schauer über den Rücken.

Ruhig atmen, es ist alles okay, beschwor ich mich selbst.

Ein lautes Klicken verriet mir, dass die Zentralverriegelung geschalten hatte. Oh Gott! Ich saß in der Falle und war kurz davor in Tränen auszubrechen. Das Innere des Wagens kam mir plötzlich winzig klein und eng vor.

Ich versuchte die Melodie von ›Walk in the Sun‹ zu summen. Oh Goooott. Ich schwitzte und merkte, wie mir die Luft wegblieb. Ich zwickte mich in die empfindliche Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger, immer wieder, es half nichts. Mir wurde schlecht. Meine Skills wirkten nicht und an den Rest meiner Skills konnte ich mich gerade nicht erinnern.

Lass mich raus, lass mich raus, flehte ich im Stillen. Oh Gott. »Lass mich raus!«, hauchte ich. »Bitte…«

Er schaute mich stirnrunzelnd von der Seite an, machte aber keine Anstalten den Wagen zu bremsen.

»LASS MICH RAUS!«, schrie ich jetzt panisch.

Ich riss an der Tür, aber das verdammte Ding ließ sich nicht öffnen. Heiße Tränen rannen mir über die Wangen und nahmen mir die Sicht. Wütend wischte ich sie weg und schnappte nach Luft. Dann schlug ich mit den Fäusten auf die Tür ein. Ich saß in der Falle. Der Sicherheitsgurt verkantete sich und ließ mir keinen Millimeter Spielraum.

»SCHEIßE!«, brüllte ich und versuchte hektisch mich abzuschnallen. Meine Finger zitterten so stark, dass ich immer wieder abrutschte. Ich saß in der Falle! Ich erstickte.

»Nein. Nein, NEIN. Lass. Mich. Raus.«

Ich verkrampfte mich auf meinem Sitz und spürte, dass ich der Ohnmacht nahe war. Wie war ich nur in diese Situation geraten. Wo war ich überhaupt? Was machte ich hier? Wie hatte ich ihm in die Falle gehen können?

Ich wurde ganz steif, heulte und keuchte. Ich zitterte am ganzen Körper. Was war hier los? Ich verstand gar nichts mehr und erinnerte mich auch an nichts mehr.

Mir entglitt vollkommen die Kontrolle. Warum saß ich in diesem Wagen. Warum standen wir mitten im Wald? Wir standen!

Neben mir wurde die Beifahrertür aufgerissen und eine Gestalt beugte sich über mich. ER war es. Ich hatte es gewusst. Er würde mich überall finden.

Ich schrie und schrie. Schlug um mich und krallte meine Hände in das nächstbeste, das ich von meinem Angreifer erwischen konnte. Doch dieser ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Er würde mich in den Wald verschleppen und mich dort umbringen.

Oh ja. Ich wusste es. Spürte es mit jeder Faser meines Körpers. Die großen Hände umfassten mich und zogen mich aus dem Wagen. Ich wand mich, trat nach ihm und kreischte wie am Spieß. Alles drehte sich. Mein Magen hob und senkte sich.

»Fuck!« Er war es. Ich hörte seine Stimme. Nur er konnte so reden. Er hatte mich gefunden. Aber wie? WIE?

»Clara! Mach die Augen auf. Verdammt. Was ist los? Clara!« Moment mal! Clara?

Ich riss die Augen auf. Blauer Himmel über mir, links und rechts Bäume. Dichter Wald. Sonnenstrahlen, die durch die Blätter fielen. Vogelgezwitscher. Keine Dunkelheit, keine nackte Betonwand. Kein Bügeleisen.

Erleichterung überkam mich und ich rollte mich zur Seite. Und dann erbrach ich mich auf den Waldboden.

Wir saßen mitten im Wald, schwänzten die Schule und schwiegen uns an. Über unseren Köpfen rauschte der Wind in den Wipfeln der Bäume, Vögel sangen ihre Lieder und das Sonnenlicht sickerte durch die grün belaubten Bäume. Ich war in Sicherheit.

Grayson hatte sich geweigert mich so in die Schule zu fahren, aber nach Hause wollte ich auch nicht.

Der harte, raue Stamm, den ich durch das T-Shirt an meinem Rücken fühlte und das Moos unter meinen Händen beruhigten mich. Brachten mich zurück in die Wirklichkeit.

Trotzdem war mir immer noch schwindelig und ich fühlte mich unwohl. Hier, alleine mit Grayson, der mich immer noch anstarrte.

»Willst du mir jetzt erzählen, was da gerade passiert ist?«, fragte er mich nicht zum ersten Mal.

Nein, wollte ich nicht. Aber auch das hatte ich ihm schon ein paar Mal gesagt. Er ließ nicht locker und mir war klar, dass ich ihm irgendwas erzählen musste. Ich ließ mir meine verstrubbelten Haare übers Gesicht fallen.

Natürlich konnte ich auch einfach aufstehen und gehen, aber ich war noch zu wackelig auf den Füßen und musste vorerst hier sitzen bleiben. Und wie es schien, würde auch Grayson bleiben, wo er war. Meine Hoffnung, dass er mich hier einfach alleine lassen würde, war zerplatzt, als er sich mir gegenübergesetzt hatte.

Ich starrte ihn böse an und hoffte, dass meine Blicke töten würden.

Laserstrahlen? Nein? Irgendwas anderes?

Er bewegte sich nicht von der Stelle, im Gegenteil. Er schien es sich gemütlich zu machen und schaute mich weiter unverwandt an.

Ich wusste nicht, was mir unangenehmer war, mein Anfall im Wagen, oder dass er mich so forschend anschaute.

Hilflos zuckte ich mit den Schultern und seufzte.

»Ich weiß nicht, was du hören willst. Es gibt nichts zu erzählen«, versuchte ich es.

Natürlich kaufte er mir das nicht ab und entgegnete: »Das eben war aber nicht nichts. Du warst total panisch. Du hast mir echt Angst gemacht.«

»Ich habe DIR Angst gemacht?«, rief ich empört.

»Natürlich. Du hast total geschrien und…«

»Schon gut!«, unterbrach ich ihn laut und hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen.

»Schon gut«, murmelte ich wieder und ließ den Arm sinken. Dann kratzte ich mich am Kopf und schaute hoch zu den Baumkronen über uns.

»Manchmal bekomme ich Platzangst, fühl mich irgendwie eingesperrt und reagier dann so heftig. Das war nichts Schlimmes, der Tag hat halt schon furchtbar angefangen. Stimmt eigentlich gar nicht. Angefangen hat es gestern Nachmittag vor der Eisdiele. Weißt du noch? Du hast mein Eis zerquetscht. Eigentlich bist du an all dem schuld. Ja, genau. Mit dir hat das ganze Schlamassel doch erst angefangen. Du… Du…!«

Mit geballten Fäusten war ich aufgesprungen, hatte mich in Rage geredet und starrte böse auf ihn hinab. Grayson schaute mich bloß verblüfft an. Gut, besser so. Ich packte meine Tasche und wollte weglaufen. Ob nach Hause oder zur Schule war mir egal. Hauptsache weg. Aber gleich darauf, verpuffte mein Zorn wieder.

Und mal wieder schämte ich mich mehr über mich selbst als über alle anderen. Kein Wunder, dass ich nie Freunde fand. Wenn ich immer so überheblich und exzentrisch reagierte, würde ich mich auch lieber von mir fernhalten.

Ob ich schon als Kleinkind so gewesen war, wusste ich nicht, aber wie sagt man so schön: Old habits die hard.

Vermutlich würde ich als einsame Frau mit sieben Katzen sterben.

Wie gern hätte ich mich jetzt entschuldigt, aber ich war zu beschämt, um mich noch mal umzudrehen, lieber lief ich weg.

Du Feigling, beschimpfte ich mich selbst, eigentlich war er nur nett zu dir. Wollte dich mit zur Schule nehmen und ist sogar dageblieben, als es dir schlecht ging.

Jetzt tat es mir leid, vielleicht war es ja noch nicht zu spät die Situation zu retten. Ich überwand meinen inneren Schweinehund und drehte mich abrupt um. Grayson stand jetzt neben seinem Wagen und funkelte mich wütend an.

»Spars dir. Mehr Beleidigungen brauch ich heute echt nicht«, sagte er kurz angebunden als ich auf ihn zukam.

Sein kalter Blick traf mich mitten ins Herz und ich schaute betreten zu Boden.

»Eigentlich wollte ich mich nur entschuldigen, weil ich mich blöd verhalten habe. Tut mir leid«, murmelte ich und schielte dabei auf meine Schuhe, weil ich es nicht wagte, noch mal in seine Augen zu sehen.

»Ich habe dich nicht verstanden«, sagte er. Mein Kopf schoss hoch. Bitte was?

»Willst du mich auf den Arm nehmen? Es tut mir leid! Soll ich es dir buchstabieren?«

Wir starrten uns einen Augenblick an, bis er seufzte und zur Seite wegschaute.

»Steig einfach ein. Dann kann ich dich zur Schule fahren und so tun, als wäre das alles hier nicht passiert.«

Ein bisschen enttäuscht war ich schon, aber was konnte ich noch erwarten. Ich hatte ihn beleidigt und vor den Kopf gestoßen. Dass er mich immer noch mitnahm, war vermutlich das höchste der Gefühle.

Er fuhr schweigend zur Schule und schaute mich die ganze Fahrt über nicht an.

Ein paar Mal war ich kurz davor, etwas zu sagen, doch jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte, kamen keine Worte heraus. Stattdessen zwirbelte ich mein Haar zu einem Knoten und steckte es wieder am Hinterkopf fest.

Wenn ich gedacht hatte, der Tag könnte nicht noch schlimmer werden, dann hatte ich mich gründlich geirrt.

Vor der Schule herrschte das reinste Chaos, Schüler rannten durcheinander, Lehrer brüllten Anweisungen, versuchten die jüngeren Schüler zu beruhigen oder drängten sie in Gruppen zusammen.

Einige versuchten mit dem Auto vom Parkplatz zu kommen, kamen aber nicht durch das Gedränge. Lautes, wütendes Hupen durchschnitt den übrigen Lärm, irgendwo sprang eine Autoalarmanlage an. Tatsächlich wirkte die ganze Aufregung wie die Apokalypse.

Keiner schien uns wahrzunehmen, jeder war mit sich selbst beschäftigt.

»Was ist hier los?«, fragte ich Grayson mit großen Augen.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, Clara. Hoffen wir, dass es nur eine Übung ist!«

Etwas in seiner Stimme ließ meine Alarmglocken klingeln.

»Was für eine Übung? Was soll das? Ist was passiert?«, meine Gedanken überschlugen sich.

»Vor den Sommerferien hatten wir eine Tsunami-Evakuationsübung. Da sah es hier ähnlich aus. Aber da sind alle ruhig geblieben.«

»Willst du damit sagen, dass …, dass …«, ich wagte es nicht, den Satz zu beenden.

»Dass es keine Übung ist? Ja, ich glaube schon. Da vorne ist Mister Backman. Komm mit.«

Er griff nach meiner Hand. Ich zuckte zusammen und hätte sie ihm gerne entrissen, aber er lief los und mir blieb nichts anderes übrig als ihm zu folgen. Wir schlängelten uns durch die aufgeregte Menge, hier und da wurde ich angerempelt, die Gefühle und die Aufregung der anderen schwappten auf mich über und erdrückten mich fast bis wir uns zu unserem Geschichtslehrer durchgedrängt hatten.

»Mister Backman, was ist hier los? Ist das eine Übung?«, rief Grayson laut über den Lärm hinweg.

»Eine Übung? Nein, Junge. Wir evakuieren die Schule. Hast du die Durchsage nicht gehört? Es besteht Tsunamigefahr. Nimm deine Freundin und verschwinde von hier. Lasst die Autos stehen und lauft zu Fuß den Hügel hoch. Los jetzt!« Er deutete mit der Hand auf den bewaldeten Hügel hinter der Schule.

Mit weit aufgerissenen Augen stand ich da. Was ich gerade gehört hatte, wollte einfach nicht in meinen Kopf passen. Tsunamigefahr? Ohne Witz? So was passierte doch nur in Büchern oder in Filmen. Aber doch nicht im echten Leben. Nicht hier, nicht in so einem unscheinbaren, kleinen Kaff wie Rockaway Beach.

Grayson reagierte schneller, denn er packte erneut meine Hand und zog mich fort. Fort von der Schule, fort von der Gefahr. Ich folgte ihm wie betäubt, konnte keinen klaren Gedanken fassen und achtete kaum auf meine Füße. Alles schien unwirklich und surreal. Mir wurde schwindelig, immer wieder stolperte ich und wäre hingeflogen, wenn Grayson mich nicht festgehalten hätte. Irgendwie schaffte ich es an die Waldgrenze und dort klappte ich einfach zusammen. Das war genug Aufregung für einen Tag. Jetzt wollte ich nicht mehr, mein Körper kapitulierte und quittierte einfach den Dienst.

»Clara, bitte. Steh auf. Wir müssen hier weg. Sofort!«

Graysons Stimme war laut und eindringlich, aber das war mir egal. Sollte er doch alleine weitergehen und mich hier auf dem trockenen Waldboden liegen lassen. Ich konnte und wollte nicht mehr. Er murmelte etwas Unverständliches, dann bückte er sich und hob mich hoch. Bevor ich protestieren konnte, lief er los, den Hügel hinauf.

Ich schloss die Augen und ließ es geschehen. Das hier war alles andere als angenehm, es war peinlich. Nach heute würde ich mich meilenweit von Grayson fernhalten und nie wieder mit ihm reden. Vermutlich hatte er nichts dagegen einzuwenden, schließlich hatte ich mich erst bockig, dann total verrückt und dann wieder bockig verhalten und zu allem Überfluss entpuppte ich mich jetzt auch noch als komplette Versagerin. Nein, er würde sicher nicht protestieren, wenn ich auf Abstand ging.

Wir erreichten die Lichtung oben auf dem Hügel, einzelne Gruppen hatten sich bereits gebildet und Lehrer gingen von Schüler zu Schüler. Es war unheimlich still, alle sprachen im Flüsterton oder schwiegen, jedem war die Angst ins Gesicht geschrieben. Ich schluckte, als mir klar wurde, dass sie sich sorgen um Familie oder Freunde machten und musste an Mom und Dan denken. Sogar an Delilah dachte ich, auch wenn die Sorge um sie kleiner war als die um Jenna und Megan. Ich schaute mich nach ihnen um und lief mit etwas Abstand hinter Grayson an den Grüppchen vorbei, konnte sie aber nirgends finden. Unruhe erfasste mich, der Gedanke, dass meinen Freunden etwas geschehen war, machte mich nervös. Vor allem, dass Jenna nicht zu sehen war. Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Bestimmt waren meine Sorgen unbegründet, aber das änderte nichts an dem stechenden Gefühl in meinem Herzen, das erst verschwinden würde, wenn ich sie sah.

Dunkle Wolken zogen auf und verdeckten die Sonne, ein frischer Wind wehte plötzlich über die freie Fläche, fuhr durch meine Kleidung und ließ mich frösteln.

Es ging mir etwas besser, immerhin konnte ich wieder selbstständig laufen und mich von Grayson wegdrehen, um ihn nicht ansehen zu müssen. Mir wurde bewusst, dass ich mehrere Minuten zugelassen hatte, dass er mich berührte und mich sogar festhielt. Schaudernd zog ich die dünne Jacke enger um meinen Körper. Ich gestand es mir nur ungern ein, aber ich wusste, dass da etwas war, zwischen ihm und mir. Ich hatte Vertrauen zu ihm gefasst und konnte nicht leugnen, dass ich mich sicherer fühlte, wenn er bei mir war. Ich verstand es selbst nicht. Noch nie hatte ich jemandem nach so kurzer Zeit ein solches Vertrauen entgegengebracht. Doch da war etwas, eine Verbindung. Irgendetwas, das mir ein gutes Gefühl gab. Feiner Nieselregen setzte ein, benetzte mein Gesicht und sickerte durch meine Klamotten. Binnen weniger Sekunden war ich durchnässt bis auf die Knochen und zog die Jackenärmel über meine klammen Finger. Gerade wollte ich mich zu Grayson drehen, um mich bei ihm zu bedanken, da tauchte Delilah neben uns auf und beschlagnahmte ihn. Tolles Timing.

»Oh Grayson!«, rief sie und fiel ihm um den Hals. »Da bist du ja. Wir haben uns Sorgen gemacht. Ich habe mir Sorgen gemacht! Die anderen stehen da drüben. Kommst du mit mir mit?«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. In ihren Augen glitzerten sogar Tränen und sie wirkte ehrlich besorgt, von mir nahm sie aber keine Notiz.

»Ich geh schon, vielleicht finde ich Jenna oder Megan«, murmelte ich und wandte mich zum Gehen, aber Grayson hielt mich auf, er griff nach meiner Hand und zog mich zurück.

»Bleib hier. Ich will nicht, dass dir was passiert.«

Seine Worte überraschten mich. Sollte er nicht froh sein, mich loszuwerden?

Delilahs Blick wanderte von Grayson zu mir und zurück, dann wurden ihre Augen groß und rund.

Ihr Mund öffnete sich zu einem erstaunten »OH« aber kein Laut kam über ihre Lippen. Als sie meinen verlegenen Blick bemerkte, zog sich Zornesröte über ihre Wangen, sie sah mich definitiv als Konkurrenz. Das würde ihre Einstellung zu mir sicher nicht verbessern und unser angeschlagenes Verhältnis nur weiter schwächen.

Auf den nächsten Zickenkrieg konnte ich eigentlich gut verzichten und ich verschränkte die Arme vor der Brust, innerlich darauf gefasst gleich fertiggemacht zu werden.

Ich hatte mit allem gerechnet, aber sicher nicht mit ihrer Freundlichkeit, doch Delilah setzte ein Lächeln auf, das wohl nett sein sollte und legte einen Arm um meine Schultern.

»Komm doch einfach mit rüber, dann können wir alle aufeinander aufpassen, falls einer ausrastet oder sich komisch benimmt.« Sie zwinkerte mir zu. »Außerdem kannst du meine Freunde kennenlernen, bevor wir morgen zusammen an den Strand fahren.«

Mir wurde schlecht bei ihren Worten. Es war nicht die Anspielung auf meine psychische Verfassung, bei der mir unwohl wurde, sondern die Tatsache, dass ich den morgigen Tag mit ihr und ihren Freunden am Meer würde verbringen müssen. Eiskalt zog sich meine Brust zusammen. Das war Panik, davor, dass ihre Freunde genau so liebenswert und freundlich waren wie Delilah.

Bevor ich etwas sagen oder mich auch nur wehren konnte, hatte sie sich bei mir eingehakt und zog mich über die immer voller werdende Wiese, hinüber zu ihren Freunden.

Mit festem Griff bugsierte sie mich an den anderen vorbei und zischte durch die Zähne: »Lass die Finger von Grayson oder du wirst es bereuen! Das verspreche ich dir.« Dann wurde ihre Stimme zuckersüß. »Schaut mal, wen ich gefunden habe. Das hier ist meine kleine Adoptivschwester Clara aus England. Wir nehmen sie morgen mit an den Strand. Sie hat noch keine Freunde hier und ist sonst ganz alleine am Wochenende. Der liebe Grayson hat sich schon ein bisschen um sie gekümmert.«

Mir war bewusst, dass ich sie mit offenem Mund anstarrte, aber ich konnte nicht fassen, was ich da gerade gehört hatte. Das meinte sie doch nicht ernst?

Ich blinzelte ein paar Mal verdutzt, dann machte ich mich von ihr los. Gerne hätte ich etwas Schlagfertiges erwidert, aber ich wollte keinen Streit vom Zaun brechen. Also hielt ich den Mund und lächelte. Die anderen musterten mich abwartend, neugierig, aber keineswegs herablassend.

Während wir warteten, beobachtete ich Delilahs Freunde unauffällig.

Sie waren zu sechst, Delilah und Grayson mitgerechnet, drei Mädchen, drei Jungen. Und ich. Das überflüssige fünfte Rad am Wagen.

Die beiden Mädchen waren sehr hübsch, aber langweilig, Markenklamotten, glatte Haare und perfekte Gesichter, aristokratische Nasen, großgewachsen und dünn. Zu perfekt, zu glatt. Bea und Demi, fiel mir wieder ein.

Blond und Brünett. Man hätte sie auch Püppchen A und Püppchen B nennen können.

Dann wanderte mein Blick weiter zu ihren Freunden. Breiter, großer Körperbau, ganz klar Footballspieler. Gut sahen sie aus, Marke Frauenschwarm und das wussten sie, so selbstbewusst und locker, wie sie dastanden. Der Dunkelhaarige fing meinen Blick auf und zwinkerte mir zu. Sein Grinsen war echt und entblößte eine Reihe schneeweißer Zähne. Als ich sein Lächeln nicht erwiderte, wackelte er mit den Augenbrauen und grinste breiter. Meine Mundwinkel zuckten, als er in die Hände klatschte und rief: »Sie kann ja doch lachen!« Dabei klang er so fröhlich und gut gelaunt, dass ich breiter grinste.

Vielleicht, ganz vielleicht würde der morgige Tag doch nicht ganz so übel werden. Doch noch immer machte ich mir Sorgen um Jenna und Megan, aber wenn ich ehrlich zu mir war, machte ich mir am meisten Sorgen um Jenna. Mir drehte sich der Magen um, wenn ich daran dachte, dass ihr etwas zustoßen könnte. Ich wünschte mir nichts mehr, als sie hier und jetzt zu sehen und zu wissen, dass es ihr gut ging, dass ihr nichts passiert war. Ich kniff fest die Augen zusammen und versuchte das Schicksal zu beeinflussen. Wenn ich jetzt die Augen aufmache, dann steht sie da drüben. Sie wird hier sein, sobald ich die Augen aufmache! Mit klopfendem Herzen öffnete ich erst ein Auge und dann, enttäuscht, das zweite. Keine Jenna … Weit und breit.

Es dauerte über zwei Stunden, bis der Schulleiter auf der Lichtung erschien und Entwarnung gab. Jenna stieß endlich zu uns als der Regen wieder aufhörte und die Sonne hinter den Wolken hervorbrach. Ich fiel ihr um den Hals, so erleichtert war ich, sie zu sehen. Sie lachte, während sie mich umarmte und an sich drückte. Fast hätte ich sie nicht mehr losgelassen, so gut fühlte es sich an, sie hier zu wissen. Ich atmete erleichtert ihren Duft ein, während ich mein Gesicht immer noch an ihrer Schulter vergrub. Lavendelseife und Meerwasser.

Doch dann löste ich mich von ihr und lächelte verlegen. Röte hatte sich auf meine Wangen gestohlen und mein Gesicht fühlte sich ganz heiß an. Peinlich berührt über meinen plötzlichen Gefühlsausbruch schaute ich weg und hoffte, dass ich mich nicht zu unangemessen verhalten hatte. Doch statt über mich zu lachen, ergriff Jenna nur meine Hand, drückte sie und hielt sie auch weiter fest, während wir durch den Wald zurück zur Schule liefen. Ihre Hand in meiner fühlte sich warm und trocken an und gab mir ein sicheres Gefühl. Verwirrt bemerkte ich, dass mein Herz einen Satz machte. Was hatte das zu bedeuten?

Der Unterricht fiel aus und wir waren alle froh, nach Hause gehen zu können, um zu duschen und was Trockenes anzuziehen.

Grayson fuhr mich, obwohl Delilah mir angeboten hatte mich mitzunehmen. Ich traute ihr und ihrer falschen Höflichkeit nicht über den Weg und hielt Abstand zu ihr.

Erst zu Hause unter der Dusche kam mir der Gedanken, dass an der ganzen Sache etwas nicht stimmte.

Während ich mir das Shampoo aus den Haaren wusch, überlegte ich, wie eine Tsunamiwarnung aufgehoben werden konnte. Entweder es gab einen Tsunami oder eben nicht. Immerhin hatten wir zwei Stunden im Regen gestanden. Zumindest hätte das Meer doch aufgewühlt aussehen müssen. Oder? Aber als wir die Straße zurückgefahren waren, hatten der Strand normal und das Meer ruhig dagelegen. Zu ruhig. Kaum eine Welle hatte sich geregt. Fast wie ein Spiegel.

In Gedanken versunken putzte ich mir die Zähne und cremte mich ein.

Als ich barfuß zurück ins Zimmer tapste, kam die Sonne hinter den Wolken hervor und warf einzelne Lichtstrahlen durchs Fenster. Das Licht brach sich am Staub der im Raum tanzte und malte goldene Kleckse an die Wand und auf den Teppich. Blinzelnd hob ich die Hand, um die Augen gegen das Licht abzuschirmen und spähte aus dem Fenster. Hinter dem Nachbarhaus konnte ich das Meer erkennen, endlos weit bis zum Horizont glitzerte es in der Abendsonne. Die in Rotund Goldtöne getauchte Landschaft wirkte märchenhaft verzaubert, der Wind spielte mit den Blättern in den Bäumen und als ich das Fenster öffnete, meinte ich das ferne Rauschen der Wellen zu hören. Nur ins Badetuch gewickelt stand ich da. Eingenommen von dem Moment ließ ich die Eindrücke auf mich wirken.

Da hörte ich es wieder. Einen Gesang, überirdisch schön, nicht von dieser Welt, fremd und doch so unendlich vertraut, dass es mir im Herzen wehtat und ich ein solches Heimweh verspürte, dass ich die Hand auf die Brust drücken musste, weil ich das Gefühl hatte, auseinander zu fallen.

Die fremdartigen Töne zogen mich in ihren Bann, mir schien es, als sei ich kurz vorm Ersticken gewesen und könnte jetzt plötzlich wieder frei atmen. Das Lied durfte nicht aufhören, sonst starb ich. Ich wollte der Stimme folgen, ihr entgegenlaufen, wollte alles dafür tun, nur, um sie weiter singen zu hören. Ich musste es. Ich hatte keine Wahl. So fest verankert war dieses Wissen, dass nichts mehr von Bedeutung war. Ich schwebte wie auf Wolken, spürte den Wind in meinem Gesicht und fühlte mich frei, frei, frei…

»Clara! Was zum Teufel tust du da? Komm da runter! SOFORT« Hände packten mich grob, zerrten an mir, zogen mich fort. Das Lied brach ab und die Stille, die darauf folgte, war so ohrenbetäubend, dass mein Trommelfell fast platzte.

»NEIN!«, zischte ich laut und schlug nach den Händen. Ich war so wütend und enttäuscht. Was hatten sie getan? Als ich jetzt die Augen öffnete, drehte sich das Zimmer um mich und ich sackte zur Seite. Wieder packten mich die Hände und ich stieß gegen eine breite Brust.

»Meine Güte, was ist denn los mit dir, Kind?«

Die Stimme war dicht an meinem Ohr und ich musste den Kopf wenden, um ihren Besitzer zu sehen. Dan! Er starrte mich mit großen Augen an und mir wurde schlagartig bewusst, dass ich nur ein Badetuch anhatte. Verlegen richtete ich mich auf, zog an dem Tuch und merkte, wie ich rot wurde.

»Ich… Ich weiß nicht. Tut… Tut mir leid, Dan!«, stotterte ich.

»Liebes, du wärst beinahe aus dem Fenster gefallen. Im Badetuch! Kannst du mir das bitte erklären?« Mit gerunzelter Stirn schaute er mich an. Sein Blick wirkte ehrlich besorgt.

»Mir war nur schlecht. Die ganze Aufregung heute in der Schule, das war einfach zu viel. Ich habe keine Luft mehr bekommen und mich aus dem Fenster gebeugt. Tut mir wirklich leid. Das war idiotisch von mir.« Bitte, bitte frag nicht weiter nach.

»Willst du darüber reden? Ich meine, wenn du angezogen bist? Ich kann uns eine Kanne Tee kochen und wir zwei setzen uns zusammen auf die Terrasse« Sein vorsichtiger Ton, um mich ja nicht zu bedrängen, löste etwas in mir. Ich nickte und brachte ihn damit zum Lächeln.

»Dann bis gleich, Clara.«

Er wandte sich ab und wollte das Zimmer verlassen, als ich ihm nachrief: »Dan, was war da heute los? Die ganze Schule war völlig aus dem Häuschen. Alle hatten richtig Panik, aber auf dem Heimweg schien alles normal zu sein. Ich meine, das Meer war ganz ruhig.«

Ein merkwürdiger Ausdruck trat in seine Augen und er schien einen Augenblick nachzudenken, dann sagte er: »Clara, mach dir keine Sorgen. Es ist alles gut. Aber wir müssen das Teetrinken verschieben, ich muss nochmal los.« Dann macht er auf dem Absatz kehrt und verschwand in den Flur.

Verblüfft schaute ich ihm nach. Was war das denn gewesen? Kopfschüttelnd zog ich mich an und setzte mich mit einem Buch in den Schaukelstuhl. Aber mir war nicht nach Lesen, lieber wollte ich grübeln und über Fragen nachdenken, auf die ich keine Antworten hatte.

Während ich dasaß und vor mich hin überlegte, wurde der Himmel draußen immer dunkler, bis die Nacht hereinbrach und die Straßenlaternen ansprangen. Durch das geöffnete Fenster strömte kühle, würzige Luft ins Zimmer und blähte die dünnen Vorhänge auf. Ich hatte keine Lampe angemacht, nur der Mond spendete sein diffuses Licht und ließ die aufgebauschten Vorhänge wie schemenhafte Gespenster wirken. Dieses Mal störte mich die Dunkelheit nicht, vielmehr hatte ich das Gefühl, in ihr zur Ruhe zu kommen.

Es war nach neun, als Dan sein Rennrad in der Garage parkte. Es war ein amüsanter Anblick, wenn er morgens in Anzug und Krawatte das Haus verließ, um dann mit dem Rad ins Krankenhaus zu fahren. Bestimmt hätten sich die ein oder anderen in der Nachbarschaft über ihn lustig gemacht, aber er war ein angesehener Chirurg und leitender Chefarzt des örtlichen Krankenhauses und er legte viel Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild.

Aber heute Abend wirkte Prof. Doktor Daniel Alexander Moore ganz und gar nicht wie ein Gott in Weiß. Seine dunkle Kleidung verschmolz beinahe mit der Nacht, die ihn umgab, und er bewegte sich langsam und geräuschlos. Einzig sein Schatten vor der Laterne hatte seine Ankunft verraten. Er stieg gerade vom Fahrrad als sein Handy klingelte.

»Ich bin eben angekommen. Ja, alles unter Kontrolle. Ich glaube nicht, dass sie etwas bemerkt hat. Nein, aber ich werde es weiter im Blick behalten.« Er sprach so leise, dass ich nahe ans Fenster gehen musste, um ihn zu hören.

Von wem redete er? Wen meinte er mit sie? Und was war unter Kontrolle? Sprach er von mir?

Plötzlich war ich unendlich erleichtert, vorhin nicht mehr gesagt zu haben. Ich spähte aus dem Fenster, nach unten zu Dan. Er stand mit dem Rücken zu mir und war mit seinem Handy beschäftigt, als im Gebüsch neben dem Haus Zweige krachten. Im gleichen Moment, in dem er den Kopf hob, wich ich zurück und stolperte fast über mein Buch, das immer noch auf dem Boden lag. Mit der Hand erstickte ich mein erschrockenes Aufkeuchen und betete, dass Dan vor dem Haus nichts mitbekommen hatte. Die Haustür fiel ins Schloss und ich sank mit einem erleichterten Seufzer gegen die Wand. Ganz egal, was das zu bedeuten hatte, nicht nur er würde mich im Blick behalten, sondern ich auch ihn.

Tochter des Ozeans

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