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2. Blindlings

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I ND E RK I S T Ewar es eng. Es roch so intensiv nach Äpfeln, dass er glaubte, entweder betrunken davon zu werden oder ersticken zu müssen, aber keinen Moment dachte er daran, um Hilfe zu rufen. Die Männer gingen möglichst behutsam mit den Kisten um, und Blitz zweifelte nicht daran, dass er lebendig das andere Ufer erreichen würde. Durchgeschüttelt und verkrampft, aber frei und lebendig. Frei.

Als Blitz sich in eine der leeren Obstkisten hineingezwängt hatte, hatte er es geschickt angestellt. Mit einem Sacktuch abgedeckt, war er nicht zu sehen, wenn sie ihn verluden – die ausgewählten Früchte, die für Aifa bestimmt waren, waren alle abgedeckt, um sie vor Wespen und Staub zu schützen – und obwohl er mehr schlecht als recht hineinpasste, würde es den Männern nicht auffallen, dass er hier drin war. Die Kisten waren alle so schwer, dass sie zu zweit anpacken mussten, und da er klein war, hoffte er, dass sein Gewicht nicht allzu sehr auffiel.

Er hörte ihre Stimmen, er hörte, wie sie scherzten und fluchten. Der Morgen war jung und der frische Wind ließ sogar ihn dort unter dem Tuch frösteln. Es versprach ein schöner Tag zu werden, mild und sonnig, ein Tag, an dem man in einem Boot über das Meer fahren konnte, in die endlose Weite. Das Boot, in das seine Kiste geladen wurde, war jedoch nur ein Lastkahn und hatte keine weite Reise vor sich, nur nach drüben zum Festland, wo die Fracht auf Pferdefuhrwerke verteilt werden würde. Man hatte auch schon versucht, die Kähne den Fluss heraufzuziehen, bis hoch in die Kaiserstadt Kirifas, aber der Fluss war stellenweise wild und unzuverlässig, und das Risiko zu kentern war größer, als im Wald in die Hände von Räubern zu fallen.

Im Bauch des Kahns war es so stickig, dass er durch die Ritzen der Bretter nach Luft rang. Die wenigen Stunden Fahrt bis zum Hafen in Drian kamen ihm vor wie eine endlose Tortur. Er konnte sich nicht bewegen, er konnte kaum atmen – dabei hatte er sich darauf verlassen, dass das Obst nicht luftdicht verstaut wurde – und zum ersten Mal in seinem Leben war er seekrank. Während er sich dem Tode nahe fühlte, bereute er schon, was er getan hatte, und er hätte alles darum gegeben, wieder auf der Insel zu sein, wieder Seeluft zu atmen und die Stimmen seiner Freunde zu hören. Bereits jetzt vermisste er Mino. Er wollte an sie denken als an ein launisches Mädchen, das ihn verraten hatte, er wollte sie sich kühl, unnahbar und rechthaberisch vorstellen, den verwöhnten Sprössling der Apfelkönigin, als eine Mino, die sich für etwas Besseres hielt, nur weil sie die Erbin der Frau war, der die Gärten gehörten. Aber dieses Bild hatte keinen Bestand, nicht hier in der Enge, zwischen dem Knarren und Knarzen der Kisten und des Kahns, in der apfelduftgeschwängerten Luft, die weder zum Leben noch zum Sterben reichte. All das war Mino und war es doch nicht. Sie konnte nicht Feindin und Freundin zugleich sein, die doch immer nur seine Freundin gewesen war, trotz aller Unterschiede.

Wie wird sie mich auslachen, wenn sie mich hier finden, halb tot und verwirrt, dachte Blitz, wie werden wir beide darüber lachen... Und er würde das Geld zurücklegen, bevor El Jati und Alika gemerkt hatten, dass es fehlte. Aber wahrscheinlich hatten sie es schon gemerkt und wussten, dass er ein Dieb war. Er wollte nicht darüber nachdenken, was Alika wohl dazu gesagt hatte. El Jati geschah es recht, aber an Alika wollte Blitz lieber nicht denken.

Er konnte es hören, als das Boot anlegte. Die lauten Stimmen der Männer, das Wiehern von Pferden, die bis zum Ende der Verladung von den Fuhrwerken losgeschirrt worden waren, sogar die Schreie der Möwen erreichten ihn in der Dunkelheit und Enge seiner Kiste. Sein Lebensmut regte sich wieder. Jetzt war bald der Zeitpunkt da, auf den er gewartet hatte. Er musste aus seiner Kiste herausspringen und fliehen, bevor er auf einem Fuhrwerk landete, womöglich eingekeilt zwischen anderen schweren Kisten, aus denen er nie mit eigener Kraft herauskommen würde. Einige Tagesreisen bis zu irgendeinem Markt mitzufahren, war zwar verlockend, aber nur, wenn er die Fahrt nicht in diesem Sarg verbringen musste.

Die Arbeiter waren nun schon bis zu dem Stapel, in dem er sich befand, gekommen. Atemlos hielt er still, als sie die Kiste über ihm herabhoben, und als er dann selbst von kräftigen Händen in die Höhe gehoben und über den Steg nach draußen geschleppt wurde, sammelte er all seine Kraft. Vorsichtig schob er die Decke zurück, um zu sehen, wo er sich befand.

Das Licht blendete ihn und er hob den Kopf etwas höher. Es war zu früh, aber vielleicht wäre jeder Zeitpunkt ungünstig gewesen; hier am Hafen, wo so viele Menschen arbeiteten, war es nahezu unmöglich, nicht von irgendjemandem gesehen zu werden, wenn man aus einer Kiste kroch, in der sich Obst hätte befinden müssen.

»He, was...«

Blitz beschloss, auf der Stelle zu fliehen.

Womit er nicht gerechnet hatte, war die Erschwernis einer schnellen Flucht durch einen Körper, der stundenlang in verkrampfter Haltung in einer Kiste verbracht hatte. Seine Beine waren eingeschlafen und ihm war so schwindlig, dass er mehr aus der Kiste fiel, als dass er sprang. Sein Plan hatte so ausgesehen: Er würde aufspringen und rennen, bevor sie ihren Ärger über die leere Kiste an ihm auslassen konnten. Aber in der Realität stürzte er kopfüber nach unten, wobei er gleichzeitig versuchte, seinen Schultersack zu fassen zu kriegen, ohne den er nicht weit kommen würde, denn hier hatte er nicht nur Kleidung, eine Decke und ein wenig Proviant verstaut, sondern auch das gestohlene Geld. Als er sich dann aufrappelte und laufen wollte, wusste er nicht mehr, wo oben und unten war, taumelte gegen die Hafenarbeiter, die die nächste Kiste heranschleppten, und fand sich plötzlich im harten Griff eines sehr kräftigen Mannes wieder.

»Wo kommst du denn her, verdammt noch mal.«

Er konnte nicht sprechen, geschweige denn, dass er in der Lage war, sich zu wehren. Ihm war nur übel. Er beugte sich nach vorne und übergab sich auf die Schuhe des Arbeiters.

»Würde«, sagte Binajatja. »Das, worauf es ankommt, ist die Würde, die ein Mensch ausstrahlt und mit der man Schwierigkeiten erträgt.«

Mino nickte. Ihre Mutter hatte natürlich recht. Alles an ihr strahlte Würde aus, eine majestätische, hoheitsvolle Haltung. Ihrem Gesicht sah man nicht an, dass sie eben erst ihren ältesten Sohn an ein ungewisses Abenteuer verloren hatte. Sie ging stets aufrecht, mit festen, zielbewussten Schritten, niemals vernachlässigte sie ihre Kleidung, niemals klang ihre Stimme traurig oder gar unsicher.

»Sieh dich doch an«, sagte sie streng. »Wie siehst du aus? Was ist das da auf deinem Kopf – Heu? Du bist schmutzig, Mino, unerträglich schmutzig. Wenn wir eine Tischlerei hätten und du wärst voller Holzspäne, wäre das in Ordnung. Wären wir Fischer und du würdest nach Fisch riechen, würde dir keiner Vorwürfe machen. Aber wir handeln mit Ware, die andere Leute essen wollen. Selbst wenn du keinen einzigen Apfel berührst, wird man dich ansehen und die Nase rümpfen und sich seine Gedanken machen. Ich dulde nicht, dass du den Leuten den Appetit verdirbst.«

»Ja, Mutter.«

»Außerdem ist deine Kleidung zerrissen. Ist dir eigentlich egal, was die Leute über dich denken könnten? Du bist bald eine Frau. Zieht sich so eine anständige Frau an? Ist dir eigentlich klar, was man alles sieht?«

»Ich habe ihn gesucht«, sagte Mino leise. »Auf der ganzen Insel, überall.«

»Natürlich.« Ihre Stimme klang etwas milder. »Ich weiß doch. Aber das ist kein Grund, so auszusehen. Wenn dein Bruder noch da wäre, wäre es etwas anderes. Aber nun bist du meine Nachfolgerin. Du hast keine Zeit, um dich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Du bist es jetzt. Jetzt und immer, jeden Tag. Immer, wenn dich irgendjemand sieht, sieht er meine Nachfolgerin. Er sieht unsere Gärten in dir. Über die Hälfte der Menschen auf dieser Insel lebt von dem, was wir hier anbauen. Du kannst es dir nicht mehr erlauben, dich wie ein Kind aufzuführen.«

»Ja, Mutter.«

»Solange Lexan da war, hat es mich nicht gestört, dass du dich mit diesem Blitz getroffen hast. Obwohl sein Ruf – nun ja. Aber jetzt, wo du meine Erbin bist, ist das etwas anderes. Du bist jetzt eine junge Frau. Es gibt keine Kinderfreundschaften, Mino. Es gibt nur noch junge Männer, die um dich werben und es ernst meinen, oder solche, die es nicht ernst meinen. Blitz gehört wohl ganz klar zu Letzteren.«

»Mutter, ich...«

»Dieser Junge taugt nichts. Es wäre für uns alle besser gewesen, wenn er auf dieses Schiff gegangen und Arima verlassen hätte.«

Mino öffnete den Mund, aber sie konnte nichts sagen. Sie fühlte sich so elend, dass sie nichts von all dem sagen konnte, was ihr auf der Zunge lag.

»Also, was ist das Wichtigste? Hast du es dir gemerkt?«

»Würde«, antwortete sie leise. Es war ein Wort, das ihrem Herzen fremd war. Sie erinnerte sich an Blitz’ Gesicht, als er erkannt hatte, dass sie ihn nicht aufs Schiff lassen wollte, und fragte sich, wo er jetzt wohl war und was er tat. Sie dachte an Lexan, während er packte, an ihren Streit. Irgendwo hinter dem Horizont glitt die Weiße Möwe über die Wellen.

Wofür war sie hiergeblieben – um Würde auszustrahlen?

Es war ein Fehler, dachte sie, und der Gedanke kam über sie wie ein Schmerz, heiß und kalt zugleich. Ich müsste dort sein, bei ihnen. Mit Blitz zusammen. Wir müssten beide auf dem Schiff sein. Oh Rin, was habe ich nur getan...

»Ich weiß, was Würde ist«, sagte sie leise. »Blitz hat mich für würdig befunden, seine Freundin zu sein. Lexan hielt mich für würdig, ihn auf seiner Reise nach Rinland zu begleiten. Ich habe sie beide enttäuscht.«

»Was?«, fragte Binajatja zerstreut. Sie hörte ihr schon nicht mehr zu, während sie ihre Stiefel zuschnürte, um hinaus auf die Plantagen zu gehen. »Wir müssen überprüfen, ob die Rote Glocke schon pflückreif ist«, sagte sie. »Du solltest mitkommen. Eventuell lassen wir sie noch drei, vier Tage am Baum.«

»Ich komme nach«, versprach sie.

Aber danach stand sie lange am Fenster und starrte hinaus. Das Meer rief. Sie hätte nicht sagen können, ob sie gehofft hatte, dass es jetzt, wo ihr Bruder fort war, aufhören würde zu rufen. Aber es sang immer noch dasselbe wortlose Lied, in der Brandung hörte sie den Ruf, dem sie nicht entkommen konnte, niemals. Sie nahm die geschnitzte Möwe in die Hand und spürte die hölzernen Federn unter ihren Fingern.

Als sie mit ihm fertig waren, ließen sie ihn auf der Erde liegen. Er fühlte den Staub unter seiner Wange. Nun würde auch sein rechtes Auge zuschwellen; das andere blaue Auge hatte El Jati ihm gestern verpasst. Vorsichtig befühlte er seine Zähne mit der Zunge. Sein Mund war voller Blut, aber die Zähne waren noch alle da. Einer seiner Vorderzähne schien etwas gelockert zu sein. Inständig hoffte er, dass er wieder anwachsen würde. Ob die Nase gebrochen war, konnte er jetzt noch nicht mit Sicherheit sagen, aber seine Rippen fühlten sich an, als wären sie es. Er spürte den stechenden Schmerz mit jedem Atemzug.

Die Stimmen der Männer drangen von weitem an sein Ohr. Sie hatten ihn verprügelt und ihm sein Geld abgenommen, als Entschädigung für die leere Kiste, die sie umsonst transportiert hatten, und ihn dann am Rand liegenlassen, wo er sie nicht beim Entladen und Beladen störte. Er glaubte nicht, dass irgendjemand sich die Mühe machen würde, ihn mit aufs Schiff zu nehmen und nach Arima zurückzubringen. Er hatte jetzt kein Geld mehr, um die Rückreise zu bezahlen, und zum blinden Passagier eignete er sich in seinem jetzigen Zustand auch nicht. Das Einzige, was ihm zu tun blieb, war, jemanden zu bitten, seinen Bruder auf Arima zu benachrichtigen. El Jati würde sofort kommen und ihn holen, daran gab es keinen Zweifel. Er war sich sicher, dass El Jati sofort alles stehen und liegen lassen würde, um herzukommen und ihn nach Hause zu bringen, und diese Sicherheit beschämte ihn. So wie er aussah, würde sein Bruder sogar auf Prügel verzichten. Vielleicht würde er den Kopf schütteln, und Alika würde ihm zuflüstern, sich mit Vorwürfen zurückzuhalten. Die ersten Tage würden still sein, während er im Bett lag und sich erholte und jeder sich bemühte, alles zu vermeiden, was in einen Streit ausarten könnte. Sie würden miteinander umgehen, als könnte ein lautes Wort mehr wehtun als eine blutende Nase. Wahrscheinlich würden sie ihn nicht einmal nach dem Geld fragen. Und nach einiger Zeit würde alles so sein wie vorher.

Mühsam rappelte Blitz sich auf. Der Platz leerte sich. Die ersten Fuhrwerke waren schon abgefahren, die letzten waren mit dem Beladen fertig; die Männer holten bereits die Pferde. Niemand achtete auf ihn, während er seine verstreuten Habseligkeiten einsammelte und sie in den zerrissenen Schultersack stopfte. Sein Kopf schmerzte so, dass er es kaum fertigbrachte, sich zu bücken. Er schleifte den Beutel hinter sich her, fort vom Hafengelände, ohne zu wissen, wohin.

»He! He, du!«

Einer der Fahrer setzte den Eimer ab, aus dem sein Pferd gerade getrunken hatte. »Auch einen Schluck?«

Er stolperte auf das Wasser zu, ohne seine Füße beherrschen zu können, beugte sich darüber und trank. Bis jetzt hatte er nicht gewusst, wie durstig er war. Vorsichtig benetzte er sein Gesicht mit dem kühlen Wasser.

»Ich könnte noch jemanden gebrauchen, der mitfährt«, sagte der Mann. »Ich muss nach Laring, durch die Wälder. Bist du verletzt? Wenn du krank bist, kann ich dich natürlich nicht brauchen.«

»Ich bin nicht krank«, versicherte Blitz. Das Gesicht würde von selbst heilen. Mit blauen Flecken kannte er sich aus. Wenn er sich wenig bewegte, würde auch die geprellte Rippe wenig Probleme machen. Der Schmerz musste ausgehalten werden, und auch das ging vorbei. Es war nicht seine erste Prügelei, aber er wünschte sich, die anderen hätten auch einstecken müssen. Er hatte ihnen nicht zeigen können, was er konnte, und das ärgerte ihn mittlerweile am meisten.

»Es war unfair«, sagte er, während er auf den Kutschbock stieg. »Ich bin eigentlich ganz gut, was das Austeilen angeht.«

»Na, hoffentlich«, meinte der Mann. »Wir müssen durch Räubergebiet. Eigentlich fährt Wilm mit mir, aber er ist ausgefallen. Es ist Wahnsinn, allein zu fahren, aber ich dachte schon, mir bleibt nichts anderes übrig. Kennst du dich mit Pferden aus?«

Blitz nickte. Er hatte absolut keine Ahnung von Tieren, aber Nicken war nicht Lügen.

»Nun denn, dann wollen wir mal.« Er schwang die Peitsche und die Pferde setzten sich in Bewegung. »Ich bin Barn.«

Blitz lehnte sich vorsichtig an; jede Erschütterung verursachte ihm solche Schmerzen, dass ihm wieder übel wurde. »Ich bin Jahalik.«

»Heißt das nicht Schwarzer Blitz? Das ist doch ein Pferdename! Wenn das kein gutes Zeichen ist!« Schon jetzt war zu merken, dass Barn ein lustiger Mensch war, der gerne und ausgiebig, laut und dröhnend lachte. Blitz sagte nichts. Er schloss die geschwollenen Augen und überließ sich dem Schaukeln der Kutsche; fast konnte er glauben, dass dies die Weiße Möwe war, die ihn nach Rinland brachte.

Sie liefen am Strand entlang. Der Sand war weiß und fein, und es war eine Wohltat, ihn unter der Haut zu spüren. Scharfe Muschelschalen, kleine Krebse und angeschwemmte Quallen machten aus ihrem Wettlauf ein Hindernisrennen. Mino drehte sich um und sah, dass Blitz über das Gras lief, das fast bis zu den Wellen reichte, ein grünlicher Teppich, den jemand über die Dünen geworfen hatte. So hatten wir das nicht abgemacht, wollte sie rufen. In ihre eigenen Füße bohrten sich die Splitter einer zerbrochenen Muschel.

So nicht, sagte sie, wir wollten beide denselben Weg nehmen, durch das Wasser, wir beide... Blitz lachte.

Das Gras ist grüner, sagte er rätselhaft.

Mino fuhr hoch und sah wieder, wo sie sich befand. Nicht in ihrem Zimmer, sondern in der Baumhütte, wie jede der vergangenen Nächte. Falls ihre Mutter davon wusste, schwieg sie jedenfalls darüber. Sie würde nicht annehmen, dass Mino sich mit einem jungen Mann aus dem Dorf traf – Mädchen wie sie hatten keine solchen Freunde. Mädchen wie sie hatten nur Kinderfreunde, mit denen sie redeten und lachten und von Abenteuern träumten. Ja, es würde noch schwierig werden, einen Mann zu finden für die Erbin der Gärten...

Jeden Abend kam sie den Pfad herauf hierher, unter die Bäume, und legte sich zwischen die Decken, aus denen sie jedes Mal die Spinnen schütteln musste. Am Tag gehorchte sie ihrer Mutter, aber die Nacht gehörte ihr und den Träumen. Sie hielt die hölzerne Möwe in der Hand wie eine Waffe gegen die Schrecken der Nacht. In der Nacht stürzte das fürchterliche Bedauern über das, was sie getan hatte, sich auf sie wie ein Ungeheuer, und sie lag da und weinte und wartete, bis es verging, bis sie wieder atmen konnte. Ich müsste auf diesem Schiff sein. Oh Rin, ich müsste dabei sein, bei Lexan, mit Blitz, auf dem Weg übers Meer...

Manchmal waren die Nächte gnädig zu ihr. Manchmal schenkten ihr ihre Träume eine kurze Zeitspanne, in der sie glücklich war. Dann befand sie sich auf der Weißen Möwe und segelte mit Lexan nach Westen, der untergehenden Sonne nach. Bajad lächelte und hielt ihre Hand, ihre kleine, warme Hand, mit der sie, wie er einmal bemerkt hatte, so erstaunlich kräftig und geschickt zupacken konnte. Sie warf ihr weißes Haar zurück, auf dem der Glanz der Sterne lag. Bajad sang eins seiner traurigen Seemannslieder, die Augen voller Tränen der Rührung über seinen eigenen Gesang. Lexan schwieg, aber auf seinem Gesicht lag ein Glühen der Erwartung, und er blickte nach vorne, dem Horizont entgegen. Immer, wenn Mino von der Weißen Möwe träumte, blickte Lexan nach vorne, niemals zurück.

Manchmal, wie heute, träumte sie von Blitz. Sie hätte ihn gerne auf seiner Reise wohin auch immer begleitet, aber in ihren Träumen kehrte sie nur in ihre gemeinsame Kindheit zurück. Nicht einmal im Traum gelang es ihr, Blitz zu begleiten.

Und der Schrecken kehrte zu ihr zurück. Ich habe ihn vertrieben... Wir müssten beide auf dem Schiff sein, aber ich habe ihn vertrieben und nun werden die Glücklichen Inseln nie mehr glücklich sein... Ich werde nie wieder glücklich sein...

Es war unfassbar, dass sie dazu fähig gewesen war, Blitz so etwas anzutun. Unfassbar und unentschuldbar, und, das war das Schlimmste, sie konnte es nicht mehr rückgängig machen. Sie konnte ihn ja nicht einmal um Verzeihung bitten. Sie hatte ihn zwingen wollen, auf der Insel zu bleiben, bei ihr, und stattdessen hatte sie ihn für immer verloren.

Als sie von dem Vorfall im Hafen gehört hatte – Binajatja hatte ihr beim Essen davon erzählt, ihre Stimme voller Missbilligung –, hatte Mino natürlich gleich gewusst, dass es Blitz gewesen war, dieser blinde Passagier, den die Männer zusammengeschlagen hatten. Hoffnung und zugleich Bedauern brannten in ihr auf. Sie sprang auf, ohne auf ihre Mutter zu achten – »Mino, bleib hier! Mino, du kannst jetzt nicht...« –, und war zu El Jati und Alika gerannt.

»Habt ihr es gehört? Wisst ihr es schon? Er ist in Drian gelandet! Blitz ist in Drian!«

Alika wurde bleich, aber El Jatis Augen leuchteten auf. »Dann wird er nach Hause kommen. Er ist bald wieder da, hörst du, Alika?«

Aber Blitz war nicht nach Hause gekommen. El Jati war mit der nächsten Fähre nach Drian gefahren und hatte die Gegend einige Tage lang nach ihm abgesucht. Müde und resigniert kehrte er schließlich zurück.

»Ich habe ihn nicht gefunden«, sagte er zu Mino, die aufgeregt vor seiner Tür stand, wissbegierig und hoffnungsvoll. »Möchtest du reinkommen?«

Dann saß sie an dem großen Holztisch, ein Tisch für eine Familie, und nippte an dem Apfelmost, den Alika ihr einschenkte.

»Blitz hat Wein getrunken«, sagte sie das Erste, was ihr einfiel. »An dem Tag, an dem er Lexan begleiten wollte. Weißwein aus Neiara. Den mit dem Pfirsichgeschmack.«

»Ich weiß«, sagte Alika. »Ich habe die Gläser später weggeräumt.«

»Er wird doch zurückkommen, oder?«, fragte El Jati. Er blickte die beiden Frauen an. »Er kommt doch zurück?«

»In Salien«, erzählte Alika, »du weißt, Mino, dort, wo ich herkomme, gibt es eine Geschichte von einem Jungen, der sein Zuhause verließ. Er wusste selbst nicht, was er suchte – Abenteuer, Freiheit? Aber was er fand, war Armut und Einsamkeit. Er kam zurück und sein Vater veranstaltete ein Fest für ihn.«

»Aber Blitz wird nicht zurückkommen«, flüsterte El Jati. »Nicht rechtzeitig.«

»Das kannst du nicht wissen.« Alika legte ihrem Mann die Hand auf die Schulter. »Er weiß, dass er hier immer willkommen ist.«

»Ich hätte ihn nicht schlagen dürfen«, murmelte er. »Ich selbst habe ihn vertrieben.«

»Du hast ihm das Leben gerettet.«

»Und?«, fuhr El Jati auf. »Was nützt das? Ein Leben, das er nicht will. Er will das Leben nicht, das wir für ihn ausgesucht haben. Weißt du, warum wir hergekommen sind, hierher nach Arima? Warum wir hier in den Gärten leben wollten? Ich habe dir nie meine Geschichte erzählt, Mino.« Er fuhr sich durch die schwarzen Locken. So ähnlich sah er seinem jüngeren Bruder, wie sein anderes Ich, zehn Jahre älter, aber er hatte das gleiche Gesicht, die gleiche Statur, sogar ihr Gang war so ähnlich, dass selbst Alika die beiden von hinten nicht unterscheiden konnte. »Wir hatten ein Gasthaus in Drian. Dort hätte es Blitz gefallen, nicht? So viele Reisende, die ein und aus gingen, die unterschiedlichsten Menschen, die von fremden Orten erzählen konnten... Unsere Mutter hatte dieses Gasthaus an der Küste und unser Vater war auf See. Du weißt selbst, wie das ist, Mino. Er war ständig fort und sie war nicht glücklich. Aber wenigstens war dein Vater ein angesehener Mann hier auf den Inseln. Unser Vater war – unzuverlässig. Er kam zu uns und brachte uns Geschenke und war schon wieder weg. Was hat sie geweint! Ich weiß noch genau, wie sie geweint hat... Sie hat mich beschworen, niemals Seemann zu werden. Als ich ein Kind war, sogar als Heranwachsender, habe ich immer erwartet, dieses Gasthaus eines Tages zu übernehmen... Aber dann kamen die Räuber ins Land und die Reisenden wurden immer weniger. Immer weniger Menschen wagten sich durch die Wälder und kamen an unsere Küste. Und schließlich kamen die Räuber selber zu uns...«

El Jati schwieg eine Weile, seine Finger trommelten auf die Tischplatte. »Meine Mutter wollte nicht dort fort. Immer hat sie auf meinen Vater gewartet, auf seine seltenen Besuche.«

»Es ist klar, wer für sie Ahinehl war«, warf Alika leise ein, ohne El Jati anzusehen.

»Sie war so krank, sie konnte nicht mehr, das Gasthaus zerfiel. Ich war vierzehn, als ich das Schicksal unserer Familie in die Hand nahm. Ich wollte Sicherheit und Frieden, und nach dem, was mir von den Erzählungen der Reisenden im Gedächtnis geblieben war, glaubte ich das hier zu finden, auf den Glücklichen Inseln. Also kamen wir hierher. Kannst du dich noch an meine Mutter erinnern? Sie lebte nicht mehr lange. Sie hatte sich aufgegeben. Aber ich war trotzdem glücklich hier. Ich hatte es geschafft, meinen Bruder zu retten. Hier, dachte ich, in Sicherheit, in Frieden, konnte er aufwachsen, ohne befürchten zu müssen, dass wir überfallen werden, ohne die Angst, dass es knapp wird, wenn die Gäste ausbleiben... Ich habe geglaubt, ich könnte wenigstens ihn retten aus dieser Familie, die auseinanderbrach. Wie es scheint, habe ich mich getäuscht.«

El Jati blickte in sein Glas, in dem der Saft golden glänzte. »Er wollte lieber in die Fußstapfen seines Vaters treten. Wein und Mädchen, kommen und gehen, wann es ihm passt. War ich zu streng? Aber er durfte doch nicht werden wie unser Vater. Er hat ihr das Herz gebrochen...«

Mino fühlte, dass es an der Zeit war, zu gehen. Aber zugleich wusste sie, dass es nun an ihr war, etwas zu unternehmen. »Ich werde ihn suchen«, versprach sie. »Ich bringe ihn zurück, versprochen.«

El Jati nickte, aber er schaute durch sie hindurch.

Mino wusste, dass er es am liebsten selbst getan hätte, aber Binajatja hatte unmissverständlich angekündigt, dass sie El Jati entlassen würde, wenn er nicht wieder regelmäßig und zuverlässig seine Arbeit tat. Als verheirateter Mann musste er auch an seine Frau denken, aber Mino selbst war jung und frei, sie konnte sich ein Pferd kaufen und würde sicher bald eine Spur von Blitz finden.

Als sie das kleine Haus ihrer Freunde verließ, hörte sie Alika sagen: »Glaubst du nicht, dass Rin ihn bewahren wird, wie er uns bisher immer bewahrt hat?«

Aber Mino hörte nicht mehr, was El Jati darauf antwortete. Das Wichtigste war jetzt, ihre Mutter von ihrem Entschluss zu unterrichten.

Doch Binajatja schüttelte den Kopf. »Wie denkst du dir das? Du willst ganz allein ins Kaiserreich? Ein sechzehnjähriges Mädchen? Wo hast du nur deinen Verstand? Außerdem habe ich gerade erst angefangen, dir alles zu zeigen, was du wissen musst. Du hattest den Sommer, um zu tun, was du wolltest. Jetzt ist es an der Zeit, Verantwortung zu zeigen und Pflichten zu übernehmen. El Jati muss sich um seine kleine Familie kümmern, aber du bist zuständig für eine ganze Insel. Du kannst nicht fort.«

Mino konnte das Rauschen des Waldes hören. Sturm zog auf. Wir hätten die Äpfel doch pflücken sollen, dachte sie. Sie lag eingekuschelt zwischen den Decken, die Holzmöwe in der Hand, und horchte auf den Wind. Hier drinnen fühlte sie sich sicher. Die Blätter würden den Regen abhalten, das war bisher immer so gewesen. Doch während sie noch darüber nachdachte, dass es besser war, hier zu bleiben und abzuwarten, statt auf dem Weg nach Hause durchnässt zu werden, spürte sie die ersten kalten Tropfen durch die Bretterritzen des grob zusammengenagelten Daches fallen.

Sie steckte die Figur in ihre Tasche und setzte sich auf. Der Baum ächzte, während der Sturm an ihm rüttelte. Immer war er Mino stark und unverwüstlich vorgekommen, ein mächtiger Schutz für ihre kleine, zerbrechliche Hütte, doch jetzt kamen ihr Zweifel. Alles knarrte und krachte, während draußen immer heftiger der Wind jaulte – nein, kein Wind, ein Orkan.

Lexan. Als Mino ihr Bruder einfiel, wurde ihr heiß und kalt. Wie weit draußen waren sie wohl schon? Es hatte kaum Wind gegeben in den vergangenen Tagen. Wenn sie von diesem Sturm getroffen wurde, hatte die Weiße Möwe keine Chance.

In der Hütte war es stockfinster und doch sah Mino plötzlich die Wand auf sich zukommen. Ohne nachzudenken, stieß sie die Tür auf und warf sich nach draußen.

Sie fühlte sich, als wäre sie ins Meer gesprungen. Mit einem Schlag war sie bis auf die Haut nass. Einer der überhängenden Äste peitschte sie von hinten zu Boden, sie rappelte sich auf, aber ein anderer kam ihr bereits entgegen wie eine wilde fliegende Schlange. Mino duckte sich und wurde doch wieder zu Boden geschleudert. Sie war jetzt hellwach und begriff, dass nicht nur ihr Bruder in Gefahr war, sondern auch sie selbst. Wenn ein umstürzender Baum sie traf, war das das Ende.

Geduckt rannte sie los. Die Baumstämme waren überall, sie taumelte dagegen, stürzte, stand auf und wurde vom Sturm ein paar Meter weiter getrieben, bevor sie erneut fiel. Es war so finster, dass sie nicht die Hand vor Augen sehen konnte. Wenn ein Blitz die Dunkelheit für einen kurzen Moment erhellte, sah sie nichts außer den Bäumen, die direkt vor ihr waren; dahinter war nichts als eine undurchdringliche Wand aus Regen und Schwärze.

Mino hätte nicht sagen können, wie viele Stunden sie gegen den Sturm ankämpfte, um ein Zuhause zu erreichen, das etwa eine Viertelstunde weit entfernt lag. Sie war mittlerweile so müde, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie hatte völlig die Orientierung verloren. Jeden Moment musste der nächste Blitz das Dorf enthüllen, das Sicherheit und Geborgenheit verhieß, und tat es doch nicht: nur einen Baum nach dem anderen, schwarze Schatten im blendenden Licht. Irgendwo im Gestrüpp verlor sie ihre Schuhe. Ein herabkrachender Ast streifte ihre Schulter. Und dann waren auf einmal keine Bäume mehr da. Sie kroch über das Gras, blinzelnd, und wartete darauf, den Lichtschein im Fenster zu sehen. Bestimmt hatte Binajatja die Lampe angezündet, damit sie nach Hause fand, bestimmt hatte der Sturm auch die Mutter geweckt und nun wartete sie auf ihre ungehorsame Tochter mit heißem Tee und einer warmen Decke. Gleich würde Mino ihr Gesicht am Fenster erblicken, neben der Lampe, während sie Ausschau hielt...

Heiße Tränen liefen über ihr Gesicht, während sie sich durch den Sturm kämpfte. Lexan... Blitz... Was nützte es, es nach Hause zu schaffen, in die Wärme und die Sicherheit, in den Schrecken, der zu ihr kommen würde, sobald sie sicher und trocken in einem Sessel saß... Er kam immer, der Schrecken, dieses fürchterliche Gefühl. Das Schiff ist fort... Blitz ist weg... Und ich bin hier. Warum habe ich das getan? Warum bin ich hier, warum? Es war mein Schicksal, dem Ruf des Meeres zu folgen, aber ich bin hier. Ich bin immer noch hier... Und ich will nicht hier sein. Ich will nicht dieses Mädchen sein, das aufs Meer hinausblickt und das Schiff nicht mehr sieht... Ich will nicht dieses Mädchen sein, das sich mit seinem Bruder gestritten hat, statt ihn bis ans Ende der Welt zu begleiten. Ich will nicht die Mino sein, die Blitz festgehalten hat, als er gehen wollte. Ich will nicht mehr ich sein, ich will es nicht mehr!

Mino nahm den Sturm, der über sie herfiel, wie eine Strafe hin. Sie hielt den Kopf gesenkt, während sie über das Gras kroch, doch als in rascher Folge mehrere Blitze aufleuchteten, sah sie hoch und öffnete die schmerzenden Augen.

Vor ihr lag das Meer, sturmgepeitscht, Wellen, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Sie war oben am Steilhang und vor ihr lag die wütende See, zerfurcht von der Wut des Orkans. Sie hatte sich nicht nur verirrt, sondern ausgerechnet die Stelle erreicht, an der sie den Elementen völlig schutzlos ausgeliefert war. Dies war der Ort, den Blitz so geliebt hatte, aber jedes Mal, wenn Mino hier gestanden hatte, hier am Abgrund, hatte sie ein Schaudern erfasst, als sie in die Tiefe hinabblickte, wo die Wellen sich am Felsen brachen.

Mino presste ihre Hände an die Ohren, um sie vor dem Lärm zu schützen, den Wind und Wasser gemeinsam veranstalteten. Dies war nicht mehr das Lied, das Lexan in die Ferne gelockt hatte, nicht der Ruf, der auch an ihr gezerrt hatte, sondern die Entfesselung von Gewalten, in denen ihre menschlichen Gefühle untergingen. Alles ging unter – ihre Sehnsüchte und Schuldgefühle, ihre Träume und Hoffnungen, als der Sturm sie erfasste und mit aller Macht vorwärtstrieb. Sie richtete sich auf, um ihm die Stirn zu bieten, doch das war das Schlimmste, was sie hatte tun können. Triumphierend warf sich der Orkan über sie und schleuderte sie über den Rand der Steilklippe ins Meer.

Binajatja raffte die Röcke, während sie über die umgestürzten Bäume stieg. Aber sie hatte keinen Blick für die Zerstörung, die der Sturm in den Gärten angerichtet hatte. Am Waldrand lagen Äste und ganze Baumstämme übereinander; sie ergriff El Jatis Hand, als er sie zu einem riesigen entwurzelten Baum führte, zwischen dessen Zweigen zersplitterte Bretter lagen.

»Hier war ihre Hütte«, sagte er.

»Und du meinst, dass Mino hier geschlafen hat?« Sie hatte gewusst, dass ihre Tochter die Nächte außer Haus verbrachte, aber sie hatte angenommen, dass sie zu Jati und Alika gegangen war. Nun bereute sie, dass sie Mino nie danach gefragt hatte. »Hier, in diesem Bretterverschlag?«

»Mino hat keinen Freund«, sagte El Jati verlegen. »Ich meine, sie hat schon Freunde, aber da ist niemand, der in sie verliebt ist. Die einzigen Jungen, mit denen sie zu tun hat, sind Bajad und Blitz. Ich glaube, Bajad hat Gefühle für sie, aber Mino hat leider nur Augen für Blitz gehabt.«

»Aber Blitz nicht für sie«, murmelte Binajatja, »jedenfalls nicht so, wie sie sich das gewünscht hat. Das weiß ich doch. Aber – aber sie ist nicht hier.«

»Nein«, bestätigte El Jati. »Sie ist rechtzeitig hier herausgekommen, so viel steht fest.«

»Woher weißt du von dieser Hütte?«, fragte sie und schaute ihn an, als könnte sie ihn dadurch zwingen, etwas preiszugeben, was ihr weiterhalf. »Woher willst du wissen, dass sie Mino und Blitz gehörte? Und dass sie nicht doch ein Pärchen gewesen sind?«

»Ich bin Blitz einige Male hierher gefolgt«, gab er zu. »Denk darüber, was du willst, aber ich wollte wissen, wo er sich herumtrieb.«

Binajatja schwieg dazu.

El Jati wischte sich den Schweiß von der Stirn. Schon seit Stunden durchkämmten er und die anderen Arbeiter den Wald; eine nicht ungefährliche Aufgabe, denn immer noch stürzten Bäume um und fielen Äste herunter. Binajatja hatte sie nicht darum gebeten, aber sobald bekannt wurde, dass Mino in dieser Nacht nicht nach Hause gekommen war, hatten sie sich alle auf die Suche gemacht.

Alika kletterte über die Stämme und kam auf Binajatja zu, in der Hand trug sie etwas.

»Ich war bei Liravahs Haus«, sagte sie. »Ich hatte die Hoffnung, dass Mino sich vielleicht dorthin gerettet hat.« Das Haus, in dem Jußaits alte Großmutter lebte, die ehemalige Lehrerin der Kinder, lag mitten im Wald. Mehrere umgestürzte Bäume hatten ihren Gartenzaun beschädigt und ein großer Ast war auf das Dach gefallen und hatte das halbe Haus zum Einstürzen gebracht, aber der alten Dame war nichts passiert.

»Und?«, fragte Binajatja begierig. »War sie dort?«

»Leider nicht.« Alika schüttelte den Kopf. »Aber ich habe das hier gefunden.«

»Das ist ihr Schuh«, rief Binajatja aus. Sie riss Alika den drecküberkrusteten Schuh aus der Hand. »Wo hast du ihn gefunden?«

»Am Waldrand. Binajatja, hör mir zu. Das heißt noch gar nichts. Es muss nicht bedeuten, dass ...«

»Wo?«, unterbrach Minos Mutter sie, diese sonst so schöne, gefasste Frau mit dem strengen blonden Zopf, die heute völlig aufgelöst durch den Schlamm watete. Sie hielt den Schuh, als wäre er ein Schatz. »Wo am Waldrand?«

»Am Steilhang.«

Binajatja starrte Minos Schuh an, als könnte dieser ihr Antwort auf alle Fragen geben. »Das kann nicht sein«, sagte sie schließlich. »Bei diesem Sturm wäre sie niemals dort hingegangen. Sie ist nicht dumm. Sie ist verantwortungsbewusst und gehorsam, sie würde nie ... Du musst dich irren, Alika. Vielleicht hat Mino ihren Schuh dort verloren und ist wieder zurück in den Wald gegangen. Wir werden sie hier im Wald finden. Vielleicht ist sie eingeschlafen ...«

»Ja, vielleicht«, sagte Alika leise.

Sie wechselte einen traurigen Blick mit El Jati.

»Es war sehr dunkel«, sagte er vorsichtig.

»Na und?«, rief Binajatja. »Mino würde sich auf der Insel auch im Dunkeln zurechtfinden. Sie kennt Arima wie unser eigenes Haus, sie kann sich nicht verirren. Das ist einfach unmöglich. Wir müssen weitersuchen. Bestimmt wurde sie von einem schweren Ast eingeklemmt und wartet auf Hilfe. Vielleicht ... vielleicht schläft sie auch nur und weiß nichts davon, dass wir sie suchen. Sie schläft und wird sich wundern, dass wir uns Sorgen gemacht haben. Vielleicht ist sie auch schon zu Hause. Ich muss nachsehen, ob sie inzwischen angekommen ist!«

Sie drehte sich um, immer noch den Schuh in der Hand, kletterte hastig über den Baum, stürzte, rappelte sich auf und rannte mit wehendem Rock zurück zum Dorf.

»Hast du nicht gesagt, Rin würde uns alle bewahren?«, fragte El Jati leise. »Glaubst du das immer noch, Alika?« In seiner Stimme war nichts Bitteres, Anklagendes, nur eine unendliche Traurigkeit.

»Eines Tages müssen wir alle über die Brücke gehen«, sagte sie. Sie bückte sich und zog eine bunte Decke zwischen Blättern und Zweigen hervor.

»Es ist noch zu früh«, wandte er ein, heiser, fast stimmlos, während er zusah, wie Alika die Decke in ihrem Arm hielt, zärtlich, als wäre sie ein Kind.

Sie blinzelte den Schleier vor ihren Augen fort. »Es heißt, junge Menschen gingen leichter über die Brücke als ältere. Vielleicht ist es schlimmer, nach einem langen Leben ins Meer der Tränen zu stürzen, als in diesem Meer hier zu ertrinken und den Weg über die Brücke zu finden.«

»Glaubst du das wirklich?«

Sie faltete die Decke und legte sie sorgfältig über den Stamm, als wäre es der Baum, den sie zudeckte, dieser alte, sturmerprobte Baum, der dieses eine Mal nicht standgehalten hatte.

»Komm«, sagte El Jati. Er fragte nicht noch einmal, er sagte nur: »Komm«, und nahm sie bei der Hand und ging mit ihr nach Hause. Bevor sie durch die Tür trat, blieb Alika stehen und schaute auf ihren Garten, in dem gestern noch ein Meer von Blumen geblüht hatte, und in dem heute nur noch abgerissene Stängel in die Höhe ragten und geknickte Blütenköpfe schlaff nach unten hingen, schlammbespritzt.

»Als du mich aus Salien mitgenommen hast, als ich mit dir hierher kam«, sagte sie, »dachte ich, dass von allen Orten dieser Erde die Glücklichen Inseln Rinland am ähnlichsten sind. Ich sah die Gärten und dachte, hier müsste das Glück wohnen. Ich habe mich geirrt.«

Die weiße Möwe

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