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4. Möwe

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D E RW A N D E R E RH I E L Tauf ein kleines Fischerdorf zu. Er war müde und hungrig und hoffte auf einen Krug kühles Bier, auf gebratenen Fisch und frisches Brot. Danach wäre ein Platz im Schatten schön gewesen, wo er sitzen und auf das Meer hinaussehen konnte. Immer wieder trieb es ihn an die Küste, auch wenn alle seine Verpflichtungen ihn ins Landesinnere riefen. Aber das Meer hatte eine eigene Stimme, und wenn er ihr lauschte, hörte er den Ruf. Immer wieder kam er hierher, in eins der unzähligen Dörfer. Er hätte selbst nicht sagen können, ob er sich damit quälte oder belohnte.

Ein Dorfbewohner, ein junger Fischer in abgerissener Kleidung, gebräunt von der Sonne, staunte über die außergewöhnliche Körpergröße und die starkgebaute Gestalt des Besuchers.

»Kommst du in friedlicher Absicht?«, fragte er vorsichtig, denn obwohl der Fremde lächelte, war die Schärfe seiner blauen Augen und die kühne Entschlossenheit seiner Züge nicht zu übersehen. Selbst hier hatte man von den Räuberbanden gehört, die ganze Landstriche unsicher machten.

»Ich schlage keine Wunden, sondern heile sie«, antwortete der Wanderer.

»Dann bist du ein Heilkundiger?«, rief der Fischer erfreut. »Dich hat uns Rin gesandt. Komm schnell mit!«

Er führte den Heiler in eine der Hütten, wo mehrere Menschen versammelt waren. »Ich habe hier einen Arzt!«

»Sei willkommen«, sagte eine der Frauen, ohne aufzublicken. Sie beugte sich über jemanden, der auf einem schmalen Bett lag. »Aber ich fürchte, du kommst umsonst.«

Der Fremde trat näher und erblickte auf dem Bett die Gestalt eines halbwüchsigen Mädchens, Kopf und Hände verbunden. Das Gesicht war bleich und schien mehr einer Toten als einer Lebenden zu gehören. Das Mädchen atmete noch, schwach und fast unmerklich.

»Was ist ihr zugestoßen?«, fragte der Heiler.

»Wir wissen es nicht. Wir haben sie am Strand gefunden, sie gehört nicht zu uns.«

»Ihr habt sie einfach am Strand gefunden?«

»Nach dem Orkan, der hier vor drei Wochen getobt hat. So lange ist sie schon bei uns. Sie stirbt nicht, aber sie wacht auch nicht auf.«

»Wer hat die Verbände angelegt?«

»Ich«, sagte die Frau, die ihn begrüßt hatte.

»Du kannst hierbleiben«, sagte er, »aber die anderen muss ich bitten, uns allein zu lassen.«

Sobald die Anwesenden die Hütte verlassen hatten, machte er sich daran, die Binden vorsichtig zu entfernen. Der magere Körper des Mädchens war mit Schnittwunden und Prellungen übersät, und er konnte sich vorstellen, wie sie vor drei Wochen ausgesehen hatte. Dabei heilten alle diese kleinen Wunden gut; selbst ihre Kopfverletzung, sorgfältig genäht, sah fast verheilt aus. Versteckt unter dem weißblonden Haar, würde bald nichts mehr davon zu sehen sein.

»Du hast gute Arbeit geleistet«, sagte er anerkennend.

Die Frau quittierte das Lob mit einem Lächeln. »Aber sie wacht nicht auf. Sie wird irgendwo schwer aufgeschlagen sein, aber sie hätte längst wieder erwachen müssen. Manchmal denke ich, sie müsste nur eine vertraute Stimme hören und sie würde die Augen aufschlagen und reden. Solche Fälle hat es schon gegeben. Aber wir wissen ja nicht einmal ihren Namen. Wir vermuten, dass sie auf einem Schiff war, das im Sturm untergegangen ist. Woher sie kommen mag? Wir wissen es nicht.«

Der Mann nahm die Hand des Mädchens in die seine, streichelte die langen, schlanken Finger. Es war eine schöne, wohlgeformte Hand, aber sehr blass.

»Ein Albino«, sagte er leise. »Ein ungewöhnlicher Schiffspassagier. Fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Wer wohl nach ihr sucht?«

»Vielleicht niemand«, meinte die Frau. »In dieser Nacht sind viele Schiffe untergegangen. Wir haben auch viele Wrackteile gefunden.« Sie sah den Fremden an. »Das Einzige, was sie außer ihrer Kleidung bei sich hatte, ist diese Holzmöwe hier.« Sie zeigte ihm eine kleine hölzerne Figur, einen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen. »Können wir nichts für sie tun? Alles, was ich vermag, habe ich getan. Aber du siehst aus, als kämest du von weither. Gibt es nicht irgendwo ein Mittel, um jemanden aus einer solchen Bewusstlosigkeit zu wecken?«

Der Fremde sah auf seine eigenen Hände, in denen die Hand des Mädchens winzig wirkte: große, starke Hände, mit denen er Lanzen und Schwerter geschwungen und zerbrochen hatte, Pferde gebändigt und Menschen niedergerungen, Menschen und Krankheiten. Er wusste, was das bedeutete, und er konnte heute noch das Glück in sich finden, das er empfunden hatte, als die alte Frau gesagt hatte: Nehmt ihn auf, Schwestern und Brüder, nehmt ihn auf und lehrt ihn alle unsere Geheimnisse – er hat heilende Hände. Sie hatte sich vor ihm verbeugt, während ihre Sippe verwirrt danebenstand. Und er hatte gewusst, dass sie seine Herkunft ohne sein Zutun herausgefunden hatte, dass sie in ihm den Erben erkannte, und hatte gestaunt. Heilende Hände. Er hatte gewusst, dass die Gabe des Heilens mit dem Segen verbunden war, aber er hatte nicht wirklich daran geglaubt. Gelernt hatte er schnell, das Wissen des Ziehenden Volkes und das Wissen der Wanderärzte und der Dorfärzte, und er hatte es mit dem verbunden, was er vom Leibarzt seines Vaters in Erinnerung hatte. Wenn man ihn nach seinem Namen fragte, sagte er: Nennt mich »Kan-solin-remanaine«, was bedeutete: der Mann, der seinen eigenen Weg geht.

Wenige waren unter seinen Händen gestorben, und um diese hatte er meistens nicht gekämpft, da er fühlte, dass er sie auf ihrem Weg nach Rinland nicht zurückhalten durfte. Sein Ruf war ihm bald vorausgeeilt, und selbst Könige hatten sich darum bemüht, ihn an ihren Hof zu holen. Der große Wanderarzt Remanaine! Und er hatte darüber gelächelt und war weitergezogen. Wenn es ihn nach Gold und Edelsteinen, nach edlen Pferden, erlesenen Genüssen und dem angenehmen Leben in einem Palast verlangt hätte, hätte er zu Hause bleiben können.

Seine Hände. Es lag nicht in ihrer Macht, Leben zu geben, aber sie hatten vielen, die schon vom Tode gezeichnet waren, Heilung geschenkt. Und dieses Mädchen, dem Tode verfallen, das seine eigene Tochter hätte sein können – ihr konnte er nicht helfen, obwohl er andere gesehen hatte, die schlimmer verwundet gewesen waren und doch dem Leben gehörten? Warum war er so machtlos?

Das Mädchen stand am Ufer und blickte hinaus aufs Meer. Sie konnte die Brücke sehen, die auf dem Sand ruhte und sich sanft geschwungen über das Wasser erhob. Sie reichte bis zum Horizont, eine schmale Brücke, nur ein Steg. Sie war nicht golden. Das Mädchen starrte sie an und fragte sich, warum sie damit gerechnet hatte, dass die Brücke aus Gold sein würde. Sie war aus Holz, aus rauen Bohlen, und besaß kein Geländer.

Das Meer war glatt und blau und spülte bis an ihre Füße. Der warme Sand, weich unter ihren Fußsohlen, war fein und sauber. Keine einzige Muschelschale, keine einzige tote Qualle war zu sehen, keine Krabbenbeine. Als ihr das auffiel, wurde ihr auch zum ersten Mal bewusst, wie still es hier war. Sie konnte die Möwen nicht hören. Nur das Wasser, das sacht gegen ihre Zehen schwappte, murmelte leise, dieses altvertraute Lied. Das Meer rief.

Vorsichtig näherte sie sich der Brücke. Sie streckte die Hand aus und berührte das Holz. Es war warm von der Sonne, und hier, wo die Wellen dagegenschlugen, leicht aufgequollen.

Sie konnte jetzt hinübergehen. Ihr Fuß hob sich bereits, aber dann zögerte sie doch. Hatte da jemand gerufen?

Blitz?, fragte sie vorsichtig. Bist du das, Blitz?

Das Mädchen drehte sich um. Hinter ihr lagen die Dünen, bewachsen von Strandhafer und Gras. Niemand war hier, nur sie und die Brücke.

Blitz?, fragte sie noch einmal.

Remanaine vergaß die Frau, Zeit und Ort, Müdigkeit und Hunger. Er sah das weiße Gesicht des Kindes, das schon eine seltsame, schimmernde Durchsichtigkeit besaß.

»Bleib«, flüsterte er und hielt mit seiner Linken die bleiche Hand fest, während er seine Rechte auf die Stirn des Mädchens legte.

»Da hilft nur noch beten«, sagte die Frau.

»Du hast recht«, rief er, und er begann zu beten, wie er noch nie gebetet hatte. »Rin! Bei Rinland und den Tränen, schenk mir heilende Hände! Bei der Liebe und Rinland jenseits des Meeres, vertreib die düsteren Schatten des Todes und lass dieses Kind leben!«

Er ergriff beide Hände der Schlafenden. »Wie nennt ihr sie?«

»Möwe«, antwortete die Frau. »Wegen ihrer Holzmöwe.«

Er sah das weiße Mädchen an und nickte. »Möwe. Hörst du mich, Möwe?«

»Bring mir Wasser«, sagte er dann zu der Frau. »Meerwasser. Ich will sie segnen.«

»Das darfst du nicht«, wandte sie ein. »Du bist kein Priester.«

»Doch, das bin ich«, widersprach er, und es stimmte: Obwohl er nie in Salien gewesen war und nie in einem Kloster gedient hatte, gab ihm der Segen seines Vaters das Recht, all das zu tun, was nur ein Priester tun durfte. Der Herr des Landes war immer zugleich auch ein Priester.

»Wer dich auch dem Tod bestimmt hat, er soll schweigen für immer! Komm zurück, Mädchen, komm zurück! Es ist noch zu früh für dich! Möwe!«

Die Frau reichte ihm eine Schale, die sie in die Wellen am Strand getaucht hatte.

Remanaine besprengte das Gesicht des jungen Mädchens mit dem salzigen Wasser.

»Tränen«, sagte er leise. »Rins Tränen. Geh noch nicht nach Rinland, meine Tochter, noch nicht.«

Er fühlte die Vollmacht in seinen Händen, unbegrenzte Macht, zu rufen und fortzusenden, zu heilen und Frieden zu geben. Kraft strömte von ihnen aus, und er verspürte die Gegenwart Rins, spürte ihn bei sich und in sich und im ganzen Zimmer, Wärme und Heilung und die Verheißung eines Glücks, das den Verstand und alle Vorstellungskraft übersteigt – die Erfüllung der Sehnsucht.

Sie hatte sich in den Sand gesetzt und streckte die Beine aus, so dass ihre Füße in die Wellen tauchten. Mit einer trägen, verträumten Bewegung ließ sie den weißen Sand durch ihre Finger rieseln. Die Brücke neben ihr begann zu verblassen.

Zuerst dachte sie an eine Sinnestäuschung, aber es half nicht, zu blinzeln und sich die Augen zu reiben. Das Mädchen sprang auf und eilte zu der ersten Stufe, von der aus sich die Brücke höher wölbte. Sie legte die Hand auf das unterste Brett. Es war fest und wirklich, und doch, wenn sie aufsah, schien die Brücke sich am Horizont aufzulösen. Sie musste sich beeilen. Es gab nichts, was so sicher war wie das. Das Mädchen hob seinen Fuß und setzte ihn auf die erste der zahllosen Bohlen. Sie fühlte sich fest und sicher an. Obwohl die Brücke kaum breiter war als ihre Schultern und so unendlich weit hinausragte, schwankte und schaukelte sie nicht. Aber immer noch zögerte das Mädchen, einen Fuß auf der Brücke, den anderen noch im Sand.

Wer hat da gerufen?, fragte sie und drehte sich wieder um. Blitz? Warst du das? Wo bist du?

Da war es wieder, von irgendwoher, eine Stimme. Das Mädchen konnte nicht verstehen, was sie sagte.

Das Mädchen bewegte sich nicht und lauschte. Die Brücke unter ihrer Fußsohle fühlte sich gut an, gut und richtig. Und doch war da dieser andere Ruf.

Sie schüttelte den Kopf und seufzte. Sie würde keine Ruhe haben, bevor sie nicht nachgesehen hatte, ob es wirklich Blitz war, der sie gerufen hatte. Das Mädchen wandte sich zu den Dünen um und ging durch den Sand darauf zu.

Remanaine beugte sich über Möwe. »Sie ist wach«, sagte er leise zu der Frau. Sein Herz machte einen Sprung. »Kannst du mich hören? Du bist hier. Du bist in Sicherheit und am Leben.«

Die Verletzte hatte die Augen aufgeschlagen. Mit ihren ungewöhnlich blassen Albino-Augen sah sie sich verwirrt um.

»Ist Blitz da?«

»Der Sturm ist vorüber«, sagte die Frau freundlich und unterdrückte den Jubel in ihrer Stimme. »Du bist in Sicherheit.«

»Kannst du uns sagen, wie du heißt?«, fragte der Mann.

Sie versuchte, sich zu erinnern, aber das einzige Bild, das sie vor sich sah, war die Brücke. Das Mädchen saß am Strand und sah die Brücke, und während sie schaute, verblasste sie schon und mit ihr alles andere. Die Wellen und die Stille und der weiße Sand sanken zurück, und das Mädchen fand sich auf einem fremden Bett in einer fremden Hütte wieder. Der Mann, der sich zu ihr beugte, war sehr groß und blond. Das Mädchen schwieg, verwirrt.

Die Erwachsenen sahen sich an. »Wir müssen ihr Zeit lassen.« Die Frau sprach, als wäre sie nicht da, aber der Mann nickte ihr mit wachen Augen zu. »Es wird alles gut«, versprach er, und obwohl ihr dieser Mann fremd war, so wie alles hier, glaubte sie ihm jedes Wort.

»Nun will ich euch nicht länger zur Last fallen«, sagte Remanaine.

»Ein Arzt wie du ist nirgends eine Last«, erwiderten sie ihm.

»Aber jemand wie ich ist nicht leicht satt zu kriegen, und ich will euch nicht das Wenige wegnehmen, das ihr habt. Ich werde jetzt weiterziehen.«

Die Frau trat auf ihn zu. »Du bist der große Arzt Remanaine und du bist mehr als ein Arzt. Nie habe ich etwas Ähnliches gesehen ... Ich werde Möwe sagen, dass es losgeht.«

Er war überrascht. »Warum glaubst du, dass ich das Mädchen mitnehme?«

»Sie glaubt es jedenfalls. Ich dachte, du hättest es ihr versprochen.«

Remanaine zögerte. Dies war eine Wendung, mit der er nicht gerechnet hatte. Er heilte überall Menschen, wo er hinkam, aber wenn er auch nur die Hälfte davon mitgenommen hätte, würde ihm eine ganze Schar folgen. Auf so etwas legte er keinen Wert.

»Möwe hat hier niemanden.« Sie nannten das Mädchen immer noch Möwe, dieses Kind, das der Sturm ihnen gebracht hatte. Sie hatte sich an keinen anderen Namen erinnern können. Sie war wach und gewann rasch an Kraft und Gesundheit, aber bis heute hatte sie ihnen nicht sagen können, wer sie war und woher sie kam. Remanaine hatte geduldig gewartet, aber nun zog es ihn weiter.

»Ich glaube, sie betrachtet dich als denjenigen, zu dem sie gehört. Ich kann dich natürlich nicht dazu zwingen, dich auch weiterhin um sie zu kümmern.« Die Frau blickte ihn an. »Ihre Gegenwart macht einige hier nervös«, sagte sie schließlich ehrlich. »Du bist weit herumgekommen, aber die Menschen hier betrachten sowieso schon jeden Fremden mit Argwohn.« Sie brauchte es nicht zu sagen: Ihre weiße Haut war vielen unheimlich.

Er konnte Möwe nicht hierlassen. Wer einem Menschen das Leben rettet, ist dafür verantwortlich, das wusste er. In jedem der vielen Königreiche, in denen er gewesen war, galt dieses Prinzip, aber er hatte es nie auf sich als Heiler bezogen. Wie konnte er für all diese Menschen verantwortlich sein, denen er geholfen hatte? Und doch, sagte eine Stimme in ihm, bist du es, Sohn deines Vaters.

»Falls jemand sie sucht, wäre es sinnvoll, wenn sie hier bliebe.« Aber er wusste selbst, dass dieses Argument wenig galt. Bis jetzt war noch niemand gekommen und hatte nach einem Albinomädchen gefragt, und irgendwo, tief in seinem Inneren, fühlte er sich schuldig, dass es ihm nicht gelungen war, das Kind vollständig zu heilen. Rins Kraft war so stark in seinen Händen gewesen, so wunderbar und vollkommen, und er hatte in diesem Moment geglaubt, dass es möglich war, alles und jeden zu heilen: Krankheiten, gebrochene Knochen, Herzen und Seelen. Er musste sie in das salzige Wasser tauchen und sie wären geheilt ... Er verstand nicht, warum die Verletzte ohne ihr Gedächtnis ins wache Leben zurückgekehrt war.

Aber er zögerte immer noch. Die Reise zurück zu seinem Volk war sehr lang, durch mehrere Königreiche hindurch, eine beschwerliche Reise voller Gefahren. Und zurück wollte er auf jeden Fall. Es war so lange her, dass er Variti das letzte Mal gesehen hatte, und er stellte sich vor, wie er sie begrüßte, wie er ihr Möwe vorstellte und ihre Augen zu leuchten begannen ... Das gab den Ausschlag. Er wusste, dass Variti sich über ein Pflegekind freuen würde, mehr als über jedes andere Geschenk, das er ihr hätte mitbringen können. Wenn es ihm gelang, das Mädchen heil zu seinen Leuten zu bringen, würde seine Frau vor Glück strahlen und vergessen, wie lange und schwer sie ihn vermisst hatte.

»Ich werde mit Möwe reden«, versprach er. »Wo finde ich sie? Natürlich.«

Es gab nur einen Ort, an dem man Möwe suchen musste. Wie immer saß sie am Strand und ließ den Sand durch ihre Finger rieseln, sie häufte Muscheln zusammen und betrachtete sie und richtete dann doch wieder ihren Blick hinaus aufs Meer, aus dem sie gekommen war.

»Möwe?«

Das Mädchen drehte sich zu ihm um. Jedes Mal war es eine Überraschung, dieses ungewöhnliche Gesicht zu sehen. Möwe sah auf eine faszinierende Art gut aus. Wenn man sich daran gewöhnt hatte, wie weiß sie war, wenn man gelernt hatte, ihr in die blassblauen Augen zu schauen, war sie geradezu hübsch. Sie war schlank, aber nicht mager, zart, aber nicht zerbrechlich. Ihr weißes Haar fiel ihr glatt und seidig über den Rücken.

Sie hatte ein Schiff in den nassen Sand geritzt, ein Segelschiff, und darüber einen fliegenden Vogel.

»Was zeichnest du da? Bist du mit diesem Schiff unterwegs gewesen?«

»Nein«, sagte Möwe, und einen Augenblick dachte Remanaine, sie könnte sich wieder erinnern. Gleich würde sie anfangen zu erzählen. Von der Sturmnacht und ihrem Leben davor ... War er enttäuscht? Auch dies war eine Überraschung, nachdem er sich zunächst so gegen den Gedanken an eine Begleiterin gesträubt hatte. Er würde Variti nur von diesem Mädchen erzählen können, ohne es mit dabei zu haben, und seine Hoffnung zerfiel zu Staub, seiner Liebsten ein Kind mitzubringen.

»Nein, das heißt, ich weiß nicht. Ich habe davon geträumt, von einem Schiff mit weißen Segeln. Aber in meinem Traum war ich nicht an Bord. Ich stand nur da und sah zu, wie es immer kleiner wurde.« Möwe blickte zu Remanaine hoch. »Ist es jetzt Zeit? Wirst du gehen?«

»Und du?«, fragte er zurück. »Willst du hier warten, bis irgendjemand kommt, der dich sucht?«

»Nein«, sagte das Mädchen sofort. Ihre Entschlossenheit war ein noch unbekannter Zug an ihr. »Ich kann nicht warten.« Sie stand auf und blickte Remanaine an. »Hier drinnen weiß ich es. Ich kann nicht warten. Mir ist, als hätte ich schon zu lange gewartet. Worauf? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht hierbleiben kann, hier bei den Fischern ... Abgesehen davon, dass sie mich nicht besonders mögen. Ich darf nicht. Ich kenne nicht einmal meinen Namen, aber ich bin schon viel zu lange bei den Fischern geblieben, während das Schiff dort draußen unterwegs ist.«

»Führt dich dein Weg dorthin?«, fragte Remanaine sanft. »Zurück übers Meer?« Er bezwang sich, noch nicht die Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge lag. Er wollte dieses Mädchen nicht drängen, nicht einmal beeinflussen. So sehr er Variti auch liebte, es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, ein Kind zu stehlen.

»So nennen sie mich, nicht? Möwe.« Sie strich sich die weißen Haare aus der Stirn. »Meinst du, ich könnte das tun? Auf irgendein Schiff steigen und lossegeln, auf den Horizont zu?«

»Sicher könntest du das. Ich habe nicht viel Geld, aber ich könnte dich mit zum nächsten Hafen nehmen und dir helfen, ein Schiff zu finden, dessen Kapitän bereit wäre, dich mitzunehmen.«

Möwe blickte wieder aufs Meer hinaus und dachte darüber nach. »Das klingt gut«, sagte sie zögernd.

»Dann wollen wir es so machen?«

»Aber dann finde ich ihn doch nie.«

»Wen?«

»Blitz.«

Remanaine wartete eine Weile und fragte dann vorsichtig: »Wer ist Blitz? Vielleicht ein Pferd?«

Möwe schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wer Blitz ist. Nur sein Name ist da, wenn ich erwache ... Aber wenn ich ihn finden will, dann muss ich doch in die Wälder hinein, in die tiefen Wälder. Dorthin, wo die Flüsse sind und auf die Märkte und in die großen Städte und bis hoch nach Kirifas ... Oder nicht?«

»Dann komm mit mir«, sagte er, »und du wirst all das sehen: die Wälder und die Flüsse und die Märkte und die großen Städte. Aber ob du deinen Blitz finden wirst, das kann ich dir nicht versprechen.«

Das Mädchen nickte. »Dann lass uns gehen. Ich habe lange genug gewartet.«

In ihrem Traum stand sie am Ufer und rief. Komm zurück, Lexan! Komm zurück, nimm mich mit!

Blitz stand hinter ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Komm unter die Bäume, Mino. Wir haben das Schiff verpasst. Komm mit mir unter die Bäume.

Lexan ist fort, sagte sie. Sie sind alle fort. Sie hätten mich mitnehmen sollen, es war auch meine Reise.

Nein, sagte Blitz, unsere Reise geht unter die Bäume, in den Schatten und über das Gras. Komm, Mino.

Sie drehte sich nicht um, aber sie hörte das Rauschen des Windes in den Blättern. Der Wald musste dicht hinter ihr sein, eine riesige grüne Wand, ein Dickicht, voller Wurzeln und Dornen und Gestrüpp. Vögel lachten hoch oben in den Wipfeln.

Nein, sagte sie, nein, Blitz, nein ...

Es war unser Traum, weißt du nicht mehr, Mino? Unser gemeinsamer Traum.

Mino hielt ihn fest. Nein, Blitz, nein ...

Aber Blitz begann, rückwärts in den Wald hineinzugehen, und schlug Minos Hand weg.

Dies ist unser Traum, Mino.

Er war gezwungen, seine großen, raumgreifenden Schritte ihren kleinen Füßen anzupassen. Wenn er nach unten sah, war da ihr schimmerndes weißes Haar. Wie ein kleines Kind lief sie neben ihm her.

»Hast du keine Angst?«, fragte er.

»Wovor?«, fragte sie zurück. Sie blickte nach oben, zu ihm, sie lächelte. Das war etwas an ihr, das er nicht verstand, dieses ständige Lächeln.

»Vor mir zum Beispiel. Immerhin bin ich ein Riese. Und ein Fremder.«

»Alle sind Fremde«, sagte sie leise, so dass er es kaum verstand. »Warum sollte ich dich fürchten? Wenn ich je schlechte Erfahrungen mit Riesen gemacht haben sollte, habe ich es jedenfalls vergessen.«

Sie schliefen nicht immer unter freiem Himmel. Oft fanden sie Aufnahme in gastfreien Häusern, teils wegen des Mädchens, das von vielen bestaunt wurde wie ein seltenes Tier, teils wegen des Heilkundigen. Kranke gab es überall. Remanaine hielt seinen Zögling zu kleinen Handreichungen an, ließ Möwe bei seiner Arbeit zuschauen und erklärte ihr alles. Obwohl das Mädchen kein kleines Kind mehr war, behandelten viele sie so, steckten ihr Süßigkeiten oder Obst zu, und sie streichelten ihr über ihr weißes Haar, was Remanaine manchmal dazu veranlasste, ein warnendes Grollen auszustoßen, wie ein Hund, der seinen Besitz hütet. Möwe hielt den Apfel oder die Birne, die sie ihr gegeben hatten, achtsam in ihrer Hand und fuhr mit dem Finger über die glatte Schale. Sie betrachtete jede Frucht, als wäre sie ein Schatz, als hätte jemand sie in den Gärten Rinlands gepflückt, nur um sie jetzt in ihre Hand zu legen.

»Aus welchem Königreich kommst du?«, fragten sie, als müsste es irgendwo ein Land geben, in dem alle so weiß waren wie dieses Mädchen.

Dann zuckte Möwe verlegen zurück, und Remanaine antwortete für sie. »Aus einem Land jenseits des Meeres.«

»Aus Rinland?«

»Nein«, er lachte, »nicht aus Rinland.« Aber insgeheim fragte er sich manchmal selbst, ob das fremde Mädchen nicht tatsächlich eine Botin Rins war, mit einem Auftrag hergesandt, der sie in die Wälder führte. Von allem, was Möwe jemals gewusst hatte, waren ihr nur diese zwei Dinge geblieben: ein Schiff, das ohne sie abfuhr, und der geheimnisvolle Blitz, der in den Wäldern verschwand und unbedingt gefunden werden musste. Remanaine bezweifelte, dass es tatsächlich eine Person dieses Namens gab, aber er redete Möwe ihren Traum nicht aus. Vielleicht würde sich irgendwann aus diesen Bruchstücken ihre Identität ergeben, wie ein Schmetterling, der aus einer unscheinbaren Raupe kriecht und seine großen, bunten Flügel auseinanderfaltet.

Aber es waren nicht nur diese Bilder, die Möwe ausmachten. Nicht ihre Träume, nicht die Bewunderung, die ihr entgegenschlug – oder die an Hass grenzende Abneigung, die scheelen Blicke, das Getuschel. Auch das gab es. Sie lernte sehr schnell. Für Remanaine war es eine Freude zu sehen, wie rasch Möwe begriff und ihm auch zur Hand gehen konnte. Sie sammelte Kräuter, rührte Salben, legte Verbände an. Sie berührte die Kranken mit ihrer blassen Hand und begegnete ihrem misstrauischen Blick mit einem selbstzufriedenen Lächeln. Es war klar, dass sie das kannte: die manchmal heftige Reaktion der Menschen auf ihr Aussehen, und sich nichts daraus machte. Ganz bestimmt stammte sie nicht aus einem Land, in dem alle Menschen Albinos waren wie sie.

Damit sie schneller vorwärts kamen – denn niemand konnte mit seinen Riesenbeinen Schritt halten –, kaufte er Möwe einen Esel, auf dem auch ihre wachsenden Besitztümer Platz fanden. Remanaine hatte nie viel gebraucht. Er konnte auf der bloßen Erde unter dem Sternenhimmel schlafen und sich von Waldfrüchten ernähren, bis er das nächste Dorf erreichte. Dass der Herbst dunkel, nass und zugleich farbenprächtig seine Herrschaft über das Land ausbreitete, war ihm willkommen, ein Genuss für Augen und Nase und seine windliebende Haut. Doch seit Möwe bei ihm war, schleppten sie Decken mit sich herum und wärmende Mäntel – das Mädchen fror schnell – und sein Vorrat an Arzneimitteln wuchs, weil Möwe ihre Herstellung üben musste. Als er ihr das Angebot gemacht hatte, sie mitzunehmen, hatte er nicht erwartet, dass sie seine Schülerin werden würde. Es hatte kein erstes Mal gegeben, wo er gesagt hatte: Sieh her, das tue ich so und so. Sondern wie selbstverständlich hatte Möwe zugeschaut und versucht, es nachzumachen, als wäre auch dies ein Auftrag, den irgendjemand in sie eingebrannt hatte.

Der Weg war zu schmal für drei Personen. Als ihnen ein weißgekleideter Edelmann auf seinem mit Troddeln geschmückten Pferd entgegenkam, ging Remanaine trotzdem weiter. Als Riese hatte er es nicht nötig, irgendjemandem Platz zu machen. Möwe jedoch lenkte ihren Esel zur Seite, aus freundlichem Respekt, aber sie senkte nicht ehrerbietig den Kopf. Der Heiler beobachtete sie genau, denn immer noch hoffte er zu enträtseln, wer das Mädchen war. Jedenfalls hatte sie nicht gelernt, sich vor den Zeichen von Adel und Macht zu beugen. War sie eine Prinzessin?

Der Adlige runzelte die Stirn und zügelte seinen Schimmel. Er musterte das Mädchen auf dem Esel und wandte sich dann an den blonden Riesen.

»Ist das deine Dienerin? Ich kaufe sie dir ab.«

»Das ist meine Tochter«, antwortete Remanaine.

»Danach sieht sie nicht aus. Und ich habe dich nicht gefragt, ob du sie verkaufen willst. Nimm lieber das Geld, solange ich bereit bin, es zu zahlen.«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich sagte bereits, das ist meine Tochter. Und ich«, noch lag in seiner Stimme keine Drohung, »bin ein Riese.«

»Das sehe ich. Aber selbst die Riesen haben sich an geltendes Recht zu halten.« Er ließ Möwe nicht aus den Augen. »Ich bin Alin, der weiße Fürst. Ich habe ein weißes Schloss und ein weißes Pferd, sogar meine Hunde sind weiß ... Eine solche Dienerin fehlt mir gerade noch. Ich habe nicht vor, sie schlecht zu behandeln. Sag mir deinen Preis, wenn du als freier Mann weiterziehen willst.«

Remanaine warf dem Mädchen einen raschen Blick zu. Möwe wirkte nicht eingeschüchtert. Sie schien keine Ahnung davon zu haben, dass dieser Fürst tatsächlich das Recht hatte, jeden seiner Wünsche durchzusetzen, solange sie sich in seinem Herrschaftsgebiet befanden. Woher kam sie, wenn sie das nicht wusste? Aus einem Land, in dem die Mächtigen so gütig und gerecht waren, dass niemand je von ihnen bedroht wurde – oder hatte sie stets selbst auf der Seite der Mächtigen gestanden?

»Meine Tochter ist nicht zu verkaufen.« Er trat einen Schritt näher an das schöne weiße Pferd heran. »Sucht Ihr Ärger, Fürst Alin?« Er hatte sagen wollen: Ich möchte keinen Ärger. Freundlich und bestimmt. Doch nun klang es bereits wie eine Drohung.

Wie oft würde es noch passieren? Er war diese Art Streit so gewöhnt, dass es ihm hätte leichter fallen müssen, dem aus dem Weg zu gehen. Früher, als er kaum den Kinderschuhen entwachsen war, hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, bewaffnete Männer herauszufordern, die glaubten, nur weil sie ein Schwert besaßen und ein schnelles Pferd und weil blaues Blut in ihren Adern floss, könnten sie es sogar mit einem Riesen aufnehmen. Mittlerweile versuchte er, dem Ruf seines Blutes nach Kampf aus dem Weg zu gehen, denn zu oft hatte er Verwundete versorgen müssen; er wusste, wie zerbrechlich Menschen waren. In einem Winkel seines Verstandes wusste er, dass er widerstehen musste, auch wenn das hin und wieder bedeutete, dass er eine Demut an den Tag legte, die er nicht besaß. Sich zu ducken oder gar zu gehorchen. Beides hatte niemals zu dem gehört, was er auch nur in Erwägung gezogen hätte.

Du kannst dich nicht verleugnen ... Spaß? Nein, es war mehr als Spaß, es war Ernst, es war wie eine Feier, Leidenschaft und Hass und Glück, die Bestimmung seines Lebens ... Er war wie ein Süchtiger, dem jemand unwissentlich die Droge vor die Nase hält – er witterte einen Kampf.

Remanaines Blut begann zu kochen, in seinen Augen glomm ein Funke auf, mehr als ein Funke, ein Brand ...

Möwe ließ ihre Blicke zu Fürst Alin wandern und zu Remanaine und wieder zurück. Was geschah hier? Sie sah deutlich, dass etwas passieren würde, aber es hatte nichts damit zu tun, dass sie selbst in Gefahr war. Eine böse Vorahnung ließ sie einen Schritt näher zu Remanaine machen. Sie griff nach seiner Hand.

Der Fürst begann sich zu ärgern und legte die Hand an sein Schwert. Er wandte sich erstmals direkt an Möwe.

»Du wirst es gut bei mir haben, Mädchen. Niemand, den ich kenne, hat jemanden wie dich in seinem Haushalt. Sag deinem Herrn, er soll keinen Ärger machen, und wir werden alle glücklich sein.«

Möwes Zutrauen zu Remanaine schien bedingungslos zu sein. Sie wandte sich ihm zu und lächelte, ohne den geringsten Anflug von Angst.

»Ich bin glücklich«, sagte sie, und in dem Moment, als sie es aussprach, wusste sie, dass es stimmte. Der dichte Wald um sie her duftete nach Herbst, nach Laub und Pilzen und feuchter Erde. Er glühte in Gold und Rot, in den Zweigen hingen Trauben roter und schwarzer Beeren. Mittlerweile wusste sie, welche davon essbar waren und welche nicht, sie konnte riechen, dass nicht weit von hier entfernt eine Gruppe essbarer Pilze stand, die ein hervorragendes Mittagsmahl abgeben würden. Alles war gut, so wie Remanaine es versprochen hatte. Keinen Augenblick lang glaubte sie, dass irgendjemand sie dazu zwingen könnte, dem weißen Fürsten in sein weißes Schloss zu folgen, um seine weiße Dienerin zu sein.

Der große Arzt nickte ihr zu und lächelte zurück. »Das sollst du bleiben«, sagte er und sprach seinen Satz zu Ende, obwohl Alin gerade das Schwert zog und auf ihn richtete.

Er schüttelte den Kopf. Manchmal kamen ihm die Menschen so dumm vor, dass er jegliche Lust verlor, sich mit ihnen abzugeben. Aus ähnlichen Gründen hatte er damals Kirifas verlassen. Was brachte es, sein eigenes Leben zu opfern, um über sie zu regieren? Dass er Befriedigung daraus zog, dieselben Menschen, die er verachtet hatte, zu heilen, erstaunte zu Beginn niemanden mehr als ihn selbst. Er gewöhnte sich an, sie zu bemitleiden. Dass es auch möglich war, sie zu lieben, das lehrte ihn erst Variti.

Fürst Alin beugte sich vor und streckte die Hand nach Möwe aus.

Sie wich zurück, aber nicht aus Angst vor ihm. Sie hängte sich an Remanaines Arm. »Bitte ...«

Er hörte sie wie von ferne. Bitte ... Bitte, was? Mit aller Kraft versuchte er, wieder klar zu sehen. Der Fürst, das Pferd, das Mädchen ...

Mit seinem Wanderstock schlug er das Schwert beiseite, sprang neben das Pferd und hob den verblüfften Fürsten aus dem Sattel. Er hielt ihn hoch über sich, um ihn zu Boden zu werfen und zu zerschmettern.

»Nein!«, hörte er Möwe schreien. »Nein, lass ihn, lass ihn runter, bitte, bitte!«

Ihre Schreie rissen ihn aus dem Rausch. Das Mädchen hing an seinem Arm und rief. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Tu es nicht, Remanaine, bitte nicht! Du musst ihn nicht töten, wirklich nicht!«

Er zögerte. Der Fürst zappelte schwach in seinem Griff, wie ein Fisch, den er aus dem Wasser geangelt hatte.

Auf einmal war es nicht mehr wichtig, ihn zu töten. Remanaine seufzte. Was hatte er eben noch tun wollen? Ihn zu Boden werfen, mit aller Kraft?

»Ich tu ihm schon nichts«, sagte er zu Möwe.

Er sah sich um, und beförderte Alin in ein dichtes, dornenbesetztes Gebüsch. Während der edle Herr brüllte und fluchte und Drohungen ausstieß, ergriff Remanaine den Schimmel und forderte Möwe auf, in den Sattel zu steigen.

»Lass uns hier verschwinden«, sagte er. »Du reitest am besten, ich laufe.«

Der Fürst schrie etwas Unverständliches.

»Das ist kein Diebstahl«, behauptete Remanaine. »Wir tauschen nur. Ihr erhaltet unseren Esel. Es ist ein guter Esel, genügsam und brav.«

»Nein«, widersprach Möwe. »Ich will meinen Esel behalten.«

Er nickte und gab dem Grauen einen Klaps. Ohne Anstrengung rannte er dann neben der reitenden Möwe her. Das Mädchen lachte. »Nun wird es keine Pilzsuppe geben.«

»Nein, Möwe, jedenfalls nicht hier. Wir lassen dieses Fürstentum besser hinter uns.«

Eine Weile ritt sie schweigend, er lief neben ihr her. Dann fragte Möwe: »Was war da eben mit dir los, Remanaine? Ich hatte einen Augenblick lang wirklich Angst, du würdest ihn töten.«

»Ja«, bestätigte er ohne Umschweife, »das hatte ich wohl auch vor.«

Das Mädchen stutzte. »Was bist du für ein Mensch? Du hättest ihn einfach so umgebracht?«

»Ich bin kein Mensch, Möwe.«

»Aber ...«

»Nein«, sagte er. »Mach nie den Fehler, mich dafür zu halten.«

»Ein Riese tötet also einfach alle, die ihm querkommen?«

Er antwortete nicht sofort, aber als er es tat, erschrak sie doch. »Ja«, sagte er einfach.

»Oh. Nun gut, und warum hast du es nicht getan?«

Bitte. Hatte sie es nicht gesagt? Bitte.

»Weil du da warst«, sagte er knapp.

Sie fragte sich, was es bedeutete, dass sie Fürst Alin das Leben gerettet hatte. »Wird er Soldaten hinter uns herschicken?«

»Mit Sicherheit. Aber wenn wir erst über die Grenze sind, kann er uns nichts mehr anhaben. Er darf keine bewaffneten Schergen in ein anderes Hoheitsgebiet senden.« Einen Moment lang bedauerte er das Gefecht, das ihm entging, diese Hundertschaft, an der er sich hätte austoben können.

»Und der nächste Herr wird uns nicht ausliefern?«

»Wir sind bald an der Grenze zu Nomanos. Der König von Nomanos ist ein alter Bekannter von mir. Von dem haben wir keine Schwierigkeiten zu erwarten.«

»Erzählst du mir die Geschichte?«

»Du glaubst also, es gibt eine Geschichte?«

»Es sollte mich wundern, wenn nicht.« Möwe blickte ihn erwartungsvoll an. Sie liebte Geschichten über alles. Vielleicht, dachte sie manchmal, stamme ich aus einer Familie, in der jeden Abend jemand eine Geschichte erzählte ... Vielleicht lag ich da, ich und mein Bruder – vielleicht hatte ich einen Bruder –, und wir lagen da unter den glitzernden Sternen und haben geredet und er hat mir etwas erzählt, von den Ländern hinter dem Meer und von überwachsenen Wegen durch dichte Wälder, von den großen Städten und von Kirifas, der wundervollen Stadt des Riesenkaisers ...

»Hast du keine Angst vor meiner Geschichte?«, fragte er, denn vieles von dem, was er bisher erlebt und getan hatte, war wild und grausam.

Möwe schüttelte den Kopf. Ihr feines weißes Haar flog bei jeder Bewegung mit. Sie sollte den Tod nicht sehen, dachte er. Niemals.

»Erst müssen wir Tors hinter uns haben«, bestimmte Remanaine. »Dann sehen wir weiter. Ich will nicht, dass sie uns einholen.«

»Und wenn?«, fragte Möwe, aber der Heiler antwortete ihr nicht.

Er hatte sich in Nomanos aufgehalten und dort einige besonders schwere Fälle heilen können. Eine Seuche hatte sich ausgebreitet und er hatte alles getan, um sie einzudämmen, weitere Ansteckungen zu verhindern und die bereits Erkrankten zu retten.

Als ein Bote des Königs ihn aufgesucht und ihm gesagt hatte, König Napenlah wünsche ihn zu sehen, hatte er zuerst befürchtet, die Seuche könnte nun sogar schon im Schloss wüten.

»Ist er krank?«, hatte er gefragt.

»Nein.« Der Bote war erstaunt über diese Frage.

»Dann sehe ich keinen Grund, zu ihm zu kommen.«

Der Gesandte hatte zwei Bewaffnete mitgebracht, die nun hinzutraten und die Aufforderung bekräftigten.

»Warum? Was will er von mir?«, fragte Remanaine.

»Du solltest dich geehrt fühlen«, meinte einer der Männer. »Diese Einladung bedeutet eine besondere Auszeichnung. Der König hat von dir gehört und bietet dir die Stelle seines Leibarztes an.«

»Daran habe ich kein Interesse«, sagte Remanaine. »Es sind die Armen, die Bauern und Handwerker, die keine Ärzte haben. Der König und seine Edlen am Hof haben genug gute Heilkundige. Richtet König Napenlah meinen Dank aus, aber ich habe keine Zeit, ihn zu besuchen.«

»Das kannst du ihm selbst sagen, wenn du es wagst«, rief der Gesandte. »Wir haben die Anweisung, dich ins Schloss zu bringen!«

»Wo sich die Türen hinter mir schließen werden«, ergänzte Remanaine. »Der König soll herkommen, wenn er mich unbedingt sehen will. Ich kann euch jetzt nicht folgen, ich habe zu tun.« Er wandte sich wieder seinen Kranken zu.

»Du musst!«, befahlen die Männer und zogen die Schwerter.

»Es braucht mehr als drei, um mich zu fangen.« Die Familie, die er gerade behandelte, staunte nicht schlecht, als der große Heiler einen Schemel ergriff, der in der Stube stand, und mit solcher Kraft zuschlug, dass sie ihre Schwerter fallen ließen und flohen.

In aller Ruhe verabreichte Remanaine jedem die lebenswichtige Arznei, bevor er das Dorf verließ und weiterzog. Doch schon am nächsten Tag stellte sich ihm ein Trupp Krieger in den Weg. Remanaine riss einen jungen Baum samt Wurzeln aus und hielt sich damit die fünfzehn Soldaten vom Leibe. Er riss einige vom Pferd, schlug andere bewusstlos, und als sich schließlich einer aufmachte, um Verstärkung zu holen, nahm er überhaupt keine Rücksicht mehr und haute alle nieder, die nicht rechtzeitig flohen.

Im nächsten Dorf erfuhr er, dass König Napenlah ihn überall suchen ließ und eine Streitkraft von zweihundert Mann aufgeboten hatte, um seiner habhaft zu werden. Ungerührt behandelte er die Dorfbewohner, bis sie ihn schließlich baten, doch lieber zu gehen, bevor die Soldaten kämen und alles kurz und klein schlügen. So geht es nicht weiter, dachte Remanaine. Ich werde den König aufsuchen, bevor meinetwegen ein Krieg ausbricht – halten kann er mich doch nicht, und wenn er mich an eiserne Ketten schmieden ließe.

Er machte sich auf den Weg ins Schloss, wo er nach einem flotten Marsch nach anderthalb Tagen anlangte. Die Wachen schrien auf, als sie ihn sahen, und umringten ihn, aber sie hielten sorgsam Abstand.

»Gebt ihr allen euren Gästen so das Geleit?«, fragte Remanaine lächelnd. Er genoss es, damals wie heute, seine Kraft zu erproben, und wenn er auf einen Kampf verzichtete, dann nicht, weil er Angst um seine eigene Haut gehabt hätte. »Wessen Knochen breche ich wohl zuerst?« Manchmal fiel es ihm schwer, geduldig und großzügig zu sein. Das wilde Riesenblut kochte in seinen Adern und hin und wieder entfuhr ihm ein Wort, eine Drohung oder eine Beleidigung, oder auch ein zu hart geratener Hieb oder Tritt, den er nicht beabsichtigt hatte. Er hatte sich nicht immer vollständig in der Gewalt, wie es seinem Vater Kanuna scheinbar mühelos gelang, und er kannte das süße Gefühl, alles vernichten zu können, was sich ihm in den Weg stellte, und sich dabei unbesiegbar zu fühlen.

»Du beleidigst die Wachen des Königs«, traute sich einer zu sagen und duckte sich hinter seinen Kameraden.

»Nein, ich warne sie nur. Führt mich jetzt zu Napenlah, aber wie einen Gast und nicht wie einen Gefangenen, oder ich kehre auf der Stelle um.«

Sie wagten es nicht, sich mit ihm anzulegen. Die meisten wichen noch weiter zurück, während ihn einige besonders Mutige aus einer Entfernung, die ihnen einigermaßen sicher schien, bis zum Empfangszimmer des Königs begleiteten. Hinter ihm schlossen sich die Türen.

Der König war ein grauhaariger Mann um die siebzig mit einem unauffälligen Gesicht.

»Ha, bringt ihr ihn endlich!«, rief er aus.

»Er ist selber gekommen, Hoheit«, sagte eine der Wachen, »als Gast, wie er behauptet.«

»Du erklärst dich also bereit, mir zu dienen?«, fragte Napenlah zufrieden. »Du fügst dich endlich? Sehr gut.«

»Nein«, entgegnete Remanaine. »Davon kann nicht die Rede sein. Ich bin gekommen, um mit Euch zu reden, ehe es zu noch mehr Blutvergießen kommt. Ich will mit Euch sprechen, aber allein.«

»Das wäre unvorsichtig von mir«, wandte der König ein und lächelte schlau.

»Habt Ihr etwa Angst vor mir? Obwohl Ihr so großes Vertrauen in mich setzt, dass Ihr mich zu Eurem Arzt machen wollt? Was wäre das für ein Heiler, den Dolch im Nacken!«

Napenlah sagte nichts; vielleicht hatte er selbst noch nicht darüber nachgedacht, wie er mit einem Bediensteten umgehen würde, dem er nicht traute und zugleich trauen musste.

»Ich schwöre Euch, dass ich meine Hand nicht an Euren königlichen Leib legen werde.«

»Schwöre lieber nicht«, riet Napenlah, »denn als Arzt wirst du es doch tun.« Er nickte den Wachen zu. »Ich fürchte mich nicht vor ihm. Wartet draußen vor der Tür.«

»Ich sehe, Ihr habt doch Angst«, murmelte Remanaine und lächelte überlegen. »Hofft Ihr, mich zähmen zu können?«

Als sie allein waren, gestattete ihm der König, sich zu setzen. Er hatte gewusst, dass der berühmte Arzt ein Riese war, aber trotzdem war er darüber erschrocken, wie groß dieser Mann tatsächlich war. Er überragte nicht nur um ein paar Handbreit die größten seiner Soldaten, sondern war zugleich von so kräftiger Gestalt, dass sich Napenlah erstmals vorstellen konnte, warum seine Leute solche Schwierigkeiten damit gehabt hatten, diesen Mann einzufangen. Er malte sich aus, dass es nicht einmal möglich sein würde, ihn in eine Zelle zu sperren. Wenn er ihn gewinnen wollte, musste er anders vorgehen.

»Ich bin sicher, dass wir uns einigen werden, denn du wirst nirgends ein besseres Angebot erhalten. Ich habe von deiner großen Kunst gehört, von unglaublichen Genesungen, und wünsche daher, dich hier an meinem Hof zu haben. Es wird dir an nichts fehlen. Wenn du wirklich so großartig bist wie dein Ruf, mache ich dich zu einem der reichsten Männer dieses Königreichs. Du siehst also, dass du dich nicht zu sträuben brauchst. Ich bin bereit, deine Dienste so hoch zu belohnen, wie du es dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt hast.«

Gespannt wartete er auf die Antwort des Arztes. Wanderärzte waren immer arm und brauchten Geld. Mochte er noch so stark sein, dieser Mann bildete keine Ausnahme, das war schon an seiner Kleidung zu sehen.

Remanaine lachte leise. »Ich habe mit Reichtum nichts im Sinn. Ich habe schon ein Angebot ausgeschlagen, das ungleich höher war als Eures. Ihr solltet wissen, dass nicht alles für Gold zu haben ist und dass Ihr auch als König nicht über jeden Menschen frei verfügen könnt.«

»Du hast dich freiwillig in meine Gewalt begeben«, sagte Napenlah. »Glaubst du wirklich, dass ich dich jetzt wieder gehen lassen werde?«

»Ich kann Euch die Gründe nennen, warum ich dieses Schloss wieder verlassen werde.«

»Lass hören.«

»Ihr werdet mich gehen lassen, weil Ihr kein Recht dazu habt, mich hierzubehalten. Ich bin ein freier Mann, weder Bauer noch Leibeigener. Es wäre meiner Familie gegenüber unrecht. Und denen, die ich hätte heilen können und die nun ohne meine Hilfe sterben müssen.«

»Hier könntest du genug Menschen heilen, die es dir zudem besser lohnen werden. Und deine Familie – sind Wanderärzte nicht meistens unverheiratet?«

»Ich nicht. Ich habe eine Frau.«

»Die könnte ich herkommen lassen«, meinte Napenlah. »Das ist doch kein Hindernis. Und was soll das heißen, ich habe kein Recht, dich festzuhalten? Hast du vielleicht bemerkt, dass ich der König bin?«

»Der König von Nomanos, ja. Aber ich bin kein Einwohner Eures Königreichs und Ihr habt daher keine Befugnisse über mich.«

»Mit einem Herrscher so zu reden!« Aber Napenlah unterdrückte seinen Ärger. Sein Besucher faszinierte ihn, je länger er ihn reden hörte. »Außerdem – bist du nicht, wie ich hörte, ein Ziehender? Man sagte mir, du gehörst zum Ziehenden Volk, so ungewöhnlich das auch für einen Riesen sein mag. Aber für die Zintas gilt, dass sie dem unterstehen, in dessen Reich sie sich befinden. Du bist in Nomanos – also gehörst du mir.«

Remanaine schüttelte den Kopf. »Ich gehöre wohl zum Ziehenden Volk, doch wie man sieht, nicht dem Blut und der Herkunft nach. Geboren bin ich in Aifa. Ihr seid dem Kaiser unterstellt und müsst die Gesetze des Kaiserreichs achten. Über einen Menschen aus Aifa habt Ihr keine Befugnisse.«

Napenlahs Gesicht war finster geworden. »Kannst du das beweisen? Bei welchem Fürsten kann ich nachfragen?«

»Bei Kanuna El Schattik, König von Aifa und Kaiser von Deret-Aif.«

»Er wird mir sein Recht abtreten. Ich werde ihn fragen.«

»Wenn er das tut«, sagte Remanaine lächelnd, »komme ich ohne Widerrede zu Euch und diene Euch bis an mein Lebensende. Aber der Kaiser würde nie einen seiner Untertanen verkaufen. Ist es Euch nun klar, dass Ihr kein Recht habt, mich hier zu halten? Dass ich auch in Nomanos die Freiheit habe, meine eigenen Wege einzuschlagen?«

»Wenn ich niemanden erfahren lasse, woher du kommst ...«

»Aber nein, König Napenlah, das würdet selbst Ihr nicht tun. Den Kaiser hintergehen? Kanuna El Schattik den Treueeid brechen?«

»Deine Herkunft schützt dich«, gab Napenlah zähneknirschend zu, »aber gibt es denn nichts, was ich dir bieten könnte, damit du freiwillig bleibst?«

»Nein.«

»Oh Kanuna«, seufzte der König auf, »das ist das erste Mal, dass mein Schwur mich in Konflikte bringt. Ich muss dieses Mannes versichert sein! Ich muss unbedingt! Und nur, weil er nicht so vaterlandslos ist, wie ich dachte ... Du verlässt dich sehr auf meine Treue, Remanaine.«

»Keiner, der bei Verstand ist, hintergeht Kanuna.«

»Darauf stützt du dich und du hast recht. Ich kann ihn nicht betrügen. Aber was hättest du getan, wenn ich mich weniger daran gebunden fühlte? Bist du unbesiegbar?«

»Mit zweien wurde ich fertig und mit fünfzehn und vor den zweihundert würde ich nicht fliehen. Lebend wird mich niemand gefangen nehmen.«

»Und dafür könntest du töten, du, der Heiler?«

»Um das zu vermeiden, kam ich her. Ich will nicht töten – aber vertraut nicht auf meine Sanftmut.« Während er das sagte, fühlte er fast einen Stich des Bedauerns. Hier saßen sie und redeten. In der gleichen Zeit hätte er das Schloss auseinandernehmen können – weitaus befriedigender für einen Mann wie ihn.

»Ein Mensch wie du ist mir noch nie begegnet«, sagte der König kopfschüttelnd. »Sag, wer bist du?«

»Mit Sicherheit kein Mensch. Und meinen Namen kennt Ihr.«

»Aber Namen sagen wenig über einen Menschen. Remanaine – der seinen Weg geht. Na und?«

»Ihr fragt, wer ich bin. Das ist die Antwort. Kan-solin-remanaine. Ich bin der Mann, der seinen eigenen Weg geht. Und das werde ich nun tun.« Er stand auf und wieder wurde dem König die riesenhafte Gestalt seines Besuchers bewusst. Er kam sich vor wie ein Kind.

»Ich wollte den größten Heilkundigen von Deret-Aif in meiner Nähe wissen, aber ich sehe, dass ich dich nicht zwischen diesen Mauern einsperren kann. Du bist zu groß für dieses Schloss. Es könnte dich nicht aufnehmen.«

Remanaine blickte ihn verwundert an. »Ihr seid ein größerer König, als ich erwartet habe. Ich freue mich, dass Ihr mich gehen lasst – für Euch und für Eure Soldaten.« Er sah Napenlah in die Augen und zum ersten Mal kamen sie ihm schön vor, klar und klug, als hätte sich hinter dem anmaßenden Gesicht des Königs ein Mensch verborgen, der sich von Remanaines Kraft hatte herausrufen lassen.

»Wer bist du?«

»Ich bin der Mann, der seinen Weg geht: Keta, El Schattiks Sohn.«

Napenlah erschrak. »Verzeiht mir, mein Prinz ... Kanunas Sohn! Ich wundere mich über mich selbst und meine Blindheit, aber man spricht niemals über die Söhne des Kaisers.«

Remanaine lächelte schmerzlich. »Es schadet seinem Ansehen, nicht wahr? Wenn bekannt würde, dass der eine zum Ziehenden Volk gehört ...«

»Warum?«, wollte Napenlah wissen. »Warum tut Ihr es dann? Warum geht Ihr wie ein Landstreicher durch die Wälder, Prinz Keta?«

»Weil es mein Weg ist, König Napenlah, weil ich der bin, der seinen Weg geht. Ich erwarte, dass Ihr mein Geheimnis für Euch behaltet. Es ist für meinen Vater und auch für mich besser, wenn ich weiterhin als verschollen gelte.« Er nickte ihm zu und wandte sich zur Tür.

»Öffnet!«, rief der König. »Dieser Mann darf gehen. In ganz Nomanos kann er sich frei bewegen, und wer ihm etwas zuleide tut oder ihn kränkt, wird meinen Zorn zu spüren bekommen!«

Die Wachen bemühten sich, ihr Erstaunen zu verbergen.

»Ihr gebt also zu, dass ich gesiegt habe?«, fragte Remanaine mit spöttischem Lächeln.

»Es ist keine Schande für mich«, meinte Napenlah leise, »denn wer Ihr auch sonst sein mögt – zuerst und für immer seid Ihr Kanunas Sohn.«

Remanaine antwortete nicht darauf. Er verließ den Saal, ohne zurückzuschauen und ohne sich vor dem König zu verbeugen, und kehrte zu seinen Kranken zurück.

»Dann werde ich dich von nun an Keta nennen«, entschied Möwe.

»Nein«, wehrte er ab. »Ich heiße Remanaine. Das ist der Name, den ich mir selbst gegeben habe.«

»Es reicht, dass ich einen Namen trage, der mir nicht gehört«, sagte sie. »Wie kannst du auf den Namen verzichten, der dir zusteht, Keta?«

»Nenn mich nicht so.« In seinen Augen funkelte der Ärger. Grimm regte sich in ihm über ihre Frechheit, aber Möwes Lächeln glättete die Wogen wieder.

»Oh doch«, sagte sie ruhig. »Du willst das, auch wenn du es selbst noch nicht weißt.«

»Keta hasst die Menschen«, sagte er leise. »Keta hätte Fürst Alin getötet. Es ist Remanaine, der sie heilt. Es ist Remanaine, der dich mitgenommen hat.«

Möwe lächelte sanft, als wüsste sie Dinge, die er nicht wissen konnte. Botin aus Rinland, kam ihm wieder in den Sinn. Es wäre so leicht gewesen, sie mit einem einzigen Schlag zu Boden zu schmettern und ihr dabei das Genick zu brechen. Aber nicht einmal Prinz Keta, der wilde, ungehorsame Riesenjunge, hätte das getan, dieses weiße Mädchen zerbrechen.

»Es ist normal, dass in einem Menschen viele verschiedene Dinge sind«, sagte sie weise.

»Ich bin kein Mensch!«, begehrte er auf. Du Naseweis, dachte er empört. Und dann, in dem Versuch, anders zurückzuschlagen als mit seinen Fäusten, fragte er: »Und was ist so in dir, Möwe? Oder hast du das etwa auch vergessen?«

»Es ist alles da«, sagte Möwe, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen. »Etwas ist in mir, das ruft und ruft und verfolgt mich bis in meine Träume ... Und doch bin ich glücklich, Keta, hier im Wald, und es ist mir egal, ob wir verfolgt werden oder was uns sonst noch alles erwartet ... Es ist beides da, das Unglück und das Glück.«

»So wie Hass und Heilen? Das ist nicht dasselbe.«

»Doch«, behauptete sie stur. »Das ist genau dasselbe.«

Die weiße Möwe

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