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3. Das Glück des Kaisers

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D A SM Ä D C H E NS T A N Dreglos unter der ausladenden Krone der alten Kastanie. Röte überflutete den Himmel im Westen, ging in zartes Gold über und verblasste dann so langsam, dass man dabei zuschauen konnte, wie nach und nach die Schatten heraufzogen und den Park in Dunkelheit hüllten.

Der Mann auf dem Weg beachtete das Schauspiel nicht. Er hatte nur Augen für das Mädchen, aber als der Abend sich über sie senkte, seufzte er und wandte sich ab.

»Sie sieht aus wie Vinja«, sagte er leise.

»Nein, Herr.« Sein Begleiter schüttelte den Kopf. »Nein, Herr, das tut sie nicht. Die Ähnlichkeit ist so gering, dass sie keinem außer Euch auffällt.« Gemeinsam gingen sie weiter. Jede Handbreit Boden war ihnen so vertraut, dass sie auch im Dunkeln ihren Weg sicher fanden, zwischen den grünen Sträuchern hindurch und durch die Rosen, unter hohen Bäumen aus allen Königreichen Deret-Aifs hierher gepflanzt, in den Mittelpunkt des Kaiserreichs. Das Schloss leuchtete aus vielen Fenstern, aber der Kaiser dachte nicht daran umzukehren.

Rahmon seufzte. Wie lange machte er das hier schon mit? Sechzehn Jahre, siebzehn? Wenn er nichts tat, würde der Kaiser auch noch die nächsten zwanzig Jahre die halbe Nacht durch den Park wandern, ruhelos, unermüdlich, und in jedem Mädchen etwas von Vinja erblicken.

»Mein Kaiser«, fing er an und zögerte doch wieder, denn so vertraut sie sich auch waren, vor Kanunas Traurigkeit fürchtete er sich mehr als vor Kanunas Zorn. Aber er hatte keine Wahl. Die Einwohner von Kirifas, nein, von ganz Aifa, verloren langsam ihr Verständnis für die lange Trauerzeit des Kaisers. Sie wollten ihren Herrscher zurück, tatkräftig, entschlossen, weise und gerecht – nicht alles war er zu jeder Zeit gewesen, aber im Rückblick schien selbst eine falsche Entscheidung besser als gar keine, besser als ein Mann, der stundenlang umherwanderte, ohne mit jemandem zu sprechen außer mit Rahmon, seinem Ratgeber.

»Was ist?«, fragte Kanuna. »Du kannst offen sprechen.«

»Ihr solltet wieder heiraten.«

Jetzt war es heraus. Lange, lange hatte er sich mit diesem Satz getragen und sich vorgestellt, ihn auszusprechen würde wie eine Geburt sein, qualvoll und mühsam. Er hatte es gesagt und fühlte sich unendlich erleichtert. Wenigstens konnte er nun den Fürsten gegenübertreten und wahrheitsgemäß behaupten, dass sie darüber gesprochen hatten.

»Warum?«, fragte Kanuna. »Vinja ist tot und es gibt nie wieder eine wie sie.«

»Das ist wahr, Herr. Aber – nun, Ihr habt gesagt, ich könne offen reden. Zwei Dinge. Zum einen glauben die Fürsten, es würde Euch gut tun. Alle glauben es, vor allem die Leute aus dem Volk. Ihr könnt die Meinung des Volkes nicht einfach abtun. Und auch ich denke so.« Er wünschte sich, er hätte das Gesicht des Kaisers sehen können, während er sprach. Aber er hatte sich diesen Abend ausgesucht, in der Hoffnung, dass es ihnen beiden in der schützenden Dunkelheit der warmen Nacht leichter fallen würde, über dieses heikle Thema zu reden.

»Und das Zweite?«, wollte Kanuna wissen, ohne zu verraten, was er von Rahmons erstem Argument hielt.

»Ihr braucht einen Erben. Die Fürsten hoffen, dass eine zweite Frau Euch einen Erben schenken würde.«

»Ich habe bereits einen Erben«, knurrte er.

»Herr, mit Verlaub, aber Eure beiden Söhne sind ...« Er suchte nach Worten, denn auf einmal schienen die Bezeichnungen für die Zwillinge, die ihm auf der Zunge lagen, zu hart, um sie dem Vater gegenüber zu äußern. Rumtreiber, Tunichtgute? »... nicht gerade zuverlässig und verantwortungsbewusst. Und vor allem, sie sind nicht da. Niemand weiß, wo sie sich überhaupt aufhalten. Es gäbe so viel für sie zu lernen! Ich muss Euch sagen, keiner der Fürsten rechnet noch damit, dass einer der beiden fähig ist, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Einfach zu verschwinden! Und die Erinnerung an die Zeit, als sie noch hier waren, ist für keinen von uns besonders angenehm. Ach, Herr! Ihr könntet noch ein Kind bekommen, das von Anfang an sorgfältig erzogen wird, das alles lernt, was es über Deret-Aif zu wissen gibt. Ein Sohn, der Euer würdevoller Nachfolger sein könnte. Oder eine Tochter, klug und gütig. Meint Ihr nicht?«

»Es geht nicht«, sagte Kanuna langsam. »Es kann keinen anderen Erben geben.«

»Wie, es kann nicht? Ich weiß, das Recht des ältesten Sohnes ist ein sehr altes Recht, aber in einem Fall wie diesem ... Rin sei Dank seid Ihr noch jung und stark und gesund. Ihr könnt das Gesetz ändern, nach dem der älteste Sohn die Krone erbt. Ihr könntet noch zu Lebzeiten festlegen, wer Euch auf den Thron folgen darf. Ihr könnt die Zwillinge enterben, weil sie sich unwürdig betragen haben. Niemand würde Euch das übelnehmen oder sich auch nur darüber wundern. Im Gegenteil, es schafft Verwirrung und Unverständnis, dass Ihr das nicht schon längst getan habt.«

»Es kann keinen anderen Erben geben«, wiederholte Kanuna. »Ich habe ihn bereits gesegnet.«

»Was?«, entfuhr es Rahmon. »Wieso? Oh bei Rin, wieso das? Ihr habt ihm Euren Segen gegeben?«

Kanuna antwortete nicht. Er nickte in die Dunkelheit.

»Wem von ihnen? Doch nicht Zukata, oder? Hat Keta Euch vielleicht überredet, ihn zu bevorzugen? Aber sagt nicht, dass Ihr Zukata gesegnet habt!«

»Doch«, sagte Kanuna. »Er ist mein ältester Sohn und ich habe ihm den Segen gegeben.«

»Richtig? Ich meine, mit allem, was dazugehört?«

»Er brachte mir eine Schale Meerwasser und ich habe sie über sein Haupt gegossen und meine Hände auf sein Haar gelegt und die Worte gesprochen – so wie mein Vater es damals mit mir gemacht hat.«

Rahmon war noch immer fassungslos. »Warum um alles in der Welt habt Ihr das getan? Warum so früh? Ihr seid noch so jung!«

»So jung bin ich auch nicht mehr«, lächelte Kanuna.

»Für einen Menschen vielleicht ... Aber Ihr seid ein Riese, Herr. Ihr werdet nicht nur mich, sondern auch meine Kinder überleben. Ihr hättet warten können! Jetzt verstehe ich endlich, warum Ihr so wenig Kraft habt.«

»Ich habe wenig Kraft?« In Kanunas Stimme lag nicht nur Verwunderung, sondern der erste Anflug von Ärger. Ein Wutausbruch seines Kaisers schien Rahmon ein geringer Preis dafür, die Lebensgeister seines Herrn wieder zu wecken.

»Ich habe mich immer gefragt, warum Ihr es nicht vermögt, Euch selbst zu heilen. Herr, es ist achtzehn Jahre her, dass Eure Gemahlin den Unfall hatte. Auch Menschen trauern, wisst Ihr. Auch ich habe meine Frau bereits verloren. Aber wir kommen wieder auf die Beine, wenn wir genug geweint haben. Es kann ein Jahr dauern, zwei, vielleicht auch fünf. Manchmal geschieht es, dass Menschen sich aufgeben und unheilbar erkranken, nur durch die Macht ihrer Tränen, aber Ihr mit Eurer Fähigkeit zu heilen ...«

»Du solltest langsam wissen, dass es so nicht geht. Meine heilenden Hände haben mir selbst noch nie geholfen. Und sie konnten auch nicht Vinja helfen, als sie sterbend in meinen Armen lag. Ich war machtlos, Rahmon. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich erfahren, dass ich nichts ausrichten konnte, nichts. Es nützte mir nichts, ein Riese zu sein, all meine Macht über die Menschen und meine Gabe zu heilen war wie nutzloses Wasser in meinen Händen ... Als Zukata zu mir kam und mich um den Segen bat, wie konnte ich Vinjas Sohn verweigern, was ich Vinja nicht hatte geben können?«

»Er hat also darum gebeten?« Rahmon war überrascht. »Ich hätte nicht gedacht, dass er Wert auf so etwas wie den Segen gelegt hat. Trotzdem, Herr, das hättet Ihr nicht tun dürfen. Selbst wenn Ihr geglaubt habt, Ihr würdet ihr nachsterben.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich glaubte, sterben zu müssen.«

»Aber das muss es wohl gewesen sein. Ausgerechnet Zukata! Er ist Euer Sohn und Ihr liebt ihn natürlich, aber das hätte Euch niemals so blind machen dürfen!«

»Rahmon.« Kanunas Stimme klang gereizt. »Es reicht.«

»Ich lasse Euch jetzt allein«, sagte Rahmon. »Mir reicht es ebenfalls. Ich bin nur ein schwacher Mensch und brauche meinen Schlaf. Aber eines sage ich Euch, mein Kaiser, als Euer Ratgeber und Freund: Ihr solltet dennoch heiraten. Euer Herz ist groß genug, um Vinja für immer einen Platz darin zu geben und Euch noch einmal zu verlieben. Und so wertvoll Euer Segen auch sein mag, Zukata ist fort und kommt vielleicht niemals zurück. Vielleicht ist er längst tot, was bei dem Leben, das ich ihm zutraue, nicht einmal so unwahrscheinlich ist. Dann könnt Ihr den Segen mit gutem Gewissen noch einmal vergeben. Ihr braucht eine neue Frau und einen neuen Sohn, bevor Ihr mit Eurer ersten Familie auch das Vertrauen der Fürsten und des Volkes verliert.«

Mit schnellen Schritten marschierte er über den mit grobem Sand bestreuten Weg zurück zum Schloss. Kanuna war nicht gewalttätig, aber es war eines, sich darauf zu verlassen, und etwas völlig anderes, einen Riesen herauszufordern, der zwei Kopf größer war als man selbst und doppelt so breit.

Kanuna blieb lange stehen und hörte das Blut in seinen Adern rauschen, wie eine Erinnerung an das wütende Meer, über das seine Vorfahren gekommen waren. Er tastete nach der Kastanie, nach ihrer glatten Rinde, er spürte die unerschütterliche Kraft des Baumes. Hier hatte das Mädchen gestanden, hier hatte auch Vinja oft Halt gemacht, wenn sie gemeinsam durch den Park spaziert waren. Sie hatte den Baum umarmt und gelacht.

Was tust du da?

Ich küsse die Riesen. Sie lachte. Ich liebe es, alle Riesen in meiner Umgebung zu küssen ... So hatte sie auch die Zwillinge geherzt und umarmt und geküsst und mit ihnen gelacht. Vollkommenes Glück ...

El Schattik – damals nannte ihn noch niemand Kanuna, den Löwen – war erst dreißig Jahre alt gewesen, als sein Vater, Kaiser Rhan, beschlossen hatte, ihn zu verheiraten. »Du wirst jung sein, wenn du an die Macht kommst«, sagte er zu ihm. Keinem Kaiser wurden mehr als fünfzig Jahre Herrschaft zugestanden, denn niemand sollte Reilavin, den ersten Riesenkaiser von Aifa, jemals übertrumpfen, und Rhans fünf Jahrzehnte waren bald voll. »Ich möchte, dass du dann schon eine Frau an deiner Seite hast.« Um die Einheit der Königreiche Aifa und Diret zu bestärken, hatte er Vinja, die älteste Tochter des Königs von Diret, ausgesucht.

El Schattik wollte noch nicht heiraten, aber er gehorchte. Es wäre ihm lieb gewesen, wenn man sie zu ihm gebracht hätte und er nichts hätte tun müssen, aber es war üblich, die Braut in ihrem Elternhaus aufzusuchen, und selbst wenn an der Verbindung nicht mehr zu rütteln war, musste sie persönlich gefragt werden. Rhan schickte ihn nach Diret, und so kam er an den Hof des Königs und sah Vinja. Sie war neunzehn und das schien ihm sehr jung. Damit er ihr die Frage stellen konnte, ließ man sie beide allein, und er fühlte sich unbehaglicher als je zuvor in seinem Leben.

»Ich soll Euch fragen, ob Ihr mich heiraten wollt.«

Im Rückblick kam er sich selbst unglaublich jung vor. Später erst ließ er sich den Bart wachsen und später erst nahm er die eindrucksvolle Haltung an, die einem Kaiser und einem Mann seiner Größe angemessen war. In jenem Jahr war er nur jung und weizenblond, und er versteckte seine großen Hände hinter seinem Rücken. Er war nie schüchtern gewesen, aber selten war ihm etwas peinlicher vorgekommen, als mit diesem fremden Mädchen über das Heiraten zu reden.

»Na los«, sagte Vinja, »dann fragt.« Sie strich sich die braunen Locken aus der Stirn und sah ihn auffordernd an. Herausfordernd. Er sah, dass ihre Augen zweifarbig waren, grün und hellbraun, und auf einmal war sie kein Name mehr, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit einer tiefen, fast rauen Stimme. Man hatte sie in ein mit Spitze und Samt verziertes grünes Kleid gesteckt und mit Perlen und Goldketten behängt, aber sie wippte mit dem Fuß, als hätte sie es eilig, endlich wieder nach draußen zu kommen, wo sie hingehörte. Er horchte auf seine Gefühle und wusste selbst nicht, was er denken und fühlen sollte. Sie kam ihm jetzt schon unverschämter vor als jede andere Prinzessin und jedes Edelfräulein, denen er je begegnet war, und er wunderte sich, dass sein Vater ausgerechnet dieses freche Ding als zukünftige Kaiserin des Reiches ausgesucht hatte.

»Wollt Ihr mich heiraten?«

»Ich muss ja«, seufzte sie und verzog den Mund. Er hatte viele wunderhübsche Frauen getroffen oder solche, die ihre mangelnde Schönheit kunstvoll mit Kleidung und Schminke aufzubereiten wussten. Bei Vinja hätte er nicht sagen können, ob sie hübsch war. Er wusste nur, dass unter all dem Schmuck, dem Gold und den Edelsteinen und den gedrehten Locken ein Mädchen steckte, das diese Dinge trug wie eine Verkleidung. Er war Schmeicheleien gewöhnt und hatte erwartet, dass sich die auserwählte Braut ihm voller Dankbarkeit und Ehrerbietung zu Füßen warf, und dass sie das nicht tat, erstaunte ihn. Als Riese war er es gewohnt, dass die Mädchen beeindruckt zu ihm aufblickten, aber Vinja musterte ihn kritisch. Er begann sich zu fragen, was er tun musste, um sie zu beeindrucken.

»Wollt Ihr denn nicht selbst?«, fragte er.

Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht«, meinte sie schließlich und ließ ihren Blick über ihn wandern, als wäre er ein Pferd auf dem Markt, das ihr zu teuer war. »Ich kenne Euch doch nicht. Ihr seid sehr groß, aber das war bei einem Riesen ja auch zu erwarten. Ihr werdet Kaiser sein – das ist natürlich ein großer Vorteil. Aber ob ich Wert darauf lege?«

Er konnte nicht umhin, sich über ihre Worte zu ärgern. Bei Rin, wie sollte er es mit diesem frechen Weib aushalten? Er wollte sich nicht zum Narren machen lassen.

»Mich hat man auch nicht gefragt«, gab er zurück. »Ich hätte mir sonst eine schöne, stille, sanfte Braut ausgesucht. Niemanden, der so vorlaut ist wie Ihr. Wahrscheinlich«, fügte er noch hinzu.

Sie war nicht verletzt, sie lachte. »Vielleicht wird es ja weniger schlimm als erwartet«, meinte sie.

Ihre Zeit war um; die Türen wurden aufgestoßen, um das verlobte Paar zu beglückwünschen, und sie schüttelten Hände und sahen sich nicht mehr an. Erst als er hinausbegleitet wurde, warf er noch einen langen Blick zurück, wie sie da stand in ihrem grünen Kleid mit den Schleifen und Bändern, der Spitze und den Perlen. Sie zwinkerte ihm zu, eine Geste, die nur ihnen beiden gehörte, und sein Herz machte einen Sprung.

Er reiste ab, um alles für die Hochzeit vorzubereiten, und einige Wochen später kam sie nach und wurde seine Frau.

Zukata war zu ihm gekommen, in den ersten Tagen, als die Trauer noch so frisch war wie eine offene Wunde. Im Zimmer war es dunkel. Er zog die schweren Samtvorhänge zu, um das Licht auszusperren und den Park dort draußen, die Bäume, die Vinja geliebt hatte, und die Rosen, den Himmel und die Wolken. Es sind Schiffe, hatte sie gerne gesagt. Kannst du es sehen? Sie segeln über das blaue Himmelsmeer und der Wind bläst sie nach Rinland. Das ist eine Gewitterfront aus dem Westen, sagte er. Denk doch einmal nach, bevor du sprichst.

Nun gut. Sie war nicht beleidigt. Dann kommen sie eben aus Rinland. Eine ganze Flotte, grau und schwer, und bringen uns seinen Segen.

Er hatte ihr nicht mehr widersprochen. Es war meistens zwecklos, Vinja zu widersprechen.

Zukatas Stimme war nur ein Flüstern im Dunkel. »Vater? Ich bin es, Zukata. Ich will, dass du mich segnest.«

Er antwortete nicht. Schweigen hatte sich über ihn gesenkt wie ein Vorhang aus Samt. Wortlos saß er in seinem Sessel, stundenlang, und wartete darauf, dass der Schmerz verging.

»Ich habe hier eine Schale mit Meerwasser. Ich habe an alles gedacht. Gib mir deinen Segen.«

Ein einziges Wort quälte sich durch die Schichten seines Schweigens. »Warum?«

»Die Gabe wird dann auch in meinen Händen sein, Vater. Ich will die heilenden Hände. Wir hätten Mutter retten können, wenn du mir den Segen früher gegeben hättest. Wir beide zusammen hätten es vermocht.«

»Nein«, sagte er, »sie war zu schwer verletzt. Ihr Fuß war im Steigbügel hängen geblieben ...« Er konnte nicht weiterreden. Zukata legte seine Hände um die Schale.

»Vielleicht doch. Vielleicht doch, Vater. In mir ist so eine Dunkelheit, Vater, als müsste ich immerzu weinen ... Leg mir die Hände auf, bitte.«

Er hatte keine Kraft gehabt, sich zu weigern. Dort im Dunkeln legte er seinem Sohn die Hände auf das vom Meerwasser befeuchtete Haar und segnete ihn im Namen Rins und seiner Tränen, und während er sprach, fielen seine eigenen salzigen Tränen in das blonde Haar seines Kindes und mischten sich mit dem Wasser, und er fühlte sich zugleich schwach und mächtig, heilend und untröstlich, voller Liebe und unfähig, das Leben weiterzuleben, ohne Vinja. Es tat gut, die Worte zu sprechen, die, während sie aus seinem Mund kamen, nicht seine eigenen Worte waren, sondern die seines Vaters und seiner Großvaters und all der anderen Riesenkönige vor ihnen, und sie füllten den finsteren Raum mit Wärme und Zuversicht. Es war, als wäre Rin selbst bei ihnen in diesem Augenblick, seine göttliche Gegenwart, die sie erfüllte und Vater und Sohn umgab und in seinen Händen lebte – in seinen und nun auch in Zukatas Händen.

»Das hatte ich nicht erwartet«, flüsterte der Junge und sprang auf und stürzte hinaus.

Kanuna saß noch eine Weile da und atmete, dann stand er auf und zog die Vorhänge zurück.

»Ich bin einverstanden«, sagte er zu Rahmon. Er erwartete nicht, dass es für ihn noch einmal Glück geben könnte, aber niemals, nicht einmal in seinen schlimmsten Stunden, hatte er je vergessen, dass er die Verantwortung für das Kaiserreich trug. »Wenn sich alle besser fühlen, wenn ich eine Frau habe, dann soll es eben so sein.« Schon einmal war er überrascht worden, als er sich den Wünschen anderer fügte, und auch wenn es keine zweite Vinja gab, würden wenigstens die vorwurfsvollen Blicke seiner Ratgeber und Edelleute aufhören. Und die mitleidigen. Er konnte es nicht ertragen, wenn Rahmon so mitleidig und verständnisvoll war und sich mehr Gedanken um sein Glück machte als er selbst.

Und sie hatten recht – er brauchte einen Erben. Rahmon hatte ihm nicht unter die Nase gerieben, was für ein Gerücht die Runde machte – dass Zukata wieder in Deret-Aif war, als Anführer einer Räuberbande. Es war nicht das erste Mal, dass er dergleichen zu hören bekam. Auch damals, vor sechzehn Jahren, als er verschwunden war, hatten den Kaiser ähnliche Geschichten erreicht, von einem riesenhaften blonden Mann, der die Küstenländer unsicher machte. Jahrelang war es ruhig um ihn gewesen, doch falls er tatsächlich zurück kam, hatten es die Fürsten umso eiliger, einen anderen Erben im Schloss zu wissen, einen Prinzen, dem sie vertrauensvoll dienen konnten. Auch wenn Zukata den Segen hatte, konnte ein Kaiser keinen Piraten und Räuber zu seinem Erben ausrufen. Von Keta erreichten ihn ebenfalls hin und wieder seltsame Gerüchte – er sei beim Ziehenden Volk, den Zintas, gesehen worden, in den Wäldern und auf Jahrmärkten ... Keta war leider kein Ersatz für Zukata, auch wenn er selbst das lange gehofft hatte, denn Keta war seinem Herzen näher als sein Ältester; seine Auflehnung war nie so laut und gewalttätig gewesen, sondern als der Stillere der beiden hatte er ohne viel Aufhebens das getan, was er wollte. Es war merkwürdig, dachte er manchmal, dass die Zwillinge gerade das von Vinja geerbt hatten: die Unfähigkeit, sich ihrem Rang entsprechend zu benehmen, diesen Freiheitsdrang, der alle Konventionen sprengte – und von ihm die Stärke, nicht nur von dieser Freiheit zu träumen, sondern sie tatsächlich gegen alle Widerstände zu erkämpfen und auszuleben.

Rahmon nickte. Falls er überrascht war, zeigte er es nicht. »Ja, Herr. Das ist sehr gut. Falls ich Euch beraten darf, wen ich empfehlen würde ...«

Er musste unwillkürlich lächeln. »Nun sag schon. An wen hast du gedacht?« Er zweifelte nicht daran, dass Rahmon und die Fürsten schon Pläne geschmiedet hatten für den Fall, dass er zustimmte.

»Die Prinzessin von Helt«, sagte Rahmon. »Sie heißt Kirja. Sie ist ... Ich bin sicher, sie wird Euch gefallen.«

Gegen seinen Willen wurde er neugierig auf dieses Mädchen, das seine Frau werden sollte. Wie bei seiner ersten Eheschließung fühlte er sich hilflos, verlegen und peinlich berührt, nicht mehr wie der große Riesenkönig von Aifa, der Kaiser von ganz Deret-Aif, sondern wie ein junger Mann, der nicht weiß, was das Leben ihm bringen wird.

In gewisser Hinsicht war alles anders als beim ersten Mal. Er war über sechzig Jahre alt und begegnete dem König von Helt als selbstbewusster Souverän. Er kannte ihn gut, wenn er auch noch nie seine Töchter gesehen hatte, und ohne Eile sprachen sie miteinander über die Belange des Kaiserreichs, bis der König schließlich lächelte und sagte: »Kirja wartet sehr darauf, Euch zu sehen, Kaiser Kanuna. Vielleicht ...?«

»Ja«, sagte er, aber in sein Gesicht kam kein Lächeln, alle seine Gesichtsmuskeln verkrampften sich. Er war so aufgeregt, dass er seiner Stimme kaum traute. »Ja, natürlich.«

Der König öffnete eine Tür und dort sah er sie. Kirja, Prinzessin von Helt. Er wusste, dass sie zwanzig Jahre alt war, aber nie war ihm das so jung vorgekommen. Sie war klein und sehr schlank; ihr herzförmiges Gesicht wurde von dunkelbraunem Haar umrahmt. Sie trug sogar ein grünes Kleid. Sie haben sie ausgesucht, um mir eine Freude zu machen, dachte er, denn sie ähnelt tatsächlich Vinja. Ich wette, Rahmon hat sich jede Prinzessin von ganz Deret-Aif angesehen und diejenige gewählt, die ihr am meisten gleicht.

Er fragte: »Nun, was haltet Ihr davon, dass Ihr mich heiraten sollt?«

»Ich tue alles, was Eure Majestät befiehlt«, sagte das dunkelhaarige Kind. Sie war gut erzogen. In ihren Augen war nichts, kein Entsetzen darüber, dass sie mit einem Mann verheiratet werden sollte, der ihr uralt vorkommen musste, nur ein leichtes Zittern in ihrer Stimme. Sie würde gehorchen, wie sie es gesagt hatte. Er zweifelte nicht daran, dass sie alles tun würde, was er sagte. Man hatte sie auf eine Verbindung ohne Liebe und Zuneigung vorbereitet, und falls sie innerlich weinte, zeigte sie es nicht.

»Und was willst du, Kirja?«, fragte er. »Was erwartest du vom Leben?«

Er war Kaiser, er konnte alles fragen, was er wollte. Aber sie hatte nicht gelernt, auf so eine Frage zu antworten. Er spürte ihren Blick auf sich, auf seinem Gesicht mit den groben Zügen eines Riesen, auf seinem blonden Bart und seinem Haar, hell wie reifer Weizen, ohne eine einzige graue Strähne.

»Gefalle ich Euch nicht, Majestät?«

»Du bist jung und schön, wem würdest du nicht gefallen«, sagte Kanuna zu dem makellosen Gesicht, und er dachte an Vinja, an ihr dunkles Haar, das sich beständig verirrte und sich an ihren Schläfen ringelte, an die kleine Narbe unter ihrem grünen Auge und an ihr herausforderndes Lachen, ihre Schroffheit, ihre Aufrichtigkeit, ihren abenteuerlustigen Mut ... Dieses Mädchen war zu jung, um überhaupt ein Gesicht zu haben.

Er konnte es nicht mehr ertragen. Wie hatten sie nur glauben können, er würde sich mit diesem armseligen Ersatz für Vinja zufrieden geben? Mit einer Puppe statt einer lebendigen Frau? Es war zwecklos. Wut über seinen peinlichen Besuch stieg in ihm auf, über sich selbst, über Rahmon, der ihn dazu überredet hatte. Sie wird Euch gefallen! Von wegen!

Das arme Mädchen stand ein wenig verwundert da und wartete.

»Du hast nichts falsch gemacht«, brachte er noch heraus, »es war mein Fehler, herzukommen.«

Er drehte sich abrupt um und verließ das Zimmer. Seine eigene Unhöflichkeit ärgerte ihn, diese Situation, aus der er möglichst elegant wieder herauskommen musste, ohne den König tödlich zu beleidigen. Dass er das Bild zerstörte, das alle sich von ihm machten, dieses Bild des stets weisen, gerechten und majestätischen Mannes, ärgerte ihn umso mehr. Er wollte nur fort. Auch ein Kaiser konnte nicht immer stark sein.

Der König von Helt kam ihm in der großen Halle erwartungsvoll entgegen, doch Kanunas Blick wurde abgelenkt. Eine Frau schritt gerade die Treppe hinunter, die in den festlichen Saal führte; er drehte sich zu ihr um und sah sie lächeln.

Der Kaiser vergaß den König von Helt, der bereits die Hand ausstreckte, um ihn als zukünftigen Schwiegersohn zu begrüßen. Die Frau auf der letzten Treppenstufe lächelte, ein ruhiges, sanftes Lächeln, das nichts mit ihm zu tun hatte. Sie lächelte ihn nicht an. Es kam aus ihrem Inneren, aus ihrer Mitte, ein Lächeln aus Frieden, nicht aus Freude. Sie war fast so groß wie er, ein Abbild der alten Riesen. Alles an ihr kam ihm warm vor. Der Goldton ihres Haares, der matte Schimmer ihrer hellen Haut, ihre grauen Augen. Wie er musste sie im zweiten Lebensdrittel der Riesen stehen, in dem Alter zwischen vierzig und achtzig Jahren, in dem die Schönheit reift und die Weiblichkeit sich vertieft, in dem ein neues und schlimmeres Kämpfen beginnt als das Ringen der Jugend, und er sehnte sich nach ihrem Verstehen. Sie stieg die letzte Stufe hinunter und knickste, wie es sich gehörte, aber weniger tief als üblich, und er dachte: der Widerspruchsgeist der Laringer.

»Wie heißt Ihr?«, fragte er.

Hinter ihm ließ der König von Helt resigniert seine Hand wieder sinken und verzog kopfschüttelnd den Mund. »Das ist Gräfin Fanes von Sirna, meine Cousine«, sagte er säuerlich, denn er ahnte schon, was nun kommen würde. Durch die offene Tür hatte er bereits gesehen, wie seine Tochter weinend davongerannt war.

»Ich bin Kanuna El Schattik«, stellte er sich vor.

Diesmal galt ihr Lächeln wirklich ihm. »Ich weiß.« Ihre Stimme war tief und warm. Auch Vinja hatte eine tiefe Stimme gehabt, überraschend tief. Zu Fanes passte sie.

»Seid Ihr verheiratet?«, fragte er. »Verlobt? Oder sonstwie gebunden?«

»Nein, Majestät.« Kein Zittern war in ihrer Stimme. Sie schien seine Frage weder ungehörig noch anmaßend zu finden. »Frauen mit Riesenblut in den Adern finden nicht so schnell einen Mann.« Fest und sicher stand sie vor ihm und ließ seine Augen von ihrer warmen Schönheit trinken.

»Dann solltet Ihr einen Riesen heiraten.«

Sie lachte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Aber es gibt nicht mehr viele von uns.«

»Ich bin noch frei.«

»Habt Ihr Euch nicht soeben mit Prinzessin Kirja verlobt?«

Es gelang ihm eben doch, immer wieder die richtige Entscheidung zu treffen. Er hätte nichts Besseres tun können, als herzukommen und sich nicht mit Kirja zu verloben. Weise, gerecht und majestätisch.

Kanuna grinste und selbst auf seinem Riesengesicht wirkte dieses Grinsen sehr jungenhaft. »Habe ich nicht.«

Der König von Helt seufzte laut und vernehmlich, aber die beiden beachteten ihn gar nicht.

»Dann seid Ihr wohl tatsächlich frei«, gab Gräfin Fanes zu.

»Das heißt, es stünde nichts dagegen, wenn ich die Absicht hätte, mich mit Euch zu verloben.«

»Und«, fragte sie, »habt Ihr die Absicht, Majestät?«

»Ich brauche nur Euer Ja.«

»Wenn Ihr eine Frage stellen würdet, könnte ich darauf antworten.«

Sie war das genaue Gegenteil von Vinja und doch war die Ähnlichkeit verblüffend. Hier war das, was er gesucht hatte: eine Frau, die keine Angst vor ihm hatte.

»Wollt Ihr mich heiraten?«, fragte er. »Wollt Ihr mit mir nach Kirifas kommen und meine Kaiserin werden?«

Er hatte die Hand ausgestreckt, ohne es zu merken. Erst als sie ihre hineinlegte, wurde er sich dessen gewahr.

»Ja«, antwortete sie. »Nichts lieber als das, Majestät.«

Kanuna drehte sich zum König um, der mit den Augen rollte und hastig die Lider niederschlug. »Ich habe meine Braut gewählt.«

Der König nickte. »Das habe ich gerade gesehen. Nun denn. Ich hätte Euch gerne meine Tochter mitgegeben, aber wenn Ihr Euch mit meiner Cousine zu vermählen wünscht – bitte sehr. Ihr seid der Kaiser. Wann soll ich Eure Braut nach Kirifas bringen?«

»Ich nehme sie sofort mit«, sagte Kanuna. Er hatte nicht die Absicht, sie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. »Die Vorbereitungen für die Hochzeit werden bereits getroffen. Wer an den Feierlichkeiten teilnehmen möchte, muss uns jetzt begleiten.«

Der König rang die Hände. »Das ist – knapp.«

»Ich habe keine Zeit zu verlieren«, verkündete Kanuna.

Er ließ Fanes’ Hand nicht los, ihre warme, trockene Hand.

»Wo warst du?«, fragte er leise. »Warum habe ich nicht gewusst, dass es dich gibt?«

Rahmon tobte. Er legte die Stirn in Falten, in seiner Stimme zitterte der Zorn. Er sprach so leise, dass er kaum zu verstehen war, aber Kanuna kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dies der Ausdruck seiner äußersten Wut war.

»Was um alles in der Welt hat Euch geritten, eine so alte Frau mitzubringen?«

»Fanes ist nicht alt.«

»Nein? Wie alt ist sie denn? Vierzig? Fünfzig? Ich gebe ja zu, bei Euch Riesen lässt sich das Alter schwer schätzen. Ihr braucht einen Erben! Wie konntet Ihr das vergessen, Majestät? Einen Erben!«

»Sie kann mir noch einen Erben schenken«, sagte er. Eine Stunde vor seiner Hochzeit wollte er sich nicht mit seinem besten Freund streiten. Wenn Rahmon nur sein Ratgeber gewesen wäre, hätte er für diese frechen Worte längst seine Faust zu spüren bekommen.

»Dann müsst Ihr Euch aber wirklich beeilen damit. Was meint Ihr, warum ich Euch ein so junges Mädchen wie Kirja ausgesucht habe? Mit ihr hättet Ihr noch viele Kinder haben können und wenn vielleicht wieder ein paar darunter sind, die ...«

»Die danebengeraten, wolltest du das sagen?«

»Nicht mit diesen Worten, nein.«

»Riesen neigen dazu, danebenzugeraten. Das weiß ich genauso gut wie du. Aber ich werde diese Frau heiraten. Gleich jetzt.« Er beugte sich vor, so dass er auf derselben Augenhöhe mit Rahmon war, wie man sich zu einem Kind herabbeugt, dem man seine Aufmerksamkeit schenkt. »Was ist los, Rahmon? Hast du wieder etwas gehört – von meinen Söhnen?«

»Einer von ihnen wurde definitiv wieder gesehen. Er hat einen Trupp Soldaten des Königs von Laring aufgemischt.«

»Sind sie tot?«

»Ich glaube nicht.«

Kanuna schüttelte den Kopf. »Dann solltest du mich am Tag meiner Hochzeit nicht damit behelligen. War es Zukata?«

»Ich weiß es nicht. Er wurde auch gesehen, als er in einem Hafen in Tors ein Schiff gekapert hat.« Rahmon beeilte sich hinzuzufügen: »Herr, niemand kann uns mit Sicherheit berichten, welcher Eurer Söhne für diese Dinge verantwortlich ist. Vielleicht war es auch Keta. Vielleicht waren sie es beide. Ihr braucht einen Erben.«

»Ich weiß«, sagte Kanuna leise. »Glaub mir, ich weiß.«

Aber als er Fanes gegenübertrat, dieser großen, hellen Frau mit dem Lächeln, dachte er nicht mehr an das Kind, das er unbedingt haben musste. Weich und warm legte sich die neue Liebe über die Schluchten, die Vinjas Tod in ihn getrieben hatte.

Die weiße Möwe

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